Stille ist unsere Natur. Sie liegt unter dem Chaos unserer Gefühle und Gedanken, unter all dem inneren und äußeren Lärm. Verschiedene spirituelle Wege bieten unterschiedliche Zugänge in diesen inneren Raum an: viele Formen der Meditation, Kontemplation, körperliche und geistige Übungen. Der spirituelle Lehrer Christian Meyer stellt einen einfachen Weg vor, in diese ganz ­andere Art des Seins einzutreten, die man Aufwachen oder Erleuchtung nennt. Stille und der spirituelle Weg.

 

Menschen haben eine Sehnsucht nach der Stille. Sie verbinden damit Ruhe, einen tiefen Frieden, im Einklang sein mit sich selber, mit den anderen Menschen, ein Verbundensein mit der ganzen Welt – vielleicht sogar ­darüber hinaus. Diese Stille ist eine ­lebendige Stille.

Je lauter die Welt wird, je schneller, je getriebener, desto größer wird auch die Sehnsucht nach der Stille. Merkwürdigerweise wächst gleichzeitig die Angst vor der Stille. Eine Soziologin in New York befragte Jugendliche und junge Erwachsene, wann sie Stillsein und Alleine-Sein erlebten. Eine durchaus typische Antwort: „im Tunnel zwischen Manhattan und Brooklyn … Weil es da keinen Empfang gibt. Und das ist immer schrecklich.“

Die Angst vor der Stille wächst, je mehr der Mensch vor der Stille wegläuft. Das ist ein Teufelskreis. Wenn wir still werden, wenden wir uns nach innen. Dann kommen Gefühle und Themen hoch, die wir weggeschoben haben. Je weniger wir das gewohnt sind, desto mehr Angst macht dies. Vor allem erinnert die Stille an unsere Begrenztheit; an die Begrenztheit dieses Lebens, dieses Augenblicks. Das Ausweichen vor der Stille ist immer ein Weglaufen vor dem Tod.

Gleichzeitig gibt es viele Menschen, die die Stille suchen, weil sie in der Stille Freiheit, Lebendigkeit und Glück finden wollen. Das sind Menschen, die meditieren oder auf andere Weise auf einem spirituellen Weg sind. Da wird die äußere Stille bewusst gesucht wegen der Erfahrung, in der äußeren Stille leichter zur inneren Stille zu finden. Ganz normale Menschen gehen auf Schweige-Retreats und lernen und praktizieren Meditation. Was genau passiert da eigentlich?

 

Meditationsarten

Oft gibt es Meditationsanweisungen der Art, auf den Atem zu achten und immer wieder zum Atem zurückzukehren. Oder sich auf andere Körperempfindungen zu konzentrieren oder ein Mantra kontinuierlich zu wiederholen. Dadurch lernt der Mensch, sich auf eine bestimmte Wahrnehmung zu konzentrieren, und wird dadurch zweifellos ruhiger und stiller. Freilich besteht damit die Gefahr, dass er alles Bewegte, das Quälende wie das ­Lebendige, nur beiseite geschoben hat; es besteht die Gefahr, dass ihn dies un­lebendiger werden lässt und von seinen Gefühlen und seinem Erleben entfremdet. Dann wäre er zwar ruhiger, aber nicht glücklicher geworden.

Ein anderer Weg des Meditierens besteht darin, alles, was auftaucht, nur zu beobachten. Nichts auszuwählen, nichts beiseite zu schieben. Dies ist sicherlich ein großer Fortschritt gegenüber der ­Fokussierung und Konzentration auf ein Mantra oder eine Körperempfindung, allerdings gilt auch hier: Indem ich meine Gefühle und mein Erleben beobachte, bin ich außerhalb dessen, davon getrennt. Ich erlebe es nicht in dem Augenblick, sondern bin nur der Zuschauer. Auch das kann mich von meinem Inneren distanzieren oder dissoziieren. Mir scheint, dass diejenigen mehr vom Meditieren haben, die die Vorschriften nicht so ernst nehmen und sich stattdessen den Gefühlen, die auftauchen, einfach überlassen und sie fühlen.

 

Der Königsweg nach innen

Der Königsweg wäre also der, dass ich mich, um Stille und damit Frieden zu finden, nach innen wende und zuerst all das da sein lasse, was auftaucht – wäre es auch der größte Aufruhr oder die stärkste Unruhe. Und wenn ich nichts tue, setze ich mich genau dem vollständig aus; ich lasse mich davon erfassen, berühren. Ich mache keine Geschichte daraus. Ich versuche weder den Aufruhr wegzuschieben noch ihm zu entkommen oder wegzulaufen. Dann bin ich zwar noch nicht still, aber ich verhalte mich still, indem ich in Bezug auf das Gefühl und den Aufruhr und die Unruhe nichts tue. Ich gehe noch nicht einmal beiseite, um es zu beobachten, auch das wäre ein Tun. So kann dieses Gefühl sich austoben, auflösen, ausgefühlt werden. Darunter taucht ein weiter Raum auf, vielleicht auch ein anderes Gefühl, vielleicht ein tieferes. Auch diesem Gefühl überlasse ich mich in derselben Weise, indem ich mich in das Gefühl hineinsinken lasse. Indem ich so alle Gefühle ausfühle und verbrennen lasse – dieses Wort scheint passend zu sein, weil einem regelmäßig heiß dabei wird –, löst sich jedes Mal mehr der Körper, der Atem. Auch die Brust, die vorher vielleicht ­angespannt und fest war, der Bauch, der zuvor vielleicht so voller Druck und Anspannung war, dass in ihn hinein zu atmen fast unmöglich schien. Indem so die bedrängenden, bewegenden, manchmal auch bedrohlichen Gefühle da sein und verbrennen durften, wird der innere Raum immer freier und gelöster – und die tiefere Stille hat die Chance, wahrgenommen zu werden. Je mehr Gefühle zu Ende gefühlt wurden, desto leichter und weiter wird dieser innere Raum.

 

Fallen in die Bodenlosigkeit

Das Fühlen ist verbunden mit einem Hineinsinken, einem Loslassen und so auch einem Tieferfallen. Wenn die Gefühle gefühlt wurden und der tiefere stille Raum beginnt, dann verändert sich das Tieferfallen, es wird ein Sinken in eine Leere hinein und in einen Abgrund. So wird die Stille tiefer und tiefer und ist unheimlich und immer wieder auch bedrohlich. Es ist eine Angst, die schwer zu fassen ist, eine Angst vor der Auflösung und einer Vernichtung in diesem unendlich weiten und unendlich tiefen Raum. Wenn auch diese Angst, die auftaucht, einfach gefühlt wird und dadurch verbrennen kann, kann das Fallen immer tiefer werden, durch eine Enge hindurch, die sich schließlich und plötzlich weitet und das Fallen zu einem Schweben und dann zu einem Fliegen werden lässt. So hat man die Chance, in diesem tieferen Raum anzukommen, der ganz grenzenlos ist, unendlich und zeitlos. Eine unendliche Gelassenheit, ein Frieden, eine Freude und etwas, das immer wieder Glückseligkeit genannt wird, tauchen auf. Am meisten beeindruckt jedoch die Stille – und auch der Verstand ist still geworden, plötzlich ist das ewige Plappern und der pausenlose Gedankenstrom zur Ruhe gekommen. Diese Erfahrung und dieser Weg ist weder eine bloße Vision und Hoffnung noch ein einmaliges Erleben. Dutzende meiner Schülerinnen und Schüler haben genau diese Erfahrung gemacht und dadurch in diese ganz andere Art des Seins gefunden, die man Aufwachen oder Erleuchtung nennt.

 

Nichts wollen, alles in Kauf nehmen

Diese Stille ist das Ziel jedes spirituellen Weges und jedes spirituellen Lebens. Paradoxerweise kann ich sie nur dann erfahren, wenn ich nicht versuche, zu ihr hin zu kommen, sondern stattdessen bereit bin, jede, auch die allerschlimmste Unruhe, in Kauf zu nehmen – so, wie sie auftaucht. Wenn ich mich also der inneren Wahrheit zuwende, nicht nur beobachtend, sondern fühlend, erlebend und erleidend. Wenn ich mich aber auf diese Weise  jedem, auch dem zunächst bedrohlichen, Gefühl öffne, verliert es schon einen Großteil seines Schreckens. Es ist dann ein Gefühl ohne jede Verkrampfung und ohne jeden Kampf und inneren Krieg. Ich lasse das Gefühl da sein, das auftauchen will, und indem ich still bin auch mit dem Schmerz, der Wut oder der Angst, bin ich schon im Frieden damit.

Dieser spirituelle Weg unterscheidet sich von der traditionellen Meditation und vielen traditionellen Übungen. Es gibt grundsätzlich zwei Arten von Übungen: Übungen, in denen es ein Subjekt gibt, das eine Handlung ausführt mit einem Objekt, um ein bestimmtes Resultat zu erreichen, also mit einer anfänglichen Erwartung. Eine Übung, in der ich etwas tue, um etwas zu bewirken. Oder die zweite Art von Übungen, in der ich mich darin übe loszulassen und zurückzutreten, mich also übe, nichts zu tun und gerade dadurch alles geschehen zu lassen. Es gibt eine Menge dieser Übungen, die eigentlich keine Übungen sind. Ein erfolgreicher spiritueller Weg braucht diese zweite Art der Übung – der natürlich in eigentlichen Sinne kein Weg ist, weil er nirgendwohin führt als in genau diesen Augenblick, der jetzt und hier erkennbar und erfahrbar wird durch das Stillwerden. Gerade dadurch kann man in diesen Zustand des vollständigen Loslassens und der vollständigen Hingabe finden, der das Einzige ist, was wirkliches Aufwachen ermöglicht.


Abb: © Andre B. – Fotolia.com

Über den Autor

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ist einer der bekanntesten spirituellen Lehrer im deutschsprachigen Raum. Seine eigene spirituelle Suche begann in der Jugend und endete, als er 1998 seinen letzten Lehrer Eli Jaxon-Bear traf und seine wahre Natur erkannte. Er ist erfolgreicher Autor, u.a. von „Ein Kurs in wahrem Loslassen – Durch das Tor des Fühlens zu innerer Freiheit“. Seine Arbeit stützt sich auf Jahrtausende alte Traditionen: das Advaita, das Yoga und die christliche Mystik von Meister Eckart und Johannes Tauler. Die von ihm entwickelten Prinzipien sind nicht nur ein eigenständiger spiritueller Weg, sondern können auch andere spirituelle Wege bereichern.

Mehr Infos

Neues Buch
Christian Meyer: „Erleuchtung kann jeder“, Gräfe und Unzer-Verlag
(erscheint Oktober 2023)

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3 Responses

  1. margitta

    ich kann die stille und der frieden, dieser niemals beschreibbare frieden, nur sein.
    ich kann versuchen über ihn zu schreiben, zu meditieren oder mich auf den kopf stellen, um zu versuchen, es erfahren zu wollen. wenn ich diesen frieden und die stille nicht bin, die sich in der sogenannten leere, dann weiterbewegt um die wahrnehmung, die sich nicht selbst sieht und beschreiben kann, sich nicht erleben und erfahren kann, was auch nur worte sind, kann ich jemanden anderen oder dem sogenannten anderen, der auch nur ich bin, versuchen es als geschmack zu vermitteln und worte können es niemals treffen.

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  2. Rumi

    Kenne einige Videos von ihm auf Youtube und habe keinen Zweifel daran dass er sein Ego transzendiert hat.
    Er ist nun ein Meister der zudem auch sehr symphatisch ist.
    Kann Herrn Meyer eigentlich nur empfehlen.

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  3. Lars B.

    Und wieder einmal ein spiritueller Lehrer, der andere Traditionen abwerten muss (auf seiner Homepage wertet er beispielsweise pauschal den Buddhismus ab), um seine eigene Lehre aufzuwerten.

    Wann kommen endlich die spirituellen Lehrer, die sich und ihre Schule vorstellen, ohne andere Lehren erniedrigen zu müssen? Und in der andere Ansichten gleichwertig existieren können, anstatt zu sagen „sehr her, ich habe den einzig richtigen Weg gefunden.“ Gähn…

    MfG, Lars

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