Sufismus 1. März 2007 Ganzheitliches Wissen Ein voll entfaltetes Leben in dieser Welt Es war eine Frau, die im achten Jahrhundert, also ungefähr zweihundert Jahre nach dem Propheten Mohammed, dem Sufitum eine Wende gab. Zwar lebte sie wie ihre Zeitgenossen ein sehr asketisches Leben (was wäre mit ihr als Frau damals geschehen, wenn sie das nicht getan hätte?), aber sie brachte den Sufis ein zentrales Bild, das essentiell für alle Generationen nach ihr sein würde – dass Geschöpf und Schöpfer Liebende und Geliebter sind. Mit dem Bild vom Liebenden und Geliebten, der selbstlosen Liebe, hat sie die herbe Lehre der frühen Asketen und damit den Sufimus in eine echte Mystik verwandelt. Dieses Bild wird ein Schwerpunkt der sufischen Erfahrung, Poesie, Ausrichtung und Sicht des Universums. Das Wesentliche auf Seiten des Schülers oder der Schülerin auf dem Sufipfad ist sich selbst zu erkennen und in der Gegenwart des Lehrers oder der Lehrerin zu sein. Auf Seiten des Lehrers gibt es eine Übertragung von Herz zu Herz, die das Herz des Schülers, der Schülerin transformiert. So erwacht die universelle Liebe. Im Mittelalter fielen die Blüte des Islams und die Blüte des Sufitums wirklich zusammen. Ein Zentrum war das Andalusien jener Zeit. Der Islam war vor allem auf der Ebene der Mystik eine große Inspiration für die westliche Welt. Es war die Zeit, in der es bei uns überproportional viele Mystikerinnen gab. Ein herausragender Gelehrter und Sufi jener Zeit war Ibn Arabi. Die Sufis hatten verfeinerte Theorien entwickelt, wie ein Mensch zu Gott, zur Wahrheit, zur letzten Wirklichkeit geführt werden kann, und sie hatten eine ausgearbeitete Psychologie, die den Adepten gut darauf vorbereitete. Was bisher nicht ausgesprochen, nur angedeutet war, sprach er aus. Alle nach ihm bezogen sich auf ihn. Und die Angriffe gegen ihn hörten nie auf. Denn die Orthodoxie und die Sufis gerieten immer wieder in scharfe Gegensätze. So ist die in allen Lexika zu lesende Aussage, der Sufismus sei die Mystik des Islam, natürlich immer nur die halbe Wahrheit. Denn es waren muslimische Religionsgelehrte, die die Sufis verfolgten, hinrichteten und einzuschränken versuchten. Aus einem einfachen Grund – ein verwirklichter Mensch ist frei. Er lässt sich von keiner machthabenden Obrigkeit in eine weltlich-einengende Ordnung zwingen. Das Sufitum ist eine Lebensweise, keine Religion Ibn Arabi bringt die ursprüngliche Botschaft des Propheten in einer höchst differenzierten Sprache wieder ins Bewusstsein – dass Geist und Materie nicht getrennt sind, dass sich das Göttliche in der Schöpfung ausdrückt, dass Fülle und Leere eins sind – und deshalb ein Mystiker kein asketisches, lebensfeindliches Leben führt, sondern in der Fülle und vollen Entfaltung des Lebens steht. Das betrifft vor allem natürlich das Weibliche, das ja in unserem Kulturraum mit der Materie gleichgesetzt und abgewertet wurde. Auch wenn sich viele Sufis nach Ibn Arabi auf ihn beziehen, vergaßen sie vielfach diesen Aspekt. Sie lebten selber in stark patriarchalen Strukturen, und die spiegeln sich natürlich auch nach der Einheitserfahrung im gelebten Ausdruck. Ken Wilber hat diesen Punkt in seiner neuen Arbeit über die integrale Spiritualität sehr deutlich herausgearbeitet. So gab es in den einzelnen Schulungswegen immer auch Frauen. Nur waren oft – wie überall auf der Welt – die Lebensbedingungen von Frauen nicht so, dass sie wirklich Zeit, Raum, Mut und Bildung hatten, um sich voll und ganz in eine Schulung zu begeben. Aber wenn eine Frau es wagte, war sie oft wirklich willkommen und genoss meist eine größere Freiheit als im exoterischen religiösen Umfeld. Es gab einen feinen Trick, wie man Frauen, die dem Pfad folgten, einordnete: „Wenn eine Frau auf dem Pfade Gottes ein ‚Mann‘ wird, dann ist sie ein Mann und niemand kann sie danach noch eine Frau nennen.“ Aber es gab natürlich auch inhaltlichere Betrachtungen: „Die rechte Erklärung für die Tatsache, dass Frauen unter den Heiligen ebenso zählen wie die Männer, ist die, dass – wo auch immer diese Menschen, die Sufis, sind, da haben sie in der Einheit mit Gott kein getrenntes Dasein. Was bleibt in der Formlosigkeit des Daseins das ‚Ich‘ oder ‚Du‘? Wie also könnte es weiterhin ‚Mann‘ und ‚Frau‘ geben?“ In der Zeit sein Wie überall nach einer Blüte kommt oft eine gewisse Stagnation und Verfestigung. Eine neuerliche Bewegung begann erst wieder zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, als westliche Wissenschaftler und die ersten Suchenden Kontakt zu Sufilehrern aufnahmen. Parallel dazu öffneten sich in allen Religionen die mystischen Pfade. Sie öffneten sich für die religionsungebundenen Menschen, die jetzt kamen, und sie öffneten ihre geheimen Bücher. So auch bei den Sufis. Die tiefen transkonfessionellen Wurzeln des Sufitums erwachten wieder. Es gibt heute Sufi-Linien im westlichen Europa und in Nordamerika, die sich völlig aus dem Islam gelöst haben. So eine Bewegung hat natürlich Auswirkungen auf das Althergebrachte, da findet Wandlung statt. Und genau diese Wandlung gehört in die Tradition der Sufis – denn „in der Zeit“ zu sein gehört zum lebendigen Sufitum. Dass heutzutage vermehrt Frauen geschult werden, verwandelt die Gemeinschaften enorm. Verknöcherte Strukturen brechen auf. Dazu gehört auch, dass es heute immer mehr Sufi-Lehrerinnen gibt. Nicht unkritisch gesehen von den Unbelehrbaren, gefördert aber von denen, denen die Bedürfnisse unserer Zeit und die Belange unserer Welt ein Anliegen sind. Foto oben: Eduard Aman Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar Antwort abbrechenDeine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.KommentarName* E-Mail* Meinen Namen, meine E-Mail-Adresse und meine Website in diesem Browser für die nächste Kommentierung speichern. Überschrift E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.Auch möglich: Abo ohne Kommentar. Durch Deinen Klick auf "SENDEN" bestätigst Du Dein Einverständnis mit unseren aktuellen Kommentarregeln.