Das moderne Tantra begann unter dem Banner von Love, Peace und Flowerpower und war anfangs vor allem der Wiederentdeckung des Körperlichen ­gewidmet. Doch  Voraussetzungen und Umstände haben sich geändert. Eine Positionsbestimmung von Matthias Grimm für postmoderne Zeiten.

 

Als die französische Psychologin Margot Anand in den 80er Jahren im Umfeld von Bhagwan Shree Rajneesh in Poona die SkyDancing-Tantra-Methode entwickelte, war die Welt in einem Zustand nachtraumatischen Aufbruchs im Rahmen der Machtverhältnisse des Kalten Krieges. Die neuen Katastrophen klopften bereits in Vietnam und anderen Krisenzonen an die Tür. „Die eigentliche Katastrophe ist, dass sie fortdauert.“(W. Benjamin).

Die Jugend der westlichen Welt rebellierte im Erkennen dieser bitteren historischen Einsicht gegen ihre Vätergeneration und deren erneute, fast nahtlose Einbettung in Pflicht, Gehorsam, rigide Regeln und puritanische Verklemmtheit. Die Schauplätze der Rebellion waren ideologisch und spirituell. Die einen kämpften mit roten Bibeln auf dem Pflasterstrand der Städte, andere begannen die innere und äußere Morgenlandfahrt mit der Ahnung, dass eine bloße Änderung materieller Strukturen wieder nur eine revolutionäre Illusion sein könnte – was ja die folgende Geschichte dann hinreichend zeigte. Diese Menschen hatten das Gefühl und die Sehnsucht, dass sie sich in ihrer inneren Struktur erkennen und klären lassen könnten.

 

Motor menschlicher Existenz

Von der aufkeimenden Vielzahl spiritueller Entwicklungslinien stellte sich das tantrische Konzept als eines dar, das wirklich alle Bereiche des Lebens – im Licht wie im Schatten – erfassen konnte. Dass Sexualität in der damaligen ­Rebellion einen hohen Stellenwert inne hatte, hat mit ihrem Wesen zu tun. ­Sexualität ist der biologisch stärkste Motor – auch der menschlichen Existenz. Sexualität ist kreativer Ausdruck der universellen Polarität. Sie bringt uns mit unserem natürlich animalischen Grund zusammen und ist die Sprache des biologischen Imperativs zur Fortpflanzung. In ihr spiegelt sich die gesamte komplexe Dynamik von Nähe und Abgrenzung und sie ist die Flamme, mit der wir fähig sind, zwischen Himmel und Erde leuchten zu können. In der Sexualität fühlen wir das Verlangen, zueinander zu kommen – eine der wesentlichen Grundlagen für menschliche Kommunikation überhaupt.
Es wurde daher immer klarer: Der Beginn der eigenen geistigen und sozialen Entwicklung ist die Emanzipation des Körpers und seines kreativen Potenzials. Die authentische Entwicklung des Selbst, der Herzensqualitäten, der Vision und der Erkenntnis, mit allem verbunden zu sein, haben ihren Ausgang in einem uneingeschränkten Ja zum Körper. Bejahung des sexuellen Körpers ist dabei wesentlich Bejahung des eigenständigen und sich klar unterscheidenden Frau- und Mannseins als polare Aspekte des in uns verwirklichten kosmischen Tanzes. Deshalb war die Wiederentdeckung der körperlichen Frau und des körperlichen Mannes im sexuellen Spiel dieser Körper nach den prüde reglementierenden ­Moralsystemen der Vorgenerationen fundamentaler Beginn der jugendlichen Rebellion: Die Verquastheit und Verlogenheit der langen Linie feudal-bürgerlicher Wertesysteme und ihre Unter­drückung des Körperseins und der Sexualität wurden als Manipulation und praktiziertes Herrschaftswissen enttarnt. Denn mit Schuld und Sünde ließen sich trefflich gehorchende Untertanen in jede Richtung dirigieren. Damit sollte endlich Schluss sein. Das Ende der Manipulation begann in einem sich seiner selbst bewussten Körperwesen.

 

Der goldene Schlüssel

Wir haben den goldenen Schlüssel unserer Befreiung im wahrsten Sinne des Wortes in unserem Schoß liegen. Es ist der Schlüssel zu einem Haus mit vielen Etagen, in dem es jede Menge Zimmer, Flure und große Fenster gibt. Mit ­diesem Schlüssel begann ein Großteil jener Rebellion im veränderten Beziehungsspiel von Frauen und Männern: Schlüsselsuche, Hausreinigung und Renovierung. Die große Leistung der spirituellen Bewegung um Bhagwan Shree Rajneesh, später Osho, war die Vision der Veränderung menschlichen Zusammenwirkens auf der Basis einer radikalen Klärungsarbeit. Die Meditationen und therapeutischen Methoden aus diesem Wirkungsfeld waren exzellent geeignet, vor allem westlich geprägte Menschen dabei zu unterstützen. Die später auftretenden Probleme dieser Bewegung tun der Originalität und Wirksamkeit dieser Werkzeuge keinen Abbruch. Bhagwan hatte von Anfang an die radikale Verbindung von Sexualität und Erleuchtung postuliert und mit dieser damals skandalösen Position ein ungeheures Umdenken ausgelöst. Margot Anand folgte dieser Anregung und verknüpfte ihre Erfahrung westlicher und östlicher Weisheit zu SkyDancing Tantra als Weg, Sexualität mit Herz und Geist zu verbinden.

Da die tantrischen Systeme wirklich alles, eben auch und ganz besonders Sexualität, einschlossen, wurden sie als wichtige Quelle der Inspiration entdeckt und mit zeitgenössischem Wissen zu einer neuen Bewegung verschmolzen. Die neotantrische Bewegung entwickelte aus den Startvorgaben ihrer Pioniere ein breit verzweigtes Feld von Praxis und Suche. Es ging darum, altes Menschheitswissen in dem neuen Kontext aktueller Zeitbezüge landen zu lassen. Das Festhalten an historischen Strukturen der Handhabung und der reinen Lehren wäre ein wirkungsgedimmter Akt der Gelehrsamkeit mit wenig Bezug zu den Problemen realer Menschen gewesen. Das wollten die neotantrischen Pioniere auf keinen Fall. Der Kern tantrischer Weisheit ist allerdings universell und zeitlos in den neuen Praxislinien ungebrochen enthalten. Spiel der Pole. Wissen durch Tun.

 

Postmoderne Zeiten

Inzwischen hat sich die Welt weiterentwickelt. Mit der fortschreitenden Informationsgesellschaft ist eine bis dahin nie dagewesene Vernetzung der Menschheit zu einem globalen Metawesen erfolgt – mit allem Licht und allen Schatten. Damit hat hier eine neue Tektonik der großen Lebensthemen die Dinge in Bewegung gebracht. Nähe und Abgrenzung bekommen durch die rund um die Uhr mögliche Verfügbarkeit von fast allem eine ganz neue Auslegung.

Die sexuelle Rebellion ist inzwischen im Mainstream und als allgegenwärtiger Marktmotor angekommen. Aus rebellischen Barrikaden ist ein hedonistischer Palmenstrand für Erlebnishopper geworden. Wissenschaft erforscht jede Reaktion ihrer Messtechnik und wir lassen uns zu Millionen von programmierten Paarsuchmaschinen vermitteln. Wir bauen unsere Beziehungen wie Produkte in definierte Lebensplanungen ein. In den westlichen Kulturen meinen wir inzwischen, jede menschenmögliche Pore, jeden Winkel und vermeintlich jede Art sexueller Technik zu kennen und transportieren das in Großaufnahme hemmungslos in den Rest der Welt. Sexuelles Tun scheint in einer Endlosschleife der Sensationen und Frustrationen hängen geblieben zu sein. Auch die tantrische Bewegung ist davon nicht verschont geblieben. Tantra ist inzwischen in der medialen Wahrnehmung der ­Inbegriff exotischer räucherstäbchenschwangerer Sexualität, Näheworkshop für gefrustete Individualisten, Happyendmassage oder schlicht verbrämter Markenartikel im Rotlicht­bereich. Leider.

 

Reif für die Reise nach innen

Es ist an der Zeit, den tantrischen Begriff in diesem Umfeld neu zu verorten. Nach der sexuellen Revolte der 1970er Jahre ist die Reise ins Herz der Dinge angesagt Die Expeditionen in die horizontalen Ebenen der Phänomene haben sich zunehmend um eine Ahnung tieferer Strukturen des den Dingen innewohnenden Geistes erweitert. War die erste Phase gekennzeichnet von einer Befreiung zum eigenen Potenzial, steht die aktuelle Phase unter dem Stern der Befreiung in die Verbindung hinein. War die Beziehung des Ich und Du zum Körper in der ersten Stufe interessant, werden es zunehmend die Möglichkeiten des Ich zum Wir, Sie und Es sein.

Die Oberflächen sind bestens kartografiert, das verbindende Darunter und Dazwischen ist jedoch noch weitestgehend im Nebel unserer Verklärung und Verwirrung verborgen. Nicht ohne Grund. Die moderne bunte, schillernde Welt hat uns unendliche Möglichkeiten gegeben, uns in den Dünen unserer ­gestylten und fest installierten Selbstbeschreibungen zu verspielen. Doch darunter ist Angst, mit dem Zusammenbrechen der Fassaden in ein Nichts zu implodieren. Ein Nichts, das man wohl ahnt, aber wie der Teufel das Weihwasser fürchtet. Oder man könnte einem inneren Wesen begegnen, das man auf keinen Fall so sehen will.
Wir werden uns ändern müssen. Klären und Zumuten sind angesagt. Wir sind reif für den Mut, über erfahrenes Wissen der Oberflächen in das Zweigwerk unserer inneren Verbindung und die Magie unserer Bestimmung einzusteigen. Wir sind reif für die Emanzipation der Liebe aus dem Habenwollen und der Schwerkraft der Zweifel. Das ist für unsere hochentwickelte individuelle Inszenierung eine riesige Herausforderung, wird sie sich doch dafür durchlässig machen müssen. Hingabe ist keine beliebte Erfahrung für die perfektionierten Rollenbilder, in denen wir uns alle begreifen wollen. Hingabe und Bedingungslosigkeit sind die Voraussetzungen für die Form von Liebe, in der wir alle erwachen werden.

Die Oberfläche, die treibende Lust, die Berührung der Haut, Blicke und Gesten sind Einstiegstore zu einer inneren Berührung. Aufmerksamkeit und Achtsamkeit, energetisches Selbstbewusstsein, entspannte Neugier und das Wissen um den Reichtum unserer geistig historischen Position sind die Wegmarken, in jedem geatmeten Moment die Einbindung in das große Spiel, den eigenen Faden im universellen Gewebe zu verorten. Aus dem Nichts in die Vielfalt der Manifestation. Gleichzeitig. Das hat Tantra immer gemeint. So soll es sein.

 


 

SkyDancing Tantra ist ein feingeschliffener Pfad zur persönlichen Entwicklung. Margot Anand und später der Therapeut Peter A. Schröter entwickelten aus einer tibetisch-tantrischen Linie in Verbindung mit den Erfahrungen westlicher Körper-Pychotherapie eine Methode tantrischer Praxis und Lebensweise, die für westlich geprägte Menschen der Moderne gut erfahrbar und praktikabel sein sollte.

Margots Hauptwerk „Tantra – Die Kunst der sexuellen Ekstase“ ist immer noch ein Leitfaden tantrischer Praxis und zeigt die wesentlichen Werkzeuge. Die ­Klärung geht vom Körper aus und entwickelt über die Öffnung der Herzebene authentische Verbindungsfähigkeit.

 


Abb: © Ivan Polushkin – Fotolia.com

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