Wie der Berliner Senat den Volksentscheid zum Tempelhofer Feld aushebeln will

Im Mai 2014 hatten 740.000 Berlinerinnen und Berliner per Volksentscheid ein Gesetz beschlossen, das die Bebauung des kulturhistorisch bedeutenden innerstädtischen Freiraums auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof ausschloss.

Vor einem Monat nun überraschte Bausenator Andreas Geisel (SPD) die Berliner mit der Ankündigung, auf dem Tempelhofer Feld „temporäre“ Unterkünfte für Flüchtlinge einrichten zu wollen. Kurz darauf präsentierte der Berliner Senat einen Gesetzentwurf zur Errichtung von Unterkünften auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof. Mit dem Gesetzentwurf des Senats würde das Ergebnis des Volksentscheids „100% Tempelhofer Feld“ einer vermeintlichen Notlage wegen geopfert werden. Welche logistischen Herausforderungen und Risiken die geplante weitere Massenunterbringung von Flüchtlingen bergen würde, lässt sich angesichts der Zustände auf dem Gelände des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LaGeSo), der zentralen Aufnahmestelle für Flüchtlinge in Berlin, unschwer erahnen.

Vor diesem Hintergrund – der beabsichtigten Konterkarierung eines Volksentscheids, um eine fragwürdige Lösung der Flüchtlingsunterbringung durchzusetzen –, lud die Initiative „100% Tempelhofer Feld“ am 7. Dezember zu einer Veranstaltung im Heimathafen Neukölln. „Der Senat diskutiert mit Flüchtlingsrat und Bürgern“, so die verheißungsvolle Ankündigung. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller war eingeladen, die in seiner Regierungserklärung vom Januar 2015 bekräftige Absicht, für mehr Bürgerbeteiligung einzutreten, wahrzumachen und endlich öffentlich über die aktuellen Pläne des Senats zu informieren.

Doch der Regierende Bürgermeister und ehemalige Bausenator Berlins ließ sich ebenso entschuldigen wie andere Mitglieder des Senats. Über 400 Bürgerinnen und Bürger diskutierten dann mit den Abgeordneten Daniel Buchholz (SPD), Fabio Reinhardt (Piratenpartei), Susanna Kahlefeld (Grüne), Katrin Lompscher (Die Linke) und Georg Classen vom Flüchtlingsrat; die CDU hatte darauf verzichtet, einen Vertreter zu entsenden.

In der hoch verdichteten Debatte äußerten viele Redner aus dem Publikum den Verdacht, die Gesetzesänderung des Senats „zur temporären Unterbringung von Flüchtlingen“ sei nur ein Mittel, um das Bebauungsverbot nach und nach auszuhebeln, das Feld letztendlich dem spekulativen Immobilienmarkt preiszugeben. Warum der Senat die direktdemokratische Entscheidung von 740.000 Berlinern außer Kraft setzen will, statt Immobilien, die Spekulanten jahrelang leer stehen lassen, „temporär“ in Anspruch zu nehmen, erschloss sich vielen der Diskutanten ebenfalls nicht. Große Zustimmung erntete Katrin Lompscher, die feststellte: „Die Massen – unterbringung ist keine Lösung, wir brauchen Konzepte für eine dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen.“ Was an diesem Abend im Theatersaal des Heimathafens Neukölln deutlich wurde: Das Problem, um das es geht, ist letzten Endes der Umgang der etablierten Politik mit den neuen Räumen, die nach dem Erfolg des Berliner Wasservolksentscheids zunehmend von den Bürgerinitiativen und sozialen Bewegungen erobert wurden, um die Stadtpolitik konstruktiv mitgestalten zu können.

Der öffentliche Druck, den die Initiative um die Tempelhofer Freiheit und ihre Unterstützer u.a. durch die Veranstaltung im Heimathafen Neukölln aufgebaut haben, hat inzwischen Wirkung gezeigt: Die Abstimmung der Gesetzesänderung wurde auf Anfang des Jahres 2016 verschoben, es solle weiter mit einer Expertengruppe und mit Bürgern beraten werden. Zudem seien nur noch die befestigten Flächen links und rechts des Vorfeldes zur Flüchtlingsunterbringung vorgesehen, erklärte Senator Geisel wenige Tage nach der Veranstaltung. Es darf darüber spekuliert werden, inwieweit der Demokratie-Aspekt dabei auschlaggebend war.

Klar ist: Der Berliner Senat besitzt keine demokratische Legitimation zur Änderung des im Jahr 2014 per Volksentscheid beschlossenen Tempelhofer-Feld-Gesetzes. Eine Änderung des Gesetzes wäre nur dann legitim, wenn mit einem Einspruchsreferendum über die neue Vorlage abgestimmt würde. Die Initiativen der Stadt werten den ursprünglichen Vorstoß des Senats weiterhin als schlecht getarnten Versuch, aus der Volksgesetzgebung auszusteigen und das Gesetzgebungsmonopol wieder allein beim Parlament anzusiedeln.

Bereits während der Kampagne zum Volksentscheid hatte der Senat versucht, die Wohnbebauung auf dem Tempelhofer Feld als alternativlos darzustellen. Bei den Flüchtlingsunterkünften wird nun erneut suggeriert, es gäbe keine Alternative, werden konstruktive Eingaben wie der Vorschlag der Bürgerinitiative, das Rollfeld hinter dem ehemaligen Flughafengebäude, welches nicht durch das beschlossene Gesetz geschützt ist, für Notquartiere zu nutzen, systematisch ignoriert. Nach wie vor stehen fast eineinhalb Millionen Quadratmeter Bürofläche sowie ungenutzte, gut ausgestattete Gebäude in öffentlicher Hand wie das Bundesinstitut für Risikobewertung oder das Haus der Statistik am Alexanderplatz leer, die längst schon hätten hergerichtet sein können.

Der Verdacht drängt sich auf, dass es dem Senat weniger um eine adäquate Unterbringung von Flüchtlingen geht, sondern darum, sich nachträglich Satisfaktion für die Niederlage beim Volksentscheid zu verschaffen. Die konkreten Baupläne ähneln zur Verwechslung jenen, die der Senat schon vor dem Volksentscheid in die Welt gesetzt hatte. Die inzwischen bekannt gewordene Formulierung zur Gesetzesänderung gibt Anlass zu der Annahme, dass sie einer längerfristigen Bebauung das Terrain bereiten soll. Die rot-schwarze Landesregierung muss ihre neuen Pläne für das Tempelhofer Feld umgehend vollständig offenlegen, wenn sie das Misstrauen der Bevölkerung ausräumen will.

Flüchtlingskrise als Vorwand, um Volksentscheide für das Tempelhofer Feld  zu erschweren?

Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf und seinem Vorgehen sendet der Berliner Senat ein deutliches Zeichen an alle Initiativen, die konkrete Teile der Stadtentwicklung anders gestalten wollen und dabei seinen neoliberalen Konzepten eine Absage erteilen. Entgegen der Ankündigung des Regierenden Bürgermeisters, eine direktdemokratische Beteiligung fördern zu wollen, will nun die Landesregierung Volksentscheide deutlich erschweren. Die Fraktionen von CDU und SPD haben aktuell dem Abgeordnetenhaus ein „Gesetz zur Änderung abstimmungsrechtlicher Vorschriften“ vorgelegt. Der Gesetzesentwurf enthält ausschließlich Vorschläge, die die Hürden für das Zustandekommen von Volksentscheiden erhöhen oder den Wahlkampf zugunsten des Senats und der Regierungsfraktionen beeinflussen sollen.

Zwei wesentliche Änderungen bestehen darin, dass die Regierung den Wahlkampf aus dem Haushalt finanzieren dürfte, während Bürgerinitiativen ihre Öffentlichkeitsarbeit aus eigener Kraft finanzieren müssten. Unterschriften müssten in Zukunft nicht nur eindeutig identifizierbar, sondern darüber hinaus auch „vollständig“ sein. Schon Abkürzungen oder kleine Unleserlichkeiten würden zur Ungültigkeit führen. Kommt der Entwurf durch, hätte der Senat noch mehr Macht, die direkte Demokratie verkäme zu einer Alibiveranstaltung.

Der Eindruck drängt sich auf: Im Windschatten der sogenannten Flüchtlingskrise soll ein massiver Abbau von Demokratie und Bürgerrechten betrieben und die sozialen Felder weiter erodiert werden. Die Berlinerinnen und Berliner werden sich warm anziehen müssen angesichts dieser Entwicklungen, der Wind wird rauer, nicht nur auf dem Tempelhofer Feld.

 

Danke.

Über den Autor

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arbeitet als Expertin für direkte Demokratie, u.a. bei „Gemeingut in Bürgerhand“, gegen Demokratieabbau und Privatisierung der Daseinsvorsorge und ist Pressesprecherin des Berliner Wassertisches. Als Beraterin von NGOs, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Regierungsdelegationen sieht sie das Demokratiegebot der Zukunft in einer direktdemokratischen Partizipation mit klar definierten Mitwirkungs- und Mitbestimmmungsrechten, die die repräsentative Demokratie zu einer politischen Kultur der Teilhabe und beglaubigten Repräsentanz ergänzen.

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3 Responses

  1. Uta Reuß-Knote
    Gewaltlosen Widerstand bitte organisieren!

    Danke für diese gut verfassten Mitteilungen. Es wird Zeit, dass wir uns „empören!“
    Schon in den 60ern des vergangenen Jahrhunderts haben wir versucht durch Demonstrationen unsern Bürgerwillen auf Demos zu artikulieren. Wir wollten ja gewaltfrei bleiben, und das will ich immer noch, obgleich meine Empörung ins immense gewachsen ist.
    Wir sind nicht ohnmächtig! Wir müssen uns nur zusammentun!
    GEMEINSAM SIND WIR STARK!
    Wenn man als Bürger bei den gewählten Volksvertretern- sie vertreten zwar das Volk, aber leider nicht immer in dessen Sinne- gehört werden will , muss man sich etwas anderes als Demos einfallen lassen. Das kriegen sie doch kaum mit!!! Das geht doch glatt an ihrem gut getimten Alltag vorbei!
    Ruft alle Eure 700.000 Unterstützer auf, durch die öffentlichen und privaten Medien an einem ganz bestimmten Tag, an dem z.B. Beschlüsse gefasst werden sollen gegen den Erhalt des Tempelhofer Feldes, dass man dann eine vorgefertigte Email an die 8 Senatoren sendet, und zwar weiterhin täglich, bis Volkeswille umgesetzt wird und das auch öffentlich auf allen Kanälen so gesagt wird.
    Wenn dann ihre Arbeitsfähigkeit auf null gesetzt ist, weil die server zusammenknicken, dann wissen sie vielleicht endlich, was sie zu tun haben, und merken, dass die Mehrheit der Berliner nicht so dumm sind wie sie glauben und sich nicht weiter veräppeln lassen.
    In den Emails sollten die Berliner fragen, weshalb man nicht dem Leerstand in der Stadt entgegenwirkt. Und so sie haben sollten sie Alternativvorschläge zum Tempelhofer Feld machen.
    Z.B. gibt es auch zu wenig Studentenunterkünfte in Berlin, so könnte Integration gut gelingen und Ghettoisierung vorgebeugt werden, wenn Studenten günstig Wohnraum erhalten, wenn sie mit den Migranten zusammen wohnen in den „Massenunterkünften“ und man darin Gemeinschaftsräume einrichtet.
    U.a. würden dann auch keine rechten Terrorakte mehr Sinn machen, weil sie dann ja auch gegen die deutschen Studenten gerichtet wären.
    Solche Emails müssten von den Mitarbeitern ausgewertet werden.
    Der Senat wäre dann ziemlich mit der Erledigung von Volksanfragen beschäftigt und hätte keine Zeit mehr für Unsinn.
    Vielleicht könnt ihr meine Ideen verkürzt unters Volk bringen? Kann mich so schlecht kurz fassen!
    Euch viel Erfolg! Bleibt stur! Ich drück Euch die Daumen für mein geliebtes Tempelhofer Feld!
    U.R-K.

    Antworten
  2. Aster

    Hallo Frau von Wiesenau,

    was ich gern wissen würde zu diesem höchst interessanten Artikel – woher stammen diese Informationen über den Artikel und den Gesetzesentwurf?

    „…will nun die Landesregierung Volksentscheide deutlich erschweren. Die Fraktionen von CDU und SPD haben aktuell dem Abgeordnetenhaus ein „Gesetz zur Änderung abstimmungsrechtlicher Vorschriften“ vorgelegt. Der Gesetzesentwurf enthält ausschließlich Vorschläge, die die Hürden für das Zustandekommen von Volksentscheiden erhöhen oder den Wahlkampf zugunsten des Senats und der Regierungsfraktionen beeinflussen sollen.“ usw.

    Gruß
    Aster

    Antworten
    • Ulrike von Wiesenau
      Rettet den Volksentscheid-

      Antwort der Organisation „Gemeingut in BürgerInnenhand“, für die Autorin:
      Es ist leider wahr, die Regierungskoalition im Abgeordnetenhaus plant, Bürger- und Volksbegehren massiv zu erschweren. Im Herbst letzten Jahres hat sie dazu eine Änderung des Abstimmungsgesetzes auf den Weg gebracht.

      Der Berliner Senat will seine Öffentlichkeitsarbeit gegen Volksbegehren
      und Volksentscheide künftig aus Steuermitteln finanzieren. Für die
      Initiatoren von Volksentscheiden hingegen würde es in Berlin, anders
      als in anderen Bundesländern, keinerlei öffentliche Kostenerstattung
      geben. Zudem soll schon eine einzelne unleserliche Angabe oder auch ein
      abgekürzter Straßenname zur Ungültigkeit der Unterschrift führen – auch
      wenn die unterschreibende Person eindeutig erkennbar ist. Gleichzeitig
      will der Senat das Gesetz zum Erhalt des Tempelhofer Feldes annullieren,
      das 740.000 Berliner per Volksentscheid beschlossen haben.

      Das ohnehin bestehende Ungleichgewicht zwischen den Initiativen und dem
      Senat wird durch diesen Gesetzentwurf noch verstärkt. Käme dieser Entwurf durch, wären Bürgerinitiativen bei einem Volksentscheid künftig nahezu chancenlos.

      Inzwischen hat ein wachsendes stadtpolitisches Bündnis mit einer
      Erklärung massive Gegenwehr bezüglich jeder Aussetzung und
      Verschlechterung der Volksgesetzgebung angekündigt.

      Die Tische und Initiativen der Stadt werten die Vorstöße des Senats als
      Versuch, aus der Volksgesetzgebung und der erfolgreichen
      direktdemokratischen Mitgestaltung öffentlicher Räume auszusteigen und
      das Gesetzgebungsmonopol wieder allein beim Parlament anzusiedeln.

      °Die Fraktionen von CDU und SPD haben aktuell dem Abgeordnetenhaus ein
      „Gesetz zur Änderung abstimmungsrechtlicher Vorschriften“ vorgelegt.
      Den Gesetzentwurf finden Sie auf der Seite von „Mehr Demokratie e.V, Sie
      können den Aufruf, der bisher ca. 6.000 Unterzeichner hat, auch unterzeichenen:
      http://bb.mehrdemokratie.de/aufruf_unterschriftenhuerde.html

      ° Weitere Informationen finden Sie auf der Seite von 100% Tempelhofer
      Feld: http://www.thf100.de/start.html

      °Nein zum Ausstieg aus der Bürgerbeteiligung – Einen ersten Aufruf der stadtpolitischen Initiativen lesen Sie in der Stellungnahme zur Neujahrs-Pressekonferenz um das Tempelhofer Feld von Ulrike von Wiesenau in der Tageszeitung „Junge Welt“ vom 5. Januar 2016: www.jungewelt.de/2016/01-05/036.php

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