Veränderung ist möglich, und zwar leicht. Neue Traumatherapien umgehen unser rationales Gehirn und steuern direkt das unbewusste Traumagedächtnis an. Ein Eintauchen in die verdrängten Gefühle ist dabei nicht notwendig – die gewaltigen Energien lösen sich durch die richtige Traumatherapie meist schnell und von selbst auf. Gaby Pistor sprach mit dem Traumatherapeuten Wilhelm Steinmüller über Therapien für Traumatisierte.

 

Muss eine Therapie traumatisierter Menschen Jahre dauern?
Mittlerweile nicht mehr. Kurzzeittherapien aus den USA – wie man sie bei Kriegsheimkehrern aus Vietnam und Afghanistan anwendet – machen Hoffnung. Es sind vier Verfahren, mit leider fast unverständlichen Namen: „Somatic Experiencing“ (SE) und “Sensorimotor Sequencing(SS) (Link = PDF) einerseits, „Eye Movement Desensitization and Reprocessing“ (EMDR – etwa “Augenbewegungs-Entsensibilisierung und  -Wiederverarbeitung”) und „Eye Movement Integration“ (EMI) andererseits. In Deutschland sind fast nur Somatic Experiencing und EMDR bekannt.

Wie hat man früher versucht, Traumen zu heilen?
Da man lange Zeit die Schwere und Eigenart dieser seelischen Wunden nicht erkannte, behandelte man sie im Rahmen traditioneller Psychotherapien, zum Beispiel Gesprächs-, Gestalt-, Verhaltenstherapie, auch Psychoanalyse.

Was war daran falsch?
Falsch war es nicht. Aber der zeitliche und finanzielle Aufwand für manchmal jahrelange Therapien war und ist extrem hoch – und die Erfolgsquote dennoch gering. Vor allem hatten sie eine höchst unerwünschte “Neben”folge: Das Wiederdurchleben der Traumata konnte wegen bestimmter Belohnungsmechanismen des Gehirns retraumatisierend wirken. Das ist nun nicht mehr möglich: Die neueren Traumatherapien müssen nicht mehr die alten traumatischen Verletzungen reaktivieren. Sie umgehen die Bewusstseinsebene. Dem Klienten bleibt das schmerzhafte Wiedererleben erspart.

„Traumatherapie“ ist also etwas anderes als Psychotherapie?
Ja. Psychotherapie und Traumatherapie unterscheiden sich in wichtigen Punkten. Sehr verkürzt könnte man sagen: Psychotherapie ist Therapie der Seele, Traumatherapie eine spezielle Therapie des Körpers, aber mit psychotherapeutischen Mitteln. Dadurch grenzt sie sich übrigens von Massage und anderen Formen direkter Körperarbeit ab, die “hand-greiflich” vorgehen.

Worin besteht nun das Neue der Traumatherapie?
Wie schon gesagt: Sie vermeidet die Risiken herkömmlicher psychotherapeutischer Traumaarbeit. Sie ist meist auch weniger belastend als Psychotherapie. Ihre modernen Formen verstehen sich als Kurzzeittherapien: Wenn man Glück hat, kann die Bearbeitung eines einfachen Trauma, zum Beispiel eines schweren Verkehrsunfalls, in einer eineinhalbstündigen Sitzung abgeschlossen sein. Psychotherapie arbeitet mit seelischen Empfindungen, also den Gedanken, Bildern und Gefühlen der Seele, Traumatherapie hingegen mit körperlichen Empfindungen. Sie gehen den Gefühlen voraus und begleiten sie. Traumatherapie benützt direkt den Körper, um die Folgen der im Körper aufbewahrten traumatischen Ereignisse aufzulösen, Psychotherapie tut dies, wenn überhaupt, indirekt, um auf seelische Probleme und Lösungsmöglichkeiten rückzuschließen.

Wenn aber gar keine Erinnerungen mehr bewusst sind?
Das kommt in der Tat häufig vor. Das Trauma”gedächtnis” ist oft unbewusst. Es liegt tief im Körper begraben und äußert sich unter Umständen erst wieder bei ähnlichen Gefahrensituationen. Doch das spielt für die Traumaheilung keine Rolle. Ihr ist es sogar gleichgültig, ob sich der Klient oder die Klientin an ein traumatisierendes Ereignis erinnert, da sie das Wachbewusstsein zu umgehen weiß und sich auf den Körper und seine Empfindungen konzentriert. In der Traumatherapie geht es lediglich darum, die im Traumagedächtnis aufgestauten, aber dem Wachbewusstsein möglicherweise unzugänglichen gewaltigen Energien vorsichtig zu lösen. Das ist ein primär physiologischer, kein psychologischer Vorgang. Um es modisch auszudrücken: Traumaheilung ist Energiearbeit.

Was ist mit diesem Traumagedächtnis gemeint?
Wenn man von einer groben Aufgaben-Dreiteilung des Gehirns ausgeht, wie sie im Laufe der Evolution entstand – ich nenne diese drei Bereiche das Rational-, Emotional- und Instinkt- oder Vitalgehirn –, dann sind diesen Bereichen spezifische Therapien zugeordnet. So wendet sich etwa die Gesprächstherapie vorwiegend an das Rationalgehirn, also an höhere rationale Schichten, erreicht aber unter Umständen tiefer gelegene Inhalte nicht; Psychotherapien sprechen eher „mittlere“ emotionale Bereiche an; Traumatherapie hingegen arbeitet am Stammhirn, der tiefsten Schicht des Gehirns. Dort sitzt physiologisch das Traumagedächtnis.

Warum ist dieses spezielle Traumagedächtnis für die Traumatherapie so wichtig?
Das Traumagedächtnis ist den anderen Gedächtnissen zeitlich vorgeordnet, was inzwischen durch bildgebende Verfahren bestätigt wird. Das macht auch Sinn: Das Traumagedächtnis muss rechtzeitig den Körper warnen, ehe die rationale Besinnung einsetzt. Das hat jeder schon einmal erfahren, wenn er vom Fahrrad stürzte und sich gut abgefangen hat. Mit genau diesem Traumagedächtnis muss man “sprechen”, wenn die Heilung dauerhaft sein soll.

Wie geht Traumatherapie dabei praktisch vor?
Von außen sehen die Vorgehensweisen sehr verschieden aus: Somatic Experiencing und SS arbeiten hauptsächlich mit Körperempfindungen, EMDR und EMI mit Augen- und Handbewegungen. Anscheinend kann man über Körperempfindungen und Augenbewegungen diejenigen Hirnschichten positiv beeinflussen, die Traumen aufbewahren. Allen gemeinsam ist: Sie gehen vom Körper aus. Gedanken, Empfindungen und Bilder, die für die Psychotherapie so bedeutsam sind, werden zwar beachtet, sind aber sekundär.

Gibt es für diese Verfahren eine wissenschaftliche Grundlage?
Die Erforschung der Biologie, Psychologie und Physiologie des Traumas steht erst in den Anfängen. Auch die für das Gehirn zuständige Neurologie beginnt eben erst, sich diesen Fragen zuzuwenden. Doch wie so oft eilt die Praxis der Theorie voraus. Die Wunden der Vietnam-, Irak- und Afghanistan-Veteranen können nicht auf gesicherte Ergebnisse der Wissenschaft warten. Was man meist vergisst: Weder Mondlandung noch Raumfahrt konnten je auf „gesicherte Ergebnisse“ warten.

Was geschieht mit den erwähnten psychologischen Folgen des Traumas?
Die therapeutische Erfahrung lehrt, dass sich in oder nach der Traumatherapie die mit dem Trauma verbundenen Schmerzen und Emotionen häufig wie von selbst auflösen. Das geschieht manchmal binnen weniger Minuten, kann aber auch turbulente zwei Wochen dauern. Der Therapeut erfährt diese Selbstheilung des Gehirns wie ein Wunder. Erklären kann er das nicht. Manchmal aber bleibt etwas übrig oder taucht nunmehr neu auf: Dann wird er selbstverständlich mit den üblichen Methoden der Psychotherapie den Klienten zu Ende begleiten.

Wenn es turbulent zugehen kann – ist man in dieser Zeit denn überhaupt “alltagstauglich”?
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Klienten in dieser Zeit vielleicht beruflich weniger leistungsfähig, in ihren Beziehungen gehandicapt und persönlich mit ungewöhnlichen Erfahrungen konfrontiert sind. Therapeuten sind deshalb verpflichtet, ihre Klienten darüber zu informieren. Ferner müssen genügend Zeit und Mittel eingeplant werden und auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Ich vertrete die Auffassung: Es ist mir nicht erlaubt, eine Traumatherapie zu beginnen, wenn ich nicht mit hinreichender Sicherheit annehmen kann, dass wir sie auch beenden können. Eine abgebrochene Traumatherapie ist wesentlich schlimmer als ein unbehandeltes Trauma!

Ist Traumatherapie also doch gefährlich?
In der Tat. Beginnt ein Therapeut eine Traumatherapie gleich welcher Art, muss er wissen, dass er eine psychische Operation vornimmt. Sie ist kaum weniger riskant als eine physische Operation, nach meiner Auffassung sogar gefährlicher. Denn häufig begleitet Freude ihr Gelingen, und das verführt zum Leichtsinn. Dies gilt für beide Teile: Therapeuten freuen sich vielleicht über das Wunder der beendeten Therapie (und über ihr Können), bedenken aber darüber die Gefahr eines Rückfalls nicht immer in ausreichendem Maße. Vor allem Systemaufsteller greifen manchmal tief in den Menschen ein, sind aber von ihrem Selbstverständnis her weder gewohnt noch normalerweise ausgebildet, auf diese Folgen zu achten. Der Klient spürt vielleicht keine körperlichen oder seelischen Schmerzen mehr. In seiner verständlichen Euphorie unterschätzt er ebenfalls das stets präsente Risiko seiner Retraumatisierung. Aber seine Seele ist gleichsam noch ein rohes Ei ohne Schale, das geraume Zeit braucht, um wieder “alltagstauglich” zu werden. Er kann die innere Revolution nicht bemerken, da sie sich weit unterhalb seines Bewusstseins vollzieht. Er bemerkt nur die erfreulichen Auswirkungen auf sein individuelles und soziales Leben.

Falls ich traumatisiert wäre, was würden Sie mir raten?
Das innere Kind hat wahnsinnige Angst, den Horror noch einmal zu erfahren. Da das aber, wie gesagt, gar nicht notwendig ist, sage ich: Wagen Sie eine Therapie – aber mit informiertem Verstand. Suchen Sie einen qualifizierten Therapeuten und vor allem: Prüfen Sie, ob die “Chemie” stimmt. Engagierte “Junge” sind erfahrungsgemäß besser als routinierte “alte Hasen”. Vor allem – hören Sie auf die Stimme Ihres Herzens. Denn wie der Fuchs zum Kleinen Prinzen von St. Exupéry sagt: Man sieht nur mit dem Herzen gut.


Abb: © drubig-photo – Fotolia.com

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