Über Unsicherheit und schlechtes Gewissen der Eltern

Das schlechte Gewissen der Eltern ist ein zeitgeschichtliches Phänomen. 

Ich leite zusammen mit Klaus Wuttig das Kinderhaus im ZEGG (Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung) und begegne somit vielen Eltern und Kindern aus ganz Deutschland. Viele Eltern klagen, dass sie nicht mehr klar wissen, wie sie mit ihren Sprösslingen umgehen sollen und dass sie sich auf der Nase herumtanzen lassen. Viele sagen: „Das Kind nervt mich so, dass ich nicht mehr weiss, ob ich es wirklich liebe. Ich fühle mich als Rabenmutter und habe ein ständig schlechtes Gewissen. Darüber erschrecke ich so, dass ich am liebsten davonlaufen würde und mich nicht traue, Grenzen zu setzen…“ Ein Teufelskreis beginnt: Das schlechte Gewissen wird überspielt mit Konsum, Erklärungen und unechter Zuwendung.

Es scheint so, als entwickle sich gerade eine neue „Diskussionskultur“ zwischen den Generationen, die niemandem guttut. Nervenkrieg und erschöpfte Mütter sind die Folge. Die Kinder werden gezwungen, sich über immer spitzfindigere Fragen Zuwendung holen zu wollen. Laut Rebecca Wild sind sie auch „Spezialisten für Grenzverhandlungen“ geworden. Andere üben reale Gewalt aus gegenüber ihren Eltern. Die Eltern sind keine Orientierungshilfe mehr. Die Kinder ertragen die Schwäche der Eltern nicht. Und dann passiert es. Sie werden tyrannisch.

In Baden-Württemberg gibt es 130 bekannte Fälle, in denen Kinder Gewalt gegen Eltern ausübten, die Dunkelziffer in Deutschland beträgt vermutlich das Fünffache. Das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Auch moderne, sozial gut gestellte, bewusste Eltern sind so unsicher und voll mit schlechtem Gewissen, dass sie Kindern kaum noch Grenzen setzen können und diese auch keinen echten tiefen Kontakt zu ihren Eltern erleben.
Sie selbst sind so aufgewachsen, dass sie Grenzen fast nur als Druckmittel kennengelernt haben, als letzte Sicherung, weil die Welt nicht auf ihre echten Bedürfnisse vorbereitet war (und ist). Sie verwechseln Grenzensetzen mit Konditionierung. Deshalb fragen sie sich, ob Grenzen überhaupt zum Leben gehören und greifen zur „Laissez-faire“- Methode. Oder sie greifen zu Diskussionen und anderen Strategien, durch die ein Grenzerlebnis verwischt wird.

Das strapaziert die Kinder. Sie wollen sich auskennen und haben ein Gespür für zwischenmenschliche Lügen. Aus Kindessicht sieht das dann so aus: „Seine wirklichen Gefühle, und damit es selbst, scheinen offensichtlich nicht in Ordnung zu sein, wenn der Erwachsene darauf beharrt, dass es einsichtig sein soll.“(Rebecca Wild in „Freiheit und Grenzen – Liebe und Respekt“, 1998, 1.Auflage) „Der Schmerz des Nicht-gesehen-fühlens ist jedoch weit schwerer zu verarbeiten als der konkrete Schmerz einer Grenzerfahrung.“ Weiter meint Rebecca Wild, Grenzen sind unerlässlich, damit es überhaupt zu freiem Handeln kommen kann.

Das ist auch meine Erfahrung. Noch ein Zitat von Rebecca Wild: „Kinder (und natürlich auch Erwachsene), die uns Sorgen und Beschwerden machen, leiden im Grunde an Unfreiheit. Ein typisches Merkmal ist, dass sie sich „Freiheiten nehmen“, die ihnen nicht zustehen, dass sie Grenzen missachten“.

In einem Winkel ihres Herzens sehen sie wahrscheinlich, dass die heutige Gesellschaft keine wirklich kinderfreundliche ist. Sie wissen, dass die meisten Lebensumgebungen für Lebendigkeit und Kinder ungeeignet sind: sowohl das eigene Heim als auch das Wohnviertel, die Schulen. Nirgendwo mehr dürfen die Kinder ihrer Natur entsprechend leben. Das ist ein Teil des schlechten Gewissens. Der andere Teil weiss, dass Erwachsene fast nie wirklich in der Lage sind, ganz präsent zu sein für das Kind. Zu hoch ist der eigene Stress, zu hoch die Anforderungen der Leistungsgesellschaft. Fast alle Eltern haben riesige Angst, lieblos zu erscheinen und sind getragen von der Idee, ihren Kindern möglichst viel Freiheit und Liebe zu bieten. Jedoch sind sie nicht mehr in der Lage, die Situationen richtig zu beurteilen, in denen Freiheit angesagt wäre oder natürliche Grenzen. Zu voll ist der Kopf der bewussten Eltern mit Ansprüchen, alles richtig zu machen, dass sie nichts mehr von innen sehen können, von Wesen zu Wesen! Verwirrung im Kopf haben die Eltern auch, was Liebe zu ihrem Kind zu sein habe. Echte Zuwendung ist tatsächlich das Bedürfnis Nr.1, das noch vor Nahrung kommt. Doch zu oft führen falsche Bilder um Liebe zu einer „Affenliebe“, die alles zulässt, aber eindeutige Zeichen echter Zuwendung fehlen lässt, so dass das Kind unsicher und manipulativ wird (Rebecca Wild).

Schafft das schlechte Gewissen ab, egal was ursprünglich der Grund dafür ist. Solange ihr das habt, ändert ihr nichts wirklich, sondern benutzt es als Ausrede, um nicht handeln zu müssen und nicht sehen zu müssen – und ihr könnt auch real nichts Wesentliches sehen, solange das schlechte Gewissen da ist. Erst die Abschaffung des schlechten Gewissens öffnet eure Augen für das, was ein Kind wirklich braucht. Eine Mutter sagte einmal zu mir: „Das schlechte Gewissen ist dazu da, mir die Verzeihung der Gesellschaft zu sichern und so inkonsequent bleiben zu können wie ich bin. Seit ich das gesehen und gelassen habe, konnte ich viel mehr Veränderung und Verbesserung für mich und mein Kind herstellen.“

Und wie geht das, Abschaffung des schlechten Gewissens? Versöhnung mit sich selbst und seinen Fehlern, zu wissen, ich habe mein Bestes getan von meinem Wissensstand aus und ich entwickle mich weiter. Nur ohne schlechtes Gewissen kann man aus dem Herzen sehen und den Kindern eine Orientierung und Heimat sein. Es geht darum, kindliche Entwicklungsprozesse wieder ernstzunehmen, sie als Lebensprozesse zu begreifen, auf sie zu vertrauen und mit ihnen zu kooperieren.
„Jede gelungene Beziehung, die mit dem Lebensprozess kooperiert, streut den Samen für eine neue Kultur.“ (Humberto Maturana in „Liebe und Spiel“)

So entsteht eine Wahrnehmung für das, was Kinder wirklich brauchen. Die Vision ist, sich so für die Kinder einzusetzen, dass kein schlechtes Gewissen entsteht, und das erfordert oft Radikalität im Sinne von: von der Wurzel her Veränderungen schaffen für das Leben von Kindern.

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