Torsten Brügge über das U-Bahnfahren und wie wir auch diese als Achtsamkeitsmeditation genießen können.

 

Was bedeutet U-Bahnfahren für uns? Nervt es? Ist es sterbenslangweilig? Denken wir: „Eigentlich habe ich Besseres zu tun!“? Wie wäre es, die Fahrt durchs Kellergeschoss der Stadt als pure Achtsamkeitsmeditation zu genießen?

Sie beginnt mit den ersten Schritten die Treppe hinunter zum Bahnsteig. Wir stehen noch oben, doch unser Verstand stürzt schon vorweg. „Kriege ich die nächste Bahn noch oder muss ich wieder warten und komme zu spät?“ An den Spruch „Zeit ist Geld“ glauben wir natürlich nicht mehr. Doch das Motto „Zeit ist Glück“ beherrscht unser Denken: Wir versuchen möglichst viel Zeit einzusparen, um später glücklich sein zu können. Dieses „Später“ ist ein Aufschieben der Zufriedenheit in eine eingebildete Zukunft. So verpassen wir die Möglichkeit, schon in diesem Moment eine neue Spielart von Glück und Frieden zu entdecken.

Zum Beispiel in der einfachen Berührung unserer Fußsohlen mit den Steinstufen, die zum Bahnsteig führen. Das ist – jedenfalls bei Schuhen mit weichen Sohlen – eine Fuß-Reflexzonen-Massage der besonderen Art! Jede Stufe massiert unsere Füße auf eine neue kraftvolle Weise. Unser Körpergewicht sorgt für den richtigen Druck. Die Flächen und die Kante jeder Stufe erwidern ihn geschickt. Muskulatur und Gewebe unserer Füße werden mindestens so gut durchgewalkt wie von der Hand eines geübten Masseurs – und das kostenlos!

Und wenn wir die Rolltreppe benutzen? Auch hier möchte unser Verstand am liebsten sofort unten angekommen sein: „Warum sind diese Dinger dermaßen lahm geschaltet? Mensch, was stellt dieser Idiot sich in den Weg, stell dich rechts hin, Lahmarsch!“

Ohne solchen Geschwindigkeitsdruck steht uns eine außergewöhnliche Erfahrung offen. Wir schweben stehend in Richtung Ziel. Mühelos, ohne auch nur einen Zeh rühren zu müssen. Das wünschten sich die Yogis, als sie den fliegenden Teppich ersannen. Nur hat es mit dem nie so richtig geklappt.

Achtsamkeitsmeditation in der U-Bahn: Warten ohne warten

Blick auf die Anzeigetafel: „Mein Gott, noch zwölf Minuten? Sonst fährt die Bahn hier doch im Fünfer-Takt!“ Auch die freundlich durchgesagte Entschuldigung des Verkehrsbetriebes kann unseren Verstand nicht beruhigen. Wir starren ungeduldig ins Dunkel des Tunnels, von wo die Bahn kommen muss. Können wir sie auf magische Weise eher hervorlocken? Gleichzeitig tobt unser Denken: „Das kann doch nicht wahr sein.“ Wahr ist: Wir haben gerade die wunderbare Chance bekommen, eine Zwölf-Minuten-Steh-Achtsamkeitsmeditation zu beginnen. Zwei oder drei Minuten sind mit innerem Gemecker und Verspätungsszenarien verstrichen. Bleiben noch neun Minuten. Wozu? Um etwas zu entdecken: Jedes Warten kann stattfinden auch ohne Gedanken an das, was erwartet wird.

Dieses „Warten ohne zu warten“ kann sich in verschiedenen Formen abspielen. Vielleicht spüren wir unserem Atem nach. Wir entziehen dem Grübeln unsere Aufmerksamkeit und lenken sie auf unsere Körperempfindungen. Einatmen: Die Rippen heben sich, der Brustkorb wird weit. Ausatmen: Die Muskulatur entspannt sich, die Luft strömt aus unserem Mund. Wir können diese Atemzüge auch zählen. Das kann helfen, mit der Aufmerksamkeit beim Atem zu bleiben. Wir brauchen dem Gedanken „Wann kommt die Bahn denn nun endlich?“ nicht zu folgen. Wir genießen das Spüren des Atmens. Wie wohltuend solche Einfachheit ist.

Kurz bevor die U-Bahn einfährt, streicht ein Luftzug über unsere Haut. Die winzigen Härchen der Haut erspüren feinsinnig die leichtesten Bewegungen, auch den Luftstrom, den die U-Bahn weit vor sich herschiebt. Wir genießen dieses Strömen genauso wie eine Brise am Strand – und das hier unten auch noch ohne jegliche Gefahr eines Sonnenbrandes.

Die U-Bahn ist da. Die Wartezeit ist wie im Flug vergangen – weil wir nicht gewartet haben.

Melodie des Moments

Wir suchen uns einen Platz. Die Achtsamkeit geht weiter. Es kann hilfreich sein, die Augen zu schließen. Die anderen dürfen denken, wir seien müde. Wenn wir auf das Umherschauen verzichten, braucht unser Verstand sich nicht in Kommentaren zu verlieren. Stattdessen kann unsere Aufmerksamkeit sich auf den gegenwärtigen Moment richten. Mag sein, dass unser Denken noch Geschichten erzählt: Wie es gestern war, was wir heute noch vorhaben und was morgen geschehen könnte. Mit geschlossenen Augen ist dieses Kreisen leichter zu erkennen. Es darf da sein. Zugleich können wir eine wirkungsvolle Vertiefung unserer Aufmerksamkeit geschehen lassen: über das Hören.

Als Säugling haben wir in die Welt gehorcht. Haben jedem neuen Klang gelauscht. Staunten über jedes Geräusch. Später überlagerte der Denkprozess das reine Hören. Wir lernten zu benennen und zu erklären. Unser Verstand versucht die Welt zu begreifen. Er bildet Begriffe. Und doch gibt es immer wieder Momente, in denen wir frisch hinhorchen. Die Reinheit oder der Wohlklang liegt nicht im Ton, sondern in der Art des Hörens. Beim reinen Lauschen lassen wir uns in die Wahrnehmung des gegenwärtigen Klanges sinken. Wir hören ohne zu benennen, ohne zu bewerten. So, als wüssten wir nicht, was wir hören oder wie wir hören.

In jedem Augenblick wird ein neuer Klang angeschlagen. Auch in der U-Bahn. Ein ansteigendes Brummen des Elektromotors beim Anfahren. Das rhythmische Pochen der Gleisschwellen. Die Stimmen der anderen. Stationsansagen. Das Prusten der Luftdruckdüsen beim Öffnen und Schließen der Türen. Es sind Teile eines vielfältigen Klangteppichs. Wir haben eine Freikarte für die erste Reihe zu einem außergewöhnlichen Konzert im Keller-Saal.

 


Satsang und Stille-Tag mit Torsten und Padma
am 30. & 31.7. im „Care & Share-Zentrum“, Welserstraße 5-7, 10777 Berlin
www.sevaa.de/index.php/berlin.html

Über den Autor

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ist seit Ende der Neunziger als Lehrer und Begleiter für spirituelle Selbsterforschung aktiv. Er verbindet dabei nonduale Erkenntniswege aus der Tradition seiner Lehrer Sri Ramana Maharshi, Poonjaji und Gangaji mit Elementen aus transpersonaler Psychologie, Enneagramm und Hypnotherapie. In Hamburg führt er mit seiner Partnerin Padma Wolff die „Praxis für Medita – tion und Selbst – erforschung“ und die „Bodhisattva Schule“, ein Ausbildungsinstitut für Integrale Tiefenspiritualität www.bodhisat.de

Kontakt
Tel. 040-55775577
Mehr Infos

2012 erschien Torsten Brügges Buch
„Besser als Glück – Wege zu einem erfüllten Leben“ im Verlag der Ideen.

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