Kraftvoll Mann sein durch Aussöhnung mit dem Vater

von Sharan Thomas Gärtner

Ich war 19 und mit meiner Freundin an einem Wochenende in die Eifel gefahren. Es wurde gerade dunkel, als ein offenbar etwas angetrunkener Mann, wohl ein einheimischer Landwirt, uns auf der Straße anhielt und um etwas Benzin bat. Zum Dank klopfte er mir, etwas bierselig, ziemlich kräftig auf die Schulter. Als ich wieder im Auto saß, geschah etwas Merkwürdiges: Zum einen tat meine Schulter richtig weh. Und zugleich war ich zutiefst glücklich… Der ziemlich grobe, männliche Dank dieses Eifler Bauern hatte eine tiefe Sehnsucht in mir berührt: die nach dem Kontakt zum Vater, nach seiner Berührung und Anerkennung. Damals verstand ich zum ersten Mal, was Vater-Hunger bedeutet. Mir wurde bewusst: ich kann nicht einfach „meinen Vater hinter mir lassen“, wie ich es zuvor versucht hatte.

Im Idealfall wachsen Söhne mit einem präsenten und liebevoll fordernden Vater auf und in einer männlichen Gemeinschaft, die sie ins Mannsein hineinführt. Denn „nur Männer können aus einem Jungen einen Mann machen.“ (Robert Bly, „Eisenhans“). Für viele Männer ist der Vater stattdessen der große Unbekannte geblieben. Der Vater war bedrohlich für den Sohn, weil er eifersüchtig war auf die mütterliche Zuwendung oder weil ihn die kindliche Lebendigkeit an sein verschlossenes Herz erinnerte. Er war abwesend und signalisierte: „Du bist mir egal!“ Oder er schenkte „Liebe“ im Tausch gegen Höchstleistungen.

Manche von uns haben dann entweder versucht, so zu werden wie dieser Vater, um seine Liebe doch noch zu gewinnen. Oder wir gaben alles, um ganz anders zu werden als er. Vielleicht war das auch die Botschaft der Mutter: „Werde bloß nicht wie dein Vater!“ – im Klartext: „werde kein Mann!“ Dann fühlte der Sohn sich verraten vom Vater und lebenslang von ihm allein gelassen mit der Mutter. Ein typischer innerer Satz des „vaterlosen“ Jungen in uns ist: „Ich habe mir meine Sehnsucht nach dir nie wirklich eingestanden.“

Meine eigene Männerarbeit begann mit diesem „Vater-Hunger“. Mein aus dem Krieg heimgekehrter Vater konnte mir den Weg ins Mann-Sein nicht zeigen. Meine Mutter suchte im Sohn den Halt, den sie bei ihrem Mann nicht fand. Und mein Vater resignierte in diesem subtilen Machtkampf. So wurde auch mein Mann-Sein geprägt von einem eigenartigen Gefühl der mangelnden Verwurzelung. Die Einsicht in meinen ganz persönlichen „Vater-Hunger“ stand am Beginn meines eigenen Weges als Mann.

Die Vater-Wunde transformieren

Männer brauchen Männer, um den erheblichen inneren Widerstand aufzugeben, sich wirklich auf dieses Thema einzulassen. Wenn wir uns aber dem Schmerz stellen und dem „inneren Jungen“ in uns Raum geben, werden unsere Wunden zu einem Teil unserer Kraft.

Was zumeist als „männlich“ abgelehnt wird wie Gewaltbereitschaft, Gefühllosigkeit, Bindungsschwäche, sind keine Merkmale von Männlichkeit, sondern Ausdruck von Verletzungen. Deswegen muss jeder Mann zum einen seine destruktiven Muster konfrontieren: die Einsamkeit, das verschlossene Herz, die entfremdete Sexualität, die Trennung von Lieben und Begehren, das Gewaltpotenzial, den Flirt mit Süchten aller Art. Und jeder Mann muss sich zum anderen ebenso seinen eigenen Wunden zuwenden: dem grundlegenden „Vater-Hunger“, aber auch der emotionalen Übergriffigkeit von Frauen, der kollektiven Verletzung durch die patriarchale Kriegskultur und auch der zum Teil feindseligen Abwertung des Männlichen im Diskurs der vergangenen fünfzig Jahre.

Viele Jahre nach der Begegnung mit dem Eifler Bauern brachte ich meinen Vater zum Flughafen nach Düsseldorf. Nach fünfzig Jahren hatte er zu dem lettischen Piloten Kontakt bekommen, mit dem er 1944 als deutscher Jagdflieger in Kurland Einsätze geflogen war. Da sah ich meinen Vater das erste Mal in meinem Leben weinen. Er konnte nicht mehr aufhören, er war einfach überwältigt von dieser Erfahrung: am Ende seines Lebens, fünfzig Jahre nach dem Krieg, kehrte er dorthin zurück, wo er als junger Mann für den Rest seines Lebens geprägt worden war.

Wenn wir heute unser männliches Herz öffnen und uns erlauben, aufrichtig, verletzlich, weich und berührbar zu sein, durchbrechen wir eine jahrhundertealte Kette des Leids. Um so voll und ganz Ja zu uns selbst und unserem Mann-Sein sagen zu können, müssen wir innerlich den Weg zum Vater gehen und mit ihm ins Reine kommen. Diese Klärung ist möglich, unabhängig davon, ob der Vater noch lebt oder nicht. Viele Männer gehen diesen Weg und dieser Mut wird belohnt durch ein viel größeres Spektrum, mit dem wir Männlichkeit heute leben können.

Eine Antwort

  1. Bob Hope
    Die Männerwunde und das Erkennen

    Schon verrückt… Ich kenne praktisch keinen Mann, den dieses Thema nicht beträfe. Ja, genau betrachtet, kenne ich nur kleine Jungs, in gealterten Körpern. Dennoch: keine Kommentare bisher? Verrückt, dass dieses Thema nicht in aller Munde ist.
    Als ergänzung zu dem Text: Gefühle erlauben ist nur der äußere Ausdruck, für etwas, das noch viel tiefer sitzt. Den Mut und die Stärke finden, das zu erlauben. Das ist wohl das essentielle Thema von „Männlichkeit“. Stärke zu finden, um weich sein zu können. Und zeige mir mal jemand die Väter, die das ihren Söhnen und Töchtern beigebracht haben.
    Bleibt zu wünschen, dass noch viele, viele Menschen erkennen, dass da ein ewiger Kreislauf des Leides unterbrochen werden kann und darf.

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