„Ich will beweisen, dass der Mensch auch noch in der Hölle Mensch bleiben kann.“ In diesen drastischen Worten verdichtet sich die Existenzanalyse des großen Humanisten und Psychologen Viktor Frankl. Als Überlebender von vier Konzentrationslagern hatte er die Hölle am eigenen Leibe erlebt. Hier, an diesen Orten der Unmenschlichkeit, begründete er seine Philosophie der Menschlichkeit. Hinter Stacheldraht gefangen erkannte er: „Jeder Mensch behält bis zum letzten Augenblick seines Lebens die Freiheit, über seine Haltung zu der tragischen Situation zu entscheiden.“ Und sich – unter anderem durch Vergebung des Schrecklichen – von altem Ballast zu befreien und sich mit dem eigenen Schicksal auszusöhnen.

von Christa Spannbauer

Trotzdem Ja zum Leben sagen

Zweifellos können wir viel lernen von Menschen, die sich von leidvollen Lebenserfahrungen zwar erschüttern, nicht aber zerbrechen lassen. Die erfahrenes Leid nicht verdrängen, sondern es mutig durchschreiten und nach Möglichkeiten der Transformation Ausschau halten. Dieses Potenzial des Menschen, über sich selbst hinauszuwachsen, sah Viktor Frankl selbst noch im Todeslager Auschwitz am Wirken. „Die Trotzmacht des Geistes“ nannte er diese Widerstandskraft und erblickte in ihr die letztendliche Freiheit des Menschen im Angesicht seines unausweichlichen Schicksals.

Für den Shoah-Überlebenden stand fest: Es ist die geistige Einstellung dem Leiden gegenüber, die darüber entscheidet, ob der Mensch es bewältigen oder an ihm verzweifeln wird. In seinem autobiografischen und millionenfach aufgelegten Buch „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ dokumentierte er dies eindrücklich. „Wer von denen, die das Konzentrationslager erlebt haben, wüsste nicht von jenen Menschengestalten zu erzählen, die da über die Appellplätze oder durch die Baracken des Lagers gewandelt sind, hier ein gutes Wort, dort den letzten Bissen Brot spendend? Und mögen es auch nur wenige gewesen sein – sie haben Beweiskraft dafür, dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Und es gab ein so oder so.“

Wofür es sich zu leben lohnt

Woher aber nehmen Menschen die Kraft, in leidvollen Situationen so weit über sich selbst hinauszuwachsen? Und wie gelingt es ihnen, unter schwersten äußeren Lebensbedingungen innerlich heil zu bleiben? Für Viktor Frankl bestand kein Zweifel daran, dass es der Wille zum Sinn ist, der Menschen diese Widerstandskraft verleiht: „Lebenssinn ist das Dringendste, was ein Mensch braucht. Der Mensch muss etwas oder jemanden finden, für das oder den es sich zu leben lohnt.“ Menschsein weist damit immer schon über sich selbst hinaus: „In der Art, wie ein Mensch sein unabwendbares Schicksal auf sich nimmt, darin eröffnet sich auch noch in schwierigsten Situationen und noch bis zur letzten Minute des Lebens eine Fülle von Möglichkeiten, das Leben sinnvoll zu gestalten.“ Erst im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu anderen wird der Mensch ganz Mensch und verwirklicht sich selbst. In der Hingabe an eine Aufgabe, im Engagement für eine bessere Welt erfährt er sein Leben als erfüllt und sich zutiefst mit anderen Menschen verbunden. Ebenso wie der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber war auch der Existenzialist Viktor Frankl davon überzeugt, dass der Mensch auf die Welt hin orientiert ist und – um mit Bubers Worten zu sprechen – erst am Du zum Ich wird.

In dem Maße, in dem wir uns als Mitgestalter der Welt, als weltoffene Wesen wahrnehmen und uns für unsere Mitmenschen einsetzen, gewinnt unser Leben nicht nur an Sinn, sondern auch an Glück. Aktuelle Studien der Positiven Psychologie bestätigen dies. Ein gelingendes Leben ist demzufolge immer auch ein tätiges, ein engagiertes und am Gemeinwohl interessiertes Leben: „Es gibt nichts auf der Welt, das einen Menschen so sehr befähigt, äußere Schwierigkeiten oder innere Beschwerden zu überwinden, als das Bewusstsein, eine Aufgabe im Leben zu haben“, resümierte Frankl. Diese Weltorientiertheit einhergehend mit der Fähigkeit zur Selbsttranszendenz ist es, die dem Menschen die Kraft verleiht, sinnvolles Handeln über die eigene Befindlichkeit zu stellen, Verzicht für etwas oder jemanden zu leisten und Hindernisse nicht nur zu überwinden, sondern an ihnen zu wachsen.

Der von Frankl hochgeschätzte Philosoph Friedrich Nietzsche brachte diese Haltung mit wenigen Worten auf den Punkt: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie.“

Mut zum Leben

Was befähigt Menschen dazu, traumatische Lebenserfahrungen nicht nur zu bewältigen, sondern gegen alle Wahrscheinlichkeit auch noch menschlich daran zu wachsen? Als eines der auffälligsten Merkmale seelisch widerstandsfähiger Menschen gilt die Entscheidung, sich beherzt einen Weg durch das Leid zu bahnen und sich mit dem eigenen Schicksal auszusöhnen. Dies ist es, was die Resilienzforschung als „posttraumatisches Wachstum“ bezeichnet. Ich selbst hatte das Glück, für den Film und das Buch „Mut zum Leben – Die Botschaft der Überlebenden von Auschwitz“ Menschen zu begegnen, die mir in eindrücklicher Weise genau das vorlebten. Der israelische Maler Jehuda Bacon, der als 15- Jähriger das Todeslager Auschwitz überlebt hatte, sagte in einem Gespräch: „Die Erfahrungen in den Konzentrationslagern sind Teil meines Lebens, und mein Ziel war es, auch diese Erfahrungen in etwas Positives umzuwandeln. Ich versuchte, daran zu reifen, menschlich und auch in meinem künstlerischen Schaffen. Es ging mir darum, dem ganzen Leben – in meinem Fall war das auch Auschwitz – einen Sinn zu geben.“

Damit bestätigte der 88-jährige Shoah-Überlebende, was auch Viktor Frankl erfahren hatte: „Wer also das Schicksal mit Mut und Würde auf sich nimmt, der kann einem schrecklichen Ereignis Sinn abringen und sogar im höchstmöglichen Grad Sinn erreichen.“ Der bedingungslose Glaube an einen letzten Sinn, mag er auch noch verborgen sein, war es, der Jehuda Bacon erklärtermaßen beim Überleben und Weiterleben half. Dieser Wille zum Sinn befähigte ihn auch dazu, das entsetzliche Leid, dem er als junger Mensch ausgesetzt war, als Möglichkeit zu begreifen, um menschlich daran zu reifen: „Leiden kann einen Sinn haben, wenn es einen Menschen im tiefsten Herzen berührt. Dann kann das Leiden zu einem Katalysator für eine neue Sicht auf die Welt werden.“ In letzter Konsequenz ermächtigte ihn die Entscheidung, dem Schrecklichen einen Sinn abzuringen, auch dazu, die Verantwortung für das eigene Schicksal zu übernehmen: „Ich erlebte, dass man als Mensch immer die Freiheit der Entscheidung hat und dafür auch Verantwortung übernehmen muss. Immer ist man vor die Frage gestellt, ob man sich selbst oder die Welt im Sinn hat.“

Freiheit bis zuletzt

Diese Haltung von Menschen wie Viktor Frankl und Jehuda Bacon kann uns heute lehren, wie wir selbst mit leidvollen und uns überwältigenden Lebenssituationen umgehen können. Sie nährt die Hoffnung, dass der Mensch ein wertvolles Gut in sich trägt, das er auch unter schwierigsten Lebensbedingungen bewahren kann: die Freiheit, ein Mensch zu bleiben. Indem wir in den existenziellen Krisen des Lebens eine Chance für Wachstum und Entwicklung erblicken, können auch wir etwas von dem erfahren, was Viktor Frankl erkannt hatte: „Es gibt keine einzige Lebensoder Leidenssituation, die nicht irgendeine Möglichkeit böte, sie in eine sinnvolle Leistung umzuwandeln.“ Hierfür ermutigte er die Menschen, im Umgang mit Problemen nicht an der Frage haften zu bleiben: „Warum ist mir dies geschehen?“, sondern die Perspektive zu erweitern und zu fragen: „Wozu fordert mich diese Situation heraus?“.

Denn während die erste Frage um das Problem kreist, ist die zweite lösungs- und zukunftsorientiert und öffnet den Raum für hoffnungsvolle Deutungen. Kein anderer Psychologe erklärte so entschieden wie Viktor Frankl die Freiheit des Willens und den Willen zum Sinn zum geistigen Potenzial des Menschen. Bis heute macht seine heroische und allen Widrigkeiten des Lebens trotzende Lebensbejahung zahllosen Menschen Mut zum Leben. Die von ihm gegründete sinnzentrierte Logotherapie, neben Sigmund Freuds Psychoanalyse und Alfred Adlers Individualpsychologie als die „dritte Wiener Schule der Psychotherapie“ benannt, findet weltweit Anwendung.

„Jeder Mensch hat sein eigenes Auschwitz“, antwortete er einmal auf die Frage, wie wir seine unter extremsten Bedingungen erworbenen Erkenntnisse auf unser Leben heute anwenden können. Mit seinen eindrücklichen Worten erinnert er uns daran, sich den existenziellen und letztlich unausweichlichen Fragen des eigenen Lebens zu stellen: Wer bin ich, wenn mir alles genommen wird? Was trägt mich? Wer hält zu mir in den Schicksalsschlägen des Lebens?

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