Das Vergangene bestimmt unsere Gegenwart. Gern erklären wir uns unsere innere Situation aus Erlebtem und Erfahrenem. Aber welche Rolle spielt die Zukunft? Ein Plädoyer für mehr Mut zu einem an VISIONEN ausgerichteten Leben.

Zukunft, Vergangenheit, Gegenwart – nichts schafft eine umfassendere und zugleich einfachere Ordnung in unserem Leben als die Linearität der Zeit. Nichts ist – bei aller möglichen subjektiven Empfindungswelt – eindeutiger als die Tatsache, dass unsere Geburt in der Vergangenheit und unser Tod in der Zukunft liegt. Die Zeit schreibt ein unumstößliches, höchst verlässliches Gesetz. Wir können ihre elementare Gegenwart in jedem Augenblick spüren, am deutlichsten vielleicht, wenn wir einen Sonnenuntergang erleben oder beobachten, wie ein Düsenjet einen Kondensstreifen am Himmel hinterlässt: Ereignisse, die sich zwar in großer räumlicher Entfernung ereignen, uns jedoch gleichzeitig ein tiefes, universelles Empfinden von Lebendigkeit, von intensiver Teilhabe am Lauf der Zeit vermitteln.
 
Für gewöhnlich nehmen wir uns nicht die Freiheit für dieses überwältigend simple Gefühl des Lebens: im Jetzt zu sein, Vergehen und Werden zu spüren und in ihrer Mitte zu verweilen. Dabei haben wir meist die eindeutige Wahl. Wir lenken unser Bewusstsein, wir steuern unseren Geist nach hinten oder nach vorn. Wir hängen schönen Erinnerungen oder beängstigenden Zukunftsvisionen nach, wir grübeln über Vergangenes, wir machen Pläne, wir ärgern uns über gemachte Fehler und ihre Folgen. Denn unser Geist ist daran gewöhnt, im Flussbett der Zeit Pflöcke einzuschlagen und unser Leben an ihnen fest zu vertäuen. So gebunden, entwickeln wir ein Lebensgefühl, das uns scheinbaren Halt gibt im haltlosen Fluss der Zeit. Unser Bewusstsein meint oft genug, Stabilität und Sicherheit erwachsen aus Feststellungen, aus dem Anhalten der Bewegung, dem Stoppen des Flusses. Dann hat unser Geist einen Standpunkt, wir verlassen uns auf eine feste Position. Wir bleiben stehen, während die Zeit weiter fließt, um uns und unsere in ihr eingeschlagenen Pflöcke herum. Wir haben uns dann zwar abseits des Lebensstroms gestellt, aber erhalten als Lohn für diesen Stillstand, dieses Festklammern ein Gefühl von Gefahrlosigkeit. Deshalb ziehen wir gern das Stehen dem Strömen vor – ein fester Platz dient uns als Behausung, als Zuflucht fern jeglicher Bedrohung.

Nichts geschieht ohne Ursache

vis4.jpgFesthalten jedoch können wir nur an Vergangenem. Und so sind wir darin geübt, uns die Gegenwart aus der Vergangenheit zu erklären. Aus der Naturwissenschaft wissen wir, dass nichts ohne Ursache geschieht. Die Chaosforschung konnte uns plausibel machen, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings über dem Indischen Ozean letztlich zu einem Wirbelsturm in der Karibik führen kann.
Auch unser äußeres wie unser inneres Dasein funktioniert demnach als Prinzip von Ursache und Wirkung. Die Psychologie lehrt uns, emotionale Störungen durch Ereignisse in unserer frühen Kindheit zu erklären. Wir haben Bindungsangst, weil wir in elementaren Situationen unserer Kindertage verlassen und getäuscht wurden, wir klammern uns an Partner oder an festgezurrte Strukturen und Abläufe, weil wir in der Begegnung mit dem Neuen, Unbekannten einst eine Störung unseres Wohlbefindens, eine Verletzung unseres Urvertrauens erfahren haben.
 
Auch der Schlüssel zur Zukunft liegt augenscheinlich in der Vergangenheit. Philosophie, Religion, Ethik oder die archetypische kollektive „Volksweisheit“ – westlich wie östlich – zeigen gern aus dieser Perspektive auf die Welt: Wer gibt, dem wird gegeben werden; wer schlechtes Karma anhäuft, indem er anderen Leid zufügt, wird später selbst leiden; wer zur rechten Zeit vorsorgt, wird zur rechten Zeit ernten; wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.

Freundin Vergangenheit

Wir haben gelernt, der Vergangenheit zu vertrauen, weil sie nicht veränderbar ist. Sie ist unsere Freundin, sie lehrt uns unser Leben. Sie determiniert die Gegenwart. Kehrseite dieser Erkenntnis ist unser Misstrauen gegenüber der Zukunft. Wer weiß schon, was kommen wird? Jeder weiß, was war, keiner weiß, was sein wird. So liegt es auf der Hand, zu behaupten, dass unser Spielraum, unsere Möglichkeiten zur Entfaltung und Entwicklung vom Korridor unserer Vergangenheit begrenzt werden. Er hat Türen, er hat Wände, er hat eine begrenzte Fläche. Sind wir mutig, können wir die Türen öffnen, doch die Wände einzureißen, scheint uns meist jenseits unserer Möglichkeiten. Denn wir meinen, unsere Grenzen ebenso zu kennen wie jene des Korridors unserer Vergangenheit. Wir haben gelernt, was geht und wie es geht. Unsere andauernde Übung in der Anhaftung an vergangenes Geschehen entwickelte sich so zu einem Konzept. Eine von der Zeit geschriebene Anleitung zum Leben. Sie ist klar und logisch. Aber sie ist auch beschränkend und bequem.

Hinter allem verbirgt sich ein Ziel

Zu jedem Hier gibt es ein Dort. Eine einfache polare Bedingung. Zu jedem Jetzt gibt es ein Früher. Aber auch ein Später. Eine doppelte polare Bedingung. Wieder haben wir die Wahl: Gehen wir den ausgetretenen Pfad zurück oder beschreiten wir den neuen Weg nach vorn? Muss die Ursache eines Geschehens stets in der Vergangenheit liegen? Kann nicht ein Ereignis im Jetzt seinen Grund in der Zukunft haben? Die Vorstellung einer strukturierten Verbindung nicht nur zwischen dem Früher und dem Jetzt, sondern ebenso zwischen dem Jetzt und dem Später hat kaum Platz in unserer deterministischen Welt. Auf den ersten Blick wirkt sie bestenfalls hyperrealistisch, schlechterdings okkult. Und im Lichte strenger Gesetze von Ursache und Wirkung ist sie so unseriös wie das Lesen im Kaffeesatz oder aus der Handfläche. Denn wir verlieren scheinbar den sicheren Boden der Vergangenheit unter den Füßen, wenn wir sie durch die Zukunft ersetzen. Noch einmal: Was, wenn der gegenwärtige Augenblick gleichzeitig getrieben ist von der Vergangenheit und gezogen von der Zukunft?
 
vis5.jpgWir alle wissen um die Existenz von Entwicklungen; biologischen, psychologischen, wirtschaftlichen, emotionalen Prozessen. Nichts bleibt, wie es ist. Nichts ist, wie es war. Wenn Entwicklungen nicht ausschließlich chaotisch sind, sondern einen Zielpunkt haben, spielt die Zukunft die entscheidende Rolle im Geschehen unserer Gegenwart. Natürlich spüren wir uns und unser Dasein am deutlichsten im Hier und Jetzt. Da wir aber außerstande sind, unseren Hang zur zeitlichen Verknüpfung zu überwinden, können wir ebenso gut, wie wir einen Pflock in die Vergangenheit schlagen, einen Anker in die Zukunft werfen. Wahrscheinlich wissen wir es im Moment des Geschehens noch nicht, aber wenn die Zukunft zur Gegenwart geworden ist, erkennen wir oft, dass eine Entwicklung, eine Folge von Geschehnissen in unserem Leben zwangläufig war, dass nur sie zum aktuellen Zustand unserer Gegenwart führen konnte. Vielleicht sind ihre Bedingungen geknüpft worden durch eine Vision außerhalb unseres Bewusstseins, eine magische Determinante in unserer Zukunft.
 
Der menschliche Wissendrang pendelt zwischen der Frage nach dem Wie und jener nach dem Warum. Wenn einst alles Wie ergründet sein wird, wird uns wahrscheinlich alles Warum noch immer Rätsel aufgeben. Denn alle Form und Funktion muss die Antwort auf die Frage nach dem Sinn letztlich schuldig bleiben.
 
Es sei denn, wir haben den spirituellen Mut, einen Teil unserer Existenz in der Zukunft zu verankern und, auch wenn es uns am eindeutigen Wissen darum fehlt, zu wünschen und zu ahnen, dass sich hinter allem Geschehen eine Aufgabe, ein Ziel verbirgt. Das Wenigste, was wir dabei gewännen, ist ein Quäntchen Hilfe, ein Quantum Heilung, eine Dosis Trost.

Fotos: Nessim Behar-Kremer

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