Vom Empfangen und Weitergeben 1. März 2008 Wissen & Weisheit Bist du noch Lehrer oder schon wieder Schüler? Wer gibt mir, was ich zu geben habe? Von wem empfange ich? – Geben und Nehmen gehören zusammen. Suchen und Finden auch. Gemeinsam machen sie das Leben aus. Auf der physischen Ebene wird das Stoffwechsel genannt, auf der geistigen Ebene zeigt es sich als Lehrer-Schüler-Beziehung. Dabei ist die Aufgabe des Lehrers, wieder ganz zum Schüler zu werden. Die Aufgabe des Schülers ist es, über den Lehrer hinauszugehen. Die Aufgabe von beiden ist es, sich selbst zu erkennen. Denn genau das ist, was Auf-gabe seinem Sinn nach bedeutet: Ich höre auf, auf mir zu bestehen, und gehe über mich selbst hinaus. Wer bleiben will, was er ist, und an einem Bild von sich festhält, ist sicherlich gut beraten, in die Rolle eines Lehrers oder Schülers zu schlüpfen, um darin zu verbleiben. Wenn die Inszenierung jedoch durchschaut worden ist, werden beide Rollen losgelassen. Wo das geschieht, findet wirkliche Begegnung statt. Dann geht der Schüler im Lehrer auf oder der Lehrer im Schüler. Das ist das höchste Ziel und die größte Freude … Kein jemals in diesem Universum aufgetauchtes Wesen ist nur Schüler oder nur Lehrer gewesen. Immer sind wir beides, und je früher wir das erkennen, umso erstaunlicher und reicher wird sich uns das Leben zeigen. Spirituelle Konservenverkäufer Was ist das eigentlich, ein Lehrer – was macht ihn aus? Und wodurch zeichnet sich der Schüler aus? – Ein Lehrer möchte in der Regel etwas weitergeben: Wissen, Überzeugungen oder Erfahrungen. Wenn das, was vom Lehrer zum Schüler transportiert wird, nicht wirklich frisch ist, kommt es aus einer Art geistigen Konservendose. Konserven sind überaus praktisch. Sie werden wieder und wieder als Wahrheit in die Regale der spirituellen Kaufhäuser gestellt. Manche Lehrer beziehen ihre Autorität einzig daraus, dass das, was sie von sich geben, aus alten Quellen stammt! Dabei sind Überlieferungen an sich nichts Schlechtes. Sie sind nicht das Problem. Problematisch wird es, wenn ein Lehrer glaubt, die Wahrheit zu kennen, und sich dabei auf eine Tradition beruft. Das ist so ähnlich wie §1: Der Chef hat immer Recht. §2: Wenn der Chef nicht Recht haben sollte, gilt §1. – Spirituell gesprochen: Alles, was nicht der unmittelbaren Erfahrung des Lehrers entspringt, ist nicht wert, weitergegeben zu werden. Ein spiritueller Lehrer, der seine Schüler Standpunkte und Überzeugungen pauken lässt, könnte vielleicht noch auf Fahrlehrer umschulen. Denn im Straßenverkehr geht es tatsächlich darum, wie ein guter Automat zu funktionieren. Und das, um den Verkehrsfluss aufrecht zu halten und dabei das Unfallrisiko zu minimieren. Hier will und soll sich niemand von der Illusion des Todes befreien. Hier geht es schlicht und ergreifend darum, nicht überfahren zu werden und niemanden zu überfahren. Manchmal kann das Leben so einfach sein … Spirituell lebendig – oder spiritueller Heuchler In lebendigen spirituellen Schulen kann es also nicht um das Widerkäuen auswendig gelernter Inhalte gehen, sondern nur um das direkte Erkennen – was auch immer das sein bzw. heißen mag! Fatalerweise ist es so: Je essentieller das ist, was ein Lehrer zu vermitteln sucht, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit – und damit die Gefahr –, dass es ihn überlebt: Religionen entwickeln sich und mit der Zeit kommen die Traditionen zum Tragen. Wissen, das nur der Form und dem Inhalt nach gelehrt wird, aber nicht von der Wirklichkeit des lebendigen Menschen durchdrungen ist, dient nur den Predigern. Konservative Menschen lehren ein Weltbild, das sich nicht mehr mit der Wirklichkeit des Heute in Übereinstimmung bringen lässt. Edmund Stoiber kann zwar als aufrechter Katholik Papst Benedikt XVI. voller Inbrunst die Hand schütteln – aber dass er Jesus zu Füßen sitzt und ihm mit offenem Herzen und ganzem Wesen zuhört, ist eher als Satirezeichnung vorstellbar … So ist es nun einmal: Moralisten und Traditionalisten fürchten sich seit jeher vor dem Leben. Überall wittern sie Verrat und Sünde. Zu Recht! Denn das Leben selbst ist unberechenbar. Es schert sich weder um unsere Moralvorstellungen, noch um unsere Bilder von der „Wahrheit“. Deshalb sind viele der Predigten und behäbigen Rituale eher etwas für Wachkomapatienten. Genau darauf hat Jesus hingewiesen, als er sagte: „Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Ihr selbst geht nicht hinein; aber ihr lasst auch die nicht hinein, die hineingehen wollen.“ So steht es zumindest im Matthäusevangelium (23, 13.) Der Lehrer braucht den Schüler wie die Mutter das Kind … Wenn wir bereit sind, vom Leben zu lernen, und nicht zu viel darüber nachdenken, ist ziemlich offensichtlich, dass wir uns immer wieder in neuen Rollen vorfinden. Manche spielen wir gerne, andere nicht. Mit manchen identifizieren wir uns „bis aufs Blut“, andere geben wir auf den kleinsten Hinweis hin bereitwillig auf. Überaus entscheidend ist: Mit keiner Rolle sind wir alleine. Keine unserer Rollen funktioniert, wenn sie nicht auch von anderen akzeptiert und bestätigt wird: Ein Orchester braucht ein Auditorium, ein Diktator ein Volk, ohne Bewunderer ist niemand ein Star und eine Frau kann ohne Kind nicht zur Mutter werden. Sie kann die Rolle der Mutter also nur dann überzeugend spielen, wenn sie tatsächlich mindestens ein Kind „hat“. Viele Frauen wünschen sich nichts sehnlicher als das. Ebenso ist das mit dem Lehrer: Er hat ohne die dazu gehörige Schülerschaft einfach keine Funktion. Deshalb ist ein Lehrer überaus glücklich, wenn er auf einen wahren Schüler trifft … Irgendwann wird das Kind seiner Rolle entwachsen und auf eigenen Beinen stehen. Wenn die Mutter keine neue Rolle für sich findet, wird es tragisch. Tragisch ist unser Leben immer dann, wenn wir uns gezwungen fühlen, etwas im Gedächtnis zu behalten, das vorbei ist. Dann sind wir nicht bereit und in der Lage, eine neue und adäquate Rolle zu übernehmen. Dahinter steht immer Angst. Die Angst ist, dass etwas wirklich Neues passieren könnte. Denn neu heißt nicht zwangsläufig gut. Und neu heißt auch nicht schlecht. Neu heißt „noch nicht dagewesen“. Neu heißt jetzt. Neu ist lebendig. Lebendig heißt unbekannt. Es kann jede Menge Angst machen, sich lebendig zu fühlen. An diesem Punkt wird klar: Das Leben ist die spirituelle Schule, in der die Lehrer zusammen mit den Schülern sind! Das Leben ist ein ständig wieder Abschied nehmen und Wachsen Lebendige Menschen dürfen – und müssen – über sich selbst und ihre Lehrer hinaus wachsen. Wenn sie das, was gestern noch akkurat war, nicht hinter sich lassen, werden sie zu leblosen Marionetten und hängen an den Fäden der Vergangenheit. Jemand, der das, was er gelernt hat, auswendig daher beten kann, mag ein wandelndes Lexikon sein. Ein wahrer Schüler ist er jedenfalls nicht. In diesem Geist gibt es keine wahre Schülerschaft. Zum Schüler kann ich erst werden, wenn ich aufhöre, das, was ich selbst weder verstanden noch erkannt habe, nachzuplappern. Zum wahren Schüler werde ich, wenn mir dämmert, dass ich nicht weiß. Vielleicht ist das der einzige Grund, warum ich am Leben bin! Und vielleicht brauche ich einen „persönlichen“ Lehrer oder zumindest einen in menschlicher Form, um genau das zu erkennen. Vielleicht erkennt sich der Lehrer auch in mir. Wie dem auch sei – es geht immer weiter. Nirgendwo steht ein Stoppschild. Nirgendwo ist ein Ende in Sicht. Das Leben selbst ist der Prozess des Loslassens. Nur das Leben hat die Kraft und Möglichkeit, mich immer wieder neu zu machen. Wenn mir das bewusst geworden ist, höre ich auf, mich selbst entwerfen zu wollen. Dann erkenne ich, dass der, der ich zu sein glaube, aus der Erinnerung kommt. Wenn ich mein Leben „wüsste“, wäre es schon vorbei… Es ist ganz einfach so: Wer ich sein werde, weiß ich noch nicht. Wenn ich es schon wüsste, müsste ich es nicht mehr erleben. Dann wäre mein Leben schon vorbei. Jemand, der von sich behauptet, dass er lernen will, und sich darüber beklagt, dass kein geeigneter Lehrer zur Verfügung steht, ist noch nicht wirklich bereit, die Rolle des Schülers anzunehmen. Denn wo ein Schüler ist, muss auch ein Lehrer sein. Das ist ein kosmisches Gesetz. Vielleicht erwartet der Schüler den Lehrer in einem bestimmten Gewand. Vielleicht erwartet er, dass er Weisheit verströmt und erhaben ist. Vielleicht sehnt er sich danach, durch den Lehrer bestimmte Erfahrungen zu machen. Und vielleicht würden ihn genau diese Erfahrungen daran hindern, wirklich in das Mysterium des Lebens einzutauchen. Das Leben erlöst sich selbst … Es gibt Lehrer und Schüler – immer und überall. Das Leben selbst ist der Prozess, der sich weitergibt. Ein Same wird zum Baum, der selbst wieder Samen trägt. Alles hat seine Zeit, oder besser gesagt: Alles zu seiner Zeit! An einem Apfelbaum wachsen keine Birnen und an einem Birnenbaum keine Nüsse. Die Früchte des wahren Wissens sind wahres Verstehen, die Früchte des unwahren Wissens sind Verwirrung. Was aber ist wahr und was ist unwahr? Das für andere zu entscheiden, traut sich nur einer, der ganz sicher nicht versteht! Das Leben ist kein linearer, sondern ein multidimensionaler Prozess. Hier läuft „alles“ gleichzeitig ab. Und weil es gleichzeitig abläuft, scheint es sich so oft zu widersprechen. Wo der eine „ja“ sagt, ist sofort auch jemand, der „nein“ sagt. Was der eine will, will der andere ganz sicher nicht. Die Gleichzeitigkeit der Möglichkeiten ist, was wir als Polarität erfahren. Und wer weiß, vielleicht ist die Polarität nur dazu da, um uns darauf aufmerksam zu machen, dass wir nur an unseren eigenen Widersprüchen leiden. Vielleicht geht es ja gar nicht darum, die unerlösten Seiten zu erlösen. Vielleicht gibt es die unerlöste Seite ja nur, solange ich ein Erlöster sein will. Wenn ich der Erlösung bedarf, brauche ich natürlich auch einen Erlöser. Aber brauche ich den – oder bin ich es selbst…? Abb.1: „Ich habe von Ihnen genauso viel zu lernen wie Sie von mir.“ Jean-Paul Sartre Abb.2: Alles, was nicht der unmittelbaren Erfahrung des Lehrers entspringt, ist nicht wert, weiter gegeben zu werden Abb.3: Was aber ist wahr und was ist unwahr? Das für andere zu entscheiden, traut sich nur einer, der ganz sicher nicht versteht! Abbildungen: shako@netzkunstgenerator.de Buchempfehlung: Daniel Herbst: „Das lebendige Mysterium“, vollständig überarbeitete Neuauflage, ISBN 978-3-8334-1037-6, 13,90 EUR Illustrationen: shako@netzkunstgenerator.de Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar Antwort abbrechenDeine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.KommentarName* E-Mail* Meinen Namen, meine E-Mail-Adresse und meine Website in diesem Browser für die nächste Kommentierung speichern. Überschrift E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.Auch möglich: Abo ohne Kommentar. Durch Deinen Klick auf "SENDEN" bestätigst Du Dein Einverständnis mit unseren aktuellen Kommentarregeln.