Über den Sinn von Noten und Beurteilungen in unserem Schulsystem

 

Mit zehn Jahren wollte ich unbedingt Noten für meine erbrachten Leistungen bekommen. Ich war der Meinung, auf diese Weise besser ermitteln zu können, inwieweit ich den gestellten Anforderungen gerecht werde. In meiner Abhängigkeit von Erwachsenen war ein Fremdurteil von großer Bedeutung für mich.

Mit 17 Jahren betrachte ich das Notensystem kritisch. Es bietet allein Außenmeinungen und -ansprüchen die Möglichkeit, meine Leistung zu beurteilen. Nur ein Fremdurteil steht auf Zertifikaten, welche für Universitäten und Arbeitgeber von Interesse sind. Entscheidend ist allein, inwieweit Schüler einem Fremdanspruch genügen. Mein Eigenanspruch findet keinerlei Erwähnung auf einem Zeugnis und scheint aufgrund mangelhaft entgegengebrachter Wertschätzung und Nachfrage schlecht im Kurs zu stehen. Letztlich wird somit eine Selbstentfremdung beschleunigt. Und genau hierin liegt das Potenzial der Notengebung als entindividualisierendes Instrument. Um mündige Bürger zu werden, müssten wir in unserer Fähigkeit zur Selbstbeurteilung bestärkt werden und nicht noch im Alter von knapp 20 Jahren dazu gezwungen sein, uns nur von Fremdbildern zu nähren. Um mündige Bürger zu sein, müssen wir bewusst ein Selbstbild von uns kreieren, welches mehr als die Summe der Fremdurteile ist. Im Notensystem hingegen bleiben wir unselbständige Säuglinge, die fremd- statt selbstbestimmt sind. Aussagen wie „Ich hätte vor der Klausur in den Hefter schauen sollen, um eine bessere Note zu bekommen“ zeugen nicht von kritischer Auseinandersetzung mit sich selbst, sondern sind vielmehr ein Zeichen für unsere Unfähigkeit zur Selbstreflexion. Denn auf die Perspektive kommt es an: Strebe ich danach, bestimmten Maßstäben, die von außen gesetzt werden, zu genügen, oder gebe ich mein Bestmögliches und beurteile meine erbrachte Leistung hinsichtlich meines Potenzials?

 

Notwendige Selbstreflexion

Ohne Selbstreflexion können wir weder eine Haltung zum Ist-Zustand noch eine Vorstellung vom Soll-Zustand entwickeln. Wie soll ein Mensch äußere Umstände reflektieren, wenn er nicht sich selbst reflektiert? Und wie soll ohne Reflexion des Vergangenen und der Gegenwart eine aktive Gestaltung der Gegenwart und Zukunft möglich sein? Am implantierten Infantilismus, unserer geförderten Unmündigkeit, muss ein Fremdinteresse derer bestehen, die den Ist-Zustand unverändert wissen wollen. Und deren Ziel ist es, uns zu abhängigen Immerkindern zu erziehen, deren Selbstbild ein einverleibtes Fremdbild darstellt. Anstatt uns „Wurzeln und Flügel“ zum sicheren Abheben zu geben, wie Goethe bereits forderte, stutzt man unsere Schwingen.

Aber letztlich legen wir uns selbst in Fesseln, indem wir dies mit uns tun lassen.
Sich selbst vollkommen dem Fremdurteil zu überlassen und das Eigenurteil zu unterlassen gleicht einer Selbstaufgabe. Herzlich willkommen im Niemandsland! Weg frei für all das, was mit uns getan wird, und einen Freibrief für all diejenigen, die es mit uns tun.

Der Knackpunkt ist vielleicht zunächst nicht das Notensystem an sich, sondern unser Umgang damit. Und wir entscheiden jeden Tag aufs Neue, ob wir unser Eigenurteil unterlassen. Diese Möglichkeit können wir uns auch im leistungsorientiertem System nur ganz allein nehmen. Das ist unsere Freiheit und gleichzeitig unsere Verantwortung.


Abb: © Malena und Philipp K – Fotolia.com

Über den Autor

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ist 18 Jahre, Schülerin des John-Lennon-Gymnasiums und Chefredakteurin der dortigen Schülerzeitung „Penny Lane“. „Nach dem Abitur möchte ich zunächst für ein Jahr nach Lateinamerika gehen und dort im Rahmen eines Freiwilligendienstes mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Neben der Sprache ist vor allem die Musik mein Medium, um mich auszudrücken: Ich spiele Gitarre und Klavier, singe im Chor, komponiere und nehme eigene Musikstücke auf. Am lebendigsten fühle ich mich beim Musizieren und Musik-Hören, Lesen eines sozialwissenschaftlichen Buches, Kochabenden mit Familie oder Freunden und Tee-Gesprächen über die Welt, wie sie ist und vor allem, wie sie werden soll. Ich träume von einer bindungsorientierten Gemeinschaft anstelle einer zweckorientierten Gesellschaft und versuche diesen Traum in Trippelschritten zu verwirklichen. Und ich wünsche mir, nicht alleine zu trippeln – vielleicht ist dies meine Motivation, zu schreiben.“

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Eine Antwort

  1. kornelia

    Danke für den guten Text . Es kommt auch darauf an wieviel Selbstvertrauen , man mit auf den Weg bekommt bzw . wie man von den Eltern gefördert oder aber blokiert wird . Wer als Kind jahrelang nur hört “ das kannst du nicht , dazu bist du noch zu klein , du machst nur alles kaputt, „usw. der wird mit 18 noch nicht die nötige Selbstreflektion entwickelt haben , wer dagegen ermuntert wird etwas zu wagen , wer darin unterstützt wird selbstständig zu werden , der ist dies dann natürlich auch schneller .
    -eigentlich meine ich einfach : das PRIVATE Umfeld – beeinflusst alles sehr stark !
    LG Kornelia

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