Über Selbsterkenntnis und Anhaftung

Die Drehungen und Wendungen des Lebens, die großen und kleinen Entscheidungen, die Abschiede, Erfolge und Fehlschläge – all das war für mich oft schwer zu verstehen. Warum passierten Dinge so anders, als ich es mir wünschte? Warum waren manche Entscheidungen so schwer zu treffen? Irgendwann auf diesem Weg verstand ich, dass, wenn immer mir schwindlig wurde, wenn sich ein Gefühl von Verwirrtheit, Ratlosigkeit und Verlorenheit einstelle, ich den Blick für die Essenz verloren hatte.

Was kann ich lernen?

Der erste große Schritt für mich war zu erkennen, dass es im Leben niemals um die Ergebnisse geht, sondern immer nur um den Prozess. Nicht, was am Ende herauskommt, zählt, sondern das, was ich auf dem Weg dahin über mich selbst herausfinden kann. Das sagt sich leicht – wie oft hat man schon gehört, der Weg sei das Ziel. Aber unser Verstand entwickelt leicht Anhaftungen an ein bestimmtes Ergebnis, macht sich Vorstellungen davon, was als Nächstes geschehen sollte und versucht das Leben auf eine bestimmte Weise zu formen.

Kann ich wirklich offen leben? Es dem natürlichen Fluss erlauben, genau das in meinem Leben geschehen zu lassen, was mich lehrt und nährt? Kann ich jede Anhaftung und Vorliebe an ein bestimmtes Ergebnis aufgeben? Alle Versuche zu kontrollieren, was geschieht? Kann ich stattdessen nach der Wahrheit in jedem Augenblick suchen, hinabspüren bis zur Essenz, die darin verborgen liegt? Kann ich die Projektion meiner Wünsche aus der Welt zurücknehmen und sie in mir selbst erblühen lassen?

Kann ich mit Gleichmut in Licht und Schatten meines Lebens treten? Kann ich das Leben als einen Spiegel erkennen, der mir etwas zeigen will? Kann ich hineinblicken, ohne zu wollen, dass er mir etwas Bestimmtes zeigt, irgendetwas anderes, als die Wahrheit? Kann ich hineinblicken, mit nur einer einzigen Frage: Was zeigst du mir?

Die Essenz finden

Wann immer ein Wunsch oder eine Anhaftung an das äußere Geschehen auftaucht, versuche ich heute, die Essenz zu finden: Was suche ich da? Was ist die Essenz? Kann ich diese Essenz jetzt spüren in mir? Kann ich mir vorstellen, wie das ist, wie ich mich fühlen möchte?

Um es plastischer zu machen ein Beispiel: Es gab in mir den Wunsch, in ein Wohnmobil zu ziehen. Ich wollte reisen, von unterwegs arbeiten, in der Natur sein. Schnell tauchten von mehreren Seiten perfekte Wohnmobile auf, ich verbrachte Nächte mit der Planung der Solaranlage, aber nach einer Woche riet meine Intuition riet mir, es nicht zu kaufen. Dann tauchte der Wunsch nach einem Wochenendhaus auf, draußen vor den Toren der Stadt. Singen am Lagerfeuer, spielen mit meiner Tochter. Schnell manifestierte sich ein unglaublicher Garten – mit einem großen Haus, in dem ich sogar hätte leben können, Feuerholz für 7 Jahre, einem eigenen Brunnen, Gemüsebeete fertig angelegt, eine große Werkstatt für Holzarbeiten, nahe einem Badesee. Perfekt und zu einem unglaublichen Preis. Wieder riet mir meine Intuition, ihn nicht zu kaufen. Es tauchte der Wunsch nach Urlaub auf. Ich buchte 8 Wochen Indien. Strand, Berge, unterwegs sein. Wieder riet mir die Intuition, nicht zu fahren.

Jede einzelne Entscheidung war schwer. Und ich verstand überhaupt nichts mehr. Die Wünsche waren wahr, ich konnte es spüren. Sie manifestierten sich augenblicklich und mühelos, und dennoch riet mein Herz mir jedes Mal ab. Verwirrung setzte ein, und ich erkannte: Ich hatte den Blick für die Essenz verloren. Plötzlich war da ein klares sehen: Alle diese Dinge hatten dieselbe Essenz, ein ganz bestimmtes Gefühl, das schwer zu beschreiben ist. Eine Mischung aus Freiheit, Offenheit, Klarheit, Raum, Ungebundenheit, Weite und vielen anderen Dingen. Ich konnte es in mir fühlen, ganz deutlich, genau jetzt. Und ich fühlte, wie mein Energiepegel sofort stieg, wie ich genährt wurde von diesem Gefühl in mir.

 

Das Außen loslassen

Das ganze äußere Wünschen und Ringen war nur ein Ausdruck der Sehnsucht nach dieser Essenz und der Versuch, sie durch äußere Umstände zu erlangen. Es ist leicht, auf der äußeren Ebene des Dramas verloren zu gehen. Denn der Wunsch ist absolut authentisch, aber er dreht sich eben nicht wirklich um etwas „dort draußen“, sondern um eine innere Essenz. Wenn ich das vergesse, gehe ich leicht im Äußeren verloren. Sobald ich jedoch Kontakt mit der Essenz hatte, war klar: Der ganze Prozess diente einzig und allein der Erkenntnis dieser Essenz. Ob ich nun das Wohnmobil, den Garten oder die Reise bekam oder nicht – die äußeren Ergebnisse – war völlig irrelevant.

Ich sehe das Leben als einen Spiegel, in dem sich nur das zeigen kann, was ich in mir schon verwirklicht habe. Die Qualität von Freiheit und Offenheit kann für mich daher ohnehin nur dann Wirklichkeit in meinem äußeren Leben werden, wenn ich diese Qualität oder Essenz in mir selbst erforscht und verwirklicht habe. Vielleicht erinnert mich das Leben manchmal an eine Essenz, indem es mir diese kurz spiegelt. Aber solange ich versuche, sie von außen zu bekommen, wird dies immer zu den Schmerzen führen, die mit jeder Form von Anhaftung einhergehen. Wohl die meisten dürften dies in der romantischen Liebe zur Genüge erlebt haben.

Der Wunsch nach mir selbst

Die Sache hat noch einen tieferen Aspekt: Was wäre, wenn jeder Wunsch von mir eigentlich ein Wunsch nach mir selbst ist? Dann wäre, was immer ich ersehne und begehre, eigentlich eine Essenz meines eigenen Wesens. Und ich wünsche sie genau aus diesem Grund. Ich bin so stark in Resonanz damit, weil ich selbst auf der tiefsten Ebene das Gewünschte bin.

Es ginge dann nicht darum, das Gewünschte aus der Welt heraus zu bekommen, sondern ganz umgekehrt darum, genau dies in die Welt hinein zu bringen. Mein Leben enthüllt mir durch meine Wünsche immer mehr von meinem eigenen Wesen, innere Qualitäten, die ich eingeladen bin zu verwirklichen und sein.

Habe ich eine Essenz einmal gefunden, ist sie wie ein Funken, eine kleine Flamme. Es liegt an mir, sie zu nähren, lebendig zu halten, sie sich in mir ausbreiten zu lassen und sie dann durch meinen Körper, meinen Geist und meine Energie in der Welt auszudrücken. Mein Leben, der äußere Spiegel wird diese Qualität dann zu mir zurückreflektieren – mühelos, ohne irgendeinen Versuch, es formen oder manifestieren zu müssen.

 

Beobachten und Sein

Was wäre, wenn das stimmt? Könnte ich die Besessenheit mit dem äußeren Drama aufgeben? Kann ich es loslassen und öffnen, damit aufhören, es formen zu wollen? Kann ich dem Leben Freiheit geben? Kann ich mich in jeden Moment betten, wie auf ein Sterbebett, alles loslassen, weil ich weiß, dass es nicht mit mir gehen kann. Weil ich weiß, dass nur das mit mir gehen wird, was ich in mir selbst verwirklicht habe. Dass dieses Leben einzig und allein diesen einen Zweck hat: Mir zu Selbstverwirklichung zu verhelfen.

Kann ich ein Beobachter und Erforscher werden, mitten im Leben, es innig berührend, aber nicht festhaltend? In jedem Moment die Wahrheit des Augenblicks erforschend, die Wahrheit über meine Gefühle, meinen Körper, meinen Geist und mein Wesen. Kann ich einen Ort der Stille und Leere in mir offenhalten, aus dem der Moment in Freiheit geboren werden kann? Kann ich durch die Hüllen, Fäden und Schichten des äußeren Dramas hindurchsinken, bis auf den Grund, bis in den Kern, bis zur Essenz? Kann ich loslassen von dem Glauben zu wissen, wie der nächste Moment sein sollte? Kann ich loslassen von meinem Fokus auf tun und erreichen und stattdessen mehr fühlen und sein?

 

Von der Hülle zur Essenz

Es kann helfen, auch im täglichen Leben nach Essenzen und Qualitäten zu schauen, nach dem tiefstmöglichen Wesen der Dinge. Eine Essenz ist immer unbeschreiblich, sie wird fühlend erkannt. Wasser zum Beispiel hat eine ganz eigene, unbeschreibliche Essenz. Kann ich beim Baden fühlen, was Wasser wirklich ist, in seiner Essenz, was sein Wesen ist, seine Qualität? Es ist mehr als flüssig oder nass beschreiben könnten. Es ist ein ganzes Universum und doch etwas ganz Bestimmtes, fast Lebendiges. Wie leicht ist es, darüber hinwegzufühlen.

Wir können so viel tiefer leben als das.

 

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Über den Autor

Avatar of David Rotter

schreibt für Sein.de und seinen eigenen Blog den-weg-gehen.de. Er wohnt mit seiner Partnerin und seinen zwei Töchtern im Wendland und arbeitet als freier Autor und Coach.

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4 Responses

  1. Olaf Hansen

    Hallo David,

    vielen Dank für Deinen Text, in dem ich für meinen persönlichen Blickwinkel viel Übereinstimmung finde. Auch die Wünsche kenne ich sehr ähnlich, war nur noch nicht so nahe an der Verwirklichung dran – bis jetzt. Anderes zeigte sich spontan und überraschend, konnte sich aber im Außen auch (noch) nicht manifestieren, brachte mich aber auf den Kern einer Sache, die im Innern viel bewegt und erweitert, vielleicht sogar erlöst hat. Darin erahne ich die „Essenz“, das „Ding an sich“…
    Vielleicht ist mancher Wunsch einfach „nur“ Wegweiser. Entweder erfüllt er sich zu gegebener Zeit oder die innere Erfüllung macht ihn inzwischen überflüssig.

    Erfülltes Erleben
    wünscht Dir weiterhin

    Olaf

    Antworten
  2. David (Autor)

    Hallo Wellenbeobachter,

    ich fürchte, wir haben so unterschiedliche Aufassungen über das Leben und die Realität, dass sie sich kaum berühren. Ich kann gut verstehen, dass dir eine Sicht, wie sie im Artikel dargelegt ist, als reine Phantasievorstellung erscheint – das geht wohl den meisten Menschen so.

    Ich schreibe hier aus dem unmittelbaren Erleben einer inneren Wirklichkeit, die für dich eine Illusion sein mag, aber für mich (und andere Menschen) sehr real ist (oder erscheint ;-)). Wie du richtig bemerkst, ist all dies als „subjektives Erleben“ kaum zu beweisen oder zu definieren. Das war auch nicht meine Absicht.

    Ich kann verstehen, wenn dies wie „Realitätsvermeidung“ und „Aberglaube“ erscheint. Leider – und ich weiß das ist unbefriedigend für einen rationalen Menschen – machen Diskussionen hier wenig Sinn. Das erscheint wahrscheinlich wiederum wie die Ausflucht eines „religiösen Fanatikers“, allein, es führt meiner Erfahrung nach einfach nirgendwo hin.

    Es gibt bei mir keine Notwendigkeit irgendwen von irgendwas zu überzeugen – das ist ein Unterschied zwischen Glauben und Mystik. Ich schildere nur mein Erleben: Ich weiß, dass der ein oder andere Leser es teilt, der andere nicht.

    Ich schätze deine vielen konstruktiven Kommentare auf Sein.de, aber möchte hier nicht in eine unfruchtbare Diskussion einsteigen.

    Danke für deine Sichtweise
    David

    Antworten
  3. WellenbeobachterHH

    Mit dem Begriff der „Essenz“ wird da versucht was darzustellen, was sich einer genauen Definition scheinbar entzieht, oder?

    Im Grunde scheint diese „Essenz“ nur ein Bestandteil der subjektiven Wahrnehmung zu sein, so nach dem Motto – wenn alle Erklärungen versagen, muss da in mir selbst „Etwas“ sein, was alles erklärt – eben die „Essenz“ – von was auch immer. Früher nannten/interpretierten das auch „Gott“ und hofften auf Erlösung durch diese Vorstellung.

    Das ähnelt doch sehr dem Verständnis der Stoiker. Das Glück liege in jedem selbst. Man müsse es nur finden. Man könne mit den Dingen und Erlebnissen „anders umgehen“, um sein Glück zu finden…

    Mag ja sein, dass wenn ein Sklave im alten Rom sich mit seinem „Schicksal“ innerlich abgefunden und damit irgendwie arrangiert hat, dass er selbst diese Tragik seines Lebens im Sinne dieser inneren „Essenz“ als Glücksgefühl „umsinniert“, also seine Wahrnehmung ändert. Das ändert aber nicht daran, dass er objektiv ein Sklave bleibt, rechtlos und Besitzstand seines Herrn.

    „Es rettet uns kein höh’res Wesen,
    kein Gott, kein Kaiser noch Tribun
    Uns aus dem Elend zu erlösen
    können wir nur selber tun!“

    (Emil Luckhart, 1910, aus dem Text des Liedes „Die Internationale“)

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