Oft vermeiden wir wirklichen ­Kontakt zu einem anderen ­Menschen, indem wir ihn und sein Verhalten mit einer Vorstellung ­unseres Verstandes vergleichen. Wir sehen, was er „falsch“ macht und wie er sich ändern sollte – und ­befinden uns mit der Realität im Krieg. Vanessa Bähr zeigt, wie wir durch Verstehen unserer Muster und den Zugang zu den Gefühlen hinter unseren Schuldzuweisungen wieder mit dem Hier und Jetzt in einen lebendigen Kontakt kommen: Von der Schuldzuweisung zum Gefühl.

„Wenn dein Vater und ich uns nicht so früh getrennt hätten, dann hätte ich auch meine Träume verwirklichen können. Aber so, als alleinerziehende Mutter von zwei Kindern! Ich würde auch gerne so frei leben wie du, aber dafür bin ich jetzt zu alt…“ „Aber Mama, du bist gerade erst 50 geworden!?“ „Ja, aber jetzt habe ich ja den Laden geerbt und so viel Arbeit, dass ich nicht weiß, wo mir der Kopf steht. Da kann ich nichts machen!“ „Komm doch einfach mal mit zu einer Veranstaltung!“ „Der Zug ist jetzt abgefahren. Damit hätte ich früher anfangen müssen. Heute werde ich mich auch nicht mehr verändern.“

Lange Zeit habe ich meine Mutter dafür verurteilt, dass sie sich hinter diesen Schuldzuweisungen versteckt. „Lebe doch dein Leben! Und beschwere dich nicht nur!“, dachte ich und wähnte mich im Recht. Doch als wir uns immer öfter im selben Thema wiederfanden und ich von Mal zu Mal ungeduldiger wurde, merkte ich, dass ich sie ebenso beschuldigte, wie sie die Schuld den Umständen gab. Na super, dachte ich, voll in die Falle getappt.

Es ist so verführerisch, mit Ablehnung zu reagieren, wenn jemand etwas tut, das einem nicht gefällt. Doch die gegenseitige Beschuldigung erzeugt Rechtfertigung, Streit und Missverständnis. Das Kennzeichen von Schuld und Beschuldigung ist offensichtlich, gegen das zu sein, was einem begegnet. Oftmals tritt diese ­Abwehr auf, ohne dass man eigentlich weiß, was man lieber hätte, ähnlich ­einem Abwehrreflex. Doch das Inne­halten in diesem Moment kann das Tor sein zu tiefem und authentischem Kontakt mit dem Leben und den Menschen um uns herum …

Der Gedanke hinter der Schuld – ein Absolutheitsanspruch

Das Gefühl von Schuld oder Beschuldigung basiert auf der Vorstellung, dass etwas absolut falsch ist und etwas anderes absolut richtig wäre – ein allgemeingültig definierter Anspruch, geltend jederzeit und für jeden. Zum Beispiel: „Es ist falsch, dass wir uns damals getrennt haben. DAS HÄTTE NICHT PASSIEREN DÜRFEN! Es ist einfach falsch, wenn sich Eltern trennen und wenn die Träume deshalb platzen!“ Mit dieser Verleugnung wird die Situation eingefroren, die damit zusammenhängenden Gefühle werden nicht gefühlt – eine scheinbare Erleichterung, doch ebenso ein Fluch. Denn mit dem Vermeiden des Fühlens schneiden wir uns von der Möglichkeit ab, einen Umgang mit dem Geschehenen zu finden, der uns lebendig sein lässt.

Einen Absolutheitsanspruch zu haben, heißt, auf etwas zu beharren, das nicht da ist, und gleichzeitig dem, was ist, die Existenzberechtigung zu entziehen. Dies führt zu der Konsequenz, die ­Umstände im Leben, die nicht den Ansprüchen entsprechen, zu bekämpfen bzw. ihnen die Schuld zu geben an der eigenen Unzufriedenheit.

Gefühle als Schlüssel zu den ­Bedürfnissen

Jegliches emotionales Leid – gestaute Gefühle, die ihre Kraft nicht entfalten können – entsteht durch eben diese Ablehnung. Doch diese ungeliebten Empfindungen sind ebenso das Eingangstor dazu, die eiskalte Abgrenzung schmelzen zu lassen – wenn wir sie wieder fühlen. Beginne ich ja zu sagen zu meinen Gefühlen, so heißt das auch, die Situation anzuerkennen. Das bedeutet nicht, sie gutzuheißen oder klein beizugeben, sondern sich mit all den Bewegungen, die die Gefühle vorschlagen, darauf zu beziehen. Vielleicht werde ich wütend und habe einen klaren Impuls, etwas zu verändern, oder ich trauere um die verlorene Chance. Vielleicht fühle ich Angst und lasse mich wach machen für das, was kommen mag, oder ich gelange zu einer Freude, einer Wertschätzung dessen, was ist. Oder es ist die Scham, die mir den Rücken runterrieselt, wodurch ich mich selbst spüren kann.

Die Gefühle Wut, Trauer, Angst, Freude und Scham liegen unter den meisten Empfindungen und stehen archetypisch für verschiedene Qualitäten. Sie können – wenn wir sie zulassen und fühlen – Kräfte entfalten, die uns die Möglichkeit geben, uns in unserer ganzen Lebendigkeit auf das zu beziehen, was ist, und damit unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Gehe ich für mein Bedürfnis, so werde ich ein Gefühl in seiner Kraft erzeugen. Wähle ich jedoch, das abzulehnen, was mir begegnet, so erzeuge ich den jeweiligen Schatten des Gefühls, der dazu da ist, gegen etwas vorzugehen, und damit die immanente Kraft blockiert.

Wie die einzelnen Gefühle uns ­Klarheit geben

Wie diese Kraft der verschiedenen Gefühle aussehen könnte, möchte ich anhand der oben beschriebenen Situation einmal beispielhaft darstellen. Ich sitze also meiner Mutter gegenüber und…

… die Wut sagt: „Das ist falsch für mich“: Sie macht mich wach und gespannt, ich bin bereit aufzuspringen und zu tun, was möglich ist. Ich könnte laut rufen „NEIN! Das ist falsch!“ und bin gleichzeitig bewegt von der Kraft meiner Inspiration für das, was ich mir wünsche. Ich springe auf und sage zu meiner Mutter: „Komm einfach mit!“

… die Trauer sagt: „Das ist schade“: Ich fühle sie wieder, diese bodenlose Tiefe. Das ist so schade! Wieso kann sie nicht anders sein? Nein, sie kann es nicht. Oder möchte nicht. So ist es einfach. Ich kann es nicht ändern. Meine Hoffnungen und Bilder, die Trauer spült sie weg, weil ich sie nicht mehr brauchen kann. Ich lasse meinen Anspruch los…

… die Angst sagt: „Das ist furchtbar“: Aber wie soll es dann weitergehen? Ich kann nichts tun und nun habe ich losgelassen, was ich mir immer gewünscht habe, nämlich, dass meine Mutter mich versteht und mir ein Vorbild ist. Was wird nun aus unserer Beziehung? Die Angst führt mich in einen leeren Raum, alles ist dunkel und ich weiß nicht, was als Nächstes passieren wird. Es gruselt mich, es ist furchtbar, weil ich keine Kontrolle mehr habe. Doch ich bin wach und gespannt, bereit, dem zu begegnen, was entstehen wird.

… die Scham fragt: „Bin ich falsch?“: Einen Moment schäme ich mich, so anders zu sein. Wie bin ich eigentlich dazu gekommen? Ich frage mich, ob ich etwas falsch gemacht habe, doch das Schamgefühl rieselt durch mich hindurch und gibt mir das schlichte Gefühl davon, wie ich bin. Es macht mir die Einzigartigkeit meiner Situation bewusst. Zu fühlen, dass es meinen Werten entspricht, wie ich bin, macht mich ruhig und gelassen und lässt mich erkennen, was ich zu geben habe.

… die Freude sagt: „Das ist richtig für mich“: Im Grunde kann ich mich auch darüber freuen. Ja, so ist es! Ich kann mit meiner Mutter über das sprechen, was uns bewegt, und sie sagt, wie sie sich fühlt. Das ist sie, wie sie leibt und lebt, das ist ihr Traum. Was sonst? Dies ist genau das, was wir uns kreiert haben, und wir sind da, um das zu teilen. Es ist schön, einfach aus ganzem Herzen „Ja“ zu sagen.

Schuldzuweisung: Der Schatten

Je nachdem, wie wir uns ausrichten im Fühlen – ob wir die Situation und die innere Reaktion annehmen oder beides ablehnen –, können uns die Gefühlskräfte unterstützen oder wir erzeugen den jeweiligen Schatten des Gefühls:

Nicht gefühlte Wut wird zerstörerisch: „Das ist doch einfach dumm, jetzt sieht sie schon, was sie will, und tut es nicht! Da hab ich jetzt auch keine Lust mehr drauf!“

Nicht gefühlte Trauer führt zu Passivität: „Oh Mann, ich habe mir immer so gewünscht, dass sie mir ein Vorbild ist und dass ich stolz sein kann auf sie. Statt dessen verweigert sie sich und ich kann überhaupt nichts tun.“

Nicht gefühlte Angst lähmt: „Oje, wo bin ich hier nur gelandet? Muss sie schon wieder damit anfangen? Das ist mir zu viel, mit ihren Problemen konfrontiert zu werden! Ich bin schließlich die Tochter!“

Nicht gefühlte Scham wird zu Selbstzerfleischung: „Ich bin so anders als die ganze Familie und niemand kann etwas damit anfangen. Sie akzeptieren mich einfach nicht. Bin ich denn so falsch?“

Nicht gefühlte Freude wird illusionär: „Na ja, wenn sie nicht will, ist das auch ok. Dann gehe ich halt alleine.“

Der Weg: Die Begegnung mit dem Leben

Offensichtlich steckt hinter diesen Annahmen ein Absolutheitsanspruch: „Ich kann meine Mutter so nicht akzeptieren. Sie muss einfach anders sein.“ Wird einem einmal klar, welch harte Aussagen hinter einer Schuldzuweisung stecken, so kommt es einem fast absurd vor, daran jemals geglaubt zu haben. Doch wenn man es bemerkt, kann man jederzeit aussteigen und zu sich finden, indem man…

… Gefühle überhaupt erst einmal zulässt: Sich den eigenen Gefühlen und Empfindungen zuzuwenden ist der entscheidende Schritt des Perspektivwechsels. Hiermit erkenne ich die Situation an und beginne mich im Jetzt darauf zu beziehen. Egal, ob ein spontanes Gefühl zu einer Handlung beitragen möchte oder eine alte Emotion hochkommt – beide wollen gefühlt werden.

… absolute Ansprüche erkennt: Sobald unangenehme Empfindungen wie Unzufriedenheit, Genervtsein, Selbstzweifel oder Aggressivität auftauchen, liegt dahinter wahrscheinlich ein absoluter Anspruch an sich selbst oder die Welt, der den Kontakt blockiert. Manch einer kommt durch das Erkennen des Absolutheitsanspruches ins Fühlen, andere fühlen erst, was ist, und erkennen hinterher, was darunter gelegen hat.

… wirklich fühlt: Der Schlüssel zur Kraft ist das Fühlen selbst. Das Fühlen ist ein Vorgang, der im Moment stattfindet – losgelöst von allen Gedanken – und im Körper spürbar ist: als Kribbeln oder Pulsieren, als Öffnung oder Zusammenziehen, Wärme oder Kälte. Die Kunst besteht darin, das Gefühl weder rauszulassen noch zu unterdrücken, sondern vielmehr ein Gefäß zu sein, durch das es fließen darf.

Im Konflikt mit meiner Mutter begann ich endlich. weich zu werden, und war irgendwann so weit, ihr zuzuhören. Je mehr ich meine Ansprüche losließ, desto mehr sah ich den lebendigen Menschen und war bereit, in Beziehung zu treten. Heute erfüllen sich meine Bedürfnisse nach Heimat, Wertschätzung, Kontakt und gegenseitiger Unterstützung durch den Kontakt an sich.


22.-27. Mai 2015 im ZEGG in Bad Belzig bei Berlin:
Pfingstfestival ­„Gefühle als Kraft“.

Eine inhaltliche Säule dafür ist das Buch von Vivian ­Dittmar, „Gefühle und Emotionen – eine Gebrauchs­anweisung“, in dem oben stehende Erkenntnisse vertieft werden. Neben Vivian Dittmar werden auch Chiara J. Greber, Christian Felber und viele weitere Workshop­leiter das Festival gestalten.

Mehr Infos unter www.pfingsten.zegg.de

Eine Antwort

  1. Angeloi
    Danke

    Lieben Dank Vanessa für deinen Artikel, ich werde ihn noch ein paar mal lesen, weil so viel wichtiges für mich darin steht. Erst gestern habe ich mich wieder einmal im Streit von meiner Mutter getrennt. Dein Artikel rüttelt mich wach.
    Er passt auf meine eigene Situation einfach erschreckend genau drauf.

    Herzlichen Dank 🙂

    Antworten

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*