Es begann in Ägypten und Tunesien, breitete sich aus über Spanien und Israel und ist nun in den USA angekommen: Menschen allen Alters und aus allen Bevölkerungsschichten besetzen öffentliche Plätze, um ihre Forderungen nach einer anderen Gesellschaft und Welt hör- und sichtbar zu machen. Die Bewegung wächst und könnte schon bald historische Ausmaße annehmen.

Die Bewegung der Vielen

Die Bewegung, wie sie sich in Spanien und den USA zeigt, ist deshalb für viele Menschen so inspirierend, weil sie außer dem politischen Protest noch eine andere Energie transportiert, die man so schon lange nicht mehr von einer gesellschaftlichen Bewegung erlebt hat. Hat sie begonnen als Kritik an Profit- und Machtgier in Politik und Wirtschaft, ist es längst mehr als das geworden.

Denn ein festes politisches Programm gibt es nicht. Der Protest ist getragen von einem undogmatischen Bekenntnis zur Vielfältigkeit, das Raum gibt für eine Vielzahl von Forderungen und Sichtweisen. Sie vereint und bündelt ganz unterschiedliche Bewegungen und Strömungen, sie hat keine Anführer, sondern setzt auf Basisdemokratische Entscheidungen. Sie betont und achtet den Wert jeder einzelnen Stimme im Ganzen eines kollektiven Chors, der den Wunsch nach einer gerechteren, friedlicheren und menschlicheren Welt hörbar macht.

Sie ist friedfertig, pluralistisch, kreativ und herzlich. Vor allem aber handeln diese Menschen nicht für eine Ideologie, sondern für eine Vision. Die Interviews mit Teilnehmern, die nun zahlreich auf youtube erscheinen, strahlen größtenteils Authentizität, Freude und Kreativität aus. Es gibt gemeinsame Protestmärsche, Workshops, Mediationen, Kunst, Musik und Versammlungen, auf denen jeder seine Forderungen, seine persönliche Vision und Meinung allen anderen kundtun kann.

 

Occupy Wallstreet – das Volksmikrophon

An der Wallstreet begann es mit ein paar hundert Leuten, 150, vielleicht 500, die einem Internet-Aufruf folgten und begannen, auf einem Platz nahe der Wallstreet zu campieren. Am letzten Mittwoch waren es nun allein dort laut Augenzeugen 30.000 Menschen. Und die Bewegung breitet sich im ganzen Land aus, man vernetzt sich mit den Protesten in Spanien, wo sich mittlerweile über 100.000 Menschen an den Aktionen beteiligen. Bewegungen und Menschen auf der ganzen Welt solidarisieren sich. Alles wird live im Internet übertragen.

Schon die Art der Versammlungen ist ein schönes Symbol für die Bewegung: Weil die Polizei den Einsatz von Megafonen und Lautsprechern untersagt hat, machen die Teilnehmer sich eben per „Volksmikrofon“ bemerkbar. Eine Person tritt in einen zentralen Kreis und beginnt zu sprechen, jeder Satz wird dann gemeinsam laut von den Umstehenden wiederholt und so nach außen getragen und auch für jene hörbar, die weiter weg stehen. So wird jede Aussage auch von allen mit getragen und geäußert.

Es wird sichtbar

Vielleicht macht diese Bewegung nun zum ersten Mal wirklich sichtbar, was ich vor einem Jahr in meinem Artikel „Der große Wandel: Die größte Bewegung aller Zeiten“ beschrieben habe: Dass die vielen einzelnen Bewegungen nun langsam zusammenfinden und die vielen unterschiedlichen Ziele gemeinsam getragen werden. Dass nicht mehr die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten betont werden. Dass es keine zentrale Kontrolle mehr gibt, sondern einen spontanen gemeinsamen Aufbruch. Eine Sprecherin auf der Versammlung am Donnerstag fasste es so zusammen: „Dieses Mal werden sich unsere Bewegungen nicht mehr von ihren Zielen ablenken lassen. Dieses Mal werden wir nicht zulassen, dass unsere Bewegungen gespalten und getrennt werden. Dieses Mal nicht.“

Auch Paul Hawken sah dies schon vor einiger Zeit und beschrieb es in seiner inspirierenden Präsentation auf der Bioneers-Konferenz wie folgt:

„Diese Bewegung ist die vielfältigste Bewegung, welche die Welt je gesehen hat. Das Wort Bewegung, denke ich, ist zu klein, um es zu beschreiben. Keiner hat diese Weltsicht begonnen, niemand kontrolliert sie, es gibt keine Orthodoxie, sie ist global, klassenlos, unzerstörbar und unermüdlich. Das gemeinsame Verständnis taucht spontan auf […] Sie wächst und verbreitet sich weltweit, ohne Ausnahme […] Wir wissen nicht, wie groß diese Bewegung ist. […] Sie ist überall, es gibt kein Zentrum, es gibt keinen Sprecher. Sie ist in jedem Land und in jeder Stadt auf der Erde. Dies ist das erste Mal auf der Erde, das eine machtvolle nicht-ideologische Bewegung entstanden ist.“

Hawken spricht hier wohlbemerkt natürlich nicht über Occupy Wallstreet – sondern über den globalen Wandel. Aber was gerade entsteht, könnte einen Samen pflanzen, der diese Entwicklung in der ganzen Welt sichtbar macht.

Für die gemeinsame Vision

Die Energie unterscheidet sich wohltuend von den linken Protesten, die oft genug von einem „dagegen“ von Wut und Ideologie getragen sind. Auch wenn dies natürlich einen für einen Teil der Menschen zutreffen könnte, ist das Gesamtbild ein anderes. Die Menschen sind so unterschiedlich, wie sie nur sein können – und die Aktionen sind es auch. Hier werden in Workshops inhaltliche Dinge vertieft, dort gibt es Gruppenmeditationen, dort sorgen Musiker für eine ausgelassene Stimmung, da werden Kostüme und Plakate gemalt. Die Menschen scheinen größtenteils ganz angenehm gewöhnlich, darunter linke Aktivisten und Hippies gleichermaßen.

Was diese Energie ausmacht, vermochte vielleicht Deepak Chopra in seiner einfachen Rede auf einer der letzten Versammlungen gut einzufangen:

„Ich möchte mit euch eine zweiminütige Meditation machen. Vielleicht sogar kürzer. Lege die Hand auf dein Herz und frage dich im Inneren: In was für einer Welt möchte ich leben? Und höre einfach hinein. [Stille] Und jetzt frage dich selbst: Wie kann ich das wahr werden lassen? Wie kann ich das wahr werden lassen, von einem Ort der Liebe, des Mitgefühls, der Freude und des Gleichmuts aus. Denn simple Wut wird nur das fortsetzen, was da draußen ohnehin schon ist. Es ist entstanden aus Gier und aus Angst. Wir müssen darüber hinauswachsen und von einem Ort von Mitgefühl, zentriertem Gleichmut und Kreativität aus handeln. Frage dich also: Wie kann ich selbst der Wandel sein, den ich in der Welt sehen möchte?“

In was für einer Welt möchte ich leben? Diese Frage stellen sich offenbar immer mehr Menschen.

 

Lehrstück in Sachen Selbstorganisation

Verblüffend ist der Grad der Selbstorganisation, der spontan aus dem Ganzen aufsteigt: Es gibt Volxküchen, die gespendetes Essen verkochen und hunderte Menschen versorgen, es gibt medizinische Versorgung, eine Ausgabe von Kleidung und Campingbedarf, Medienteams, die Internet, Strom, Kameras und Computer organisiert haben. Alles getragen durch Spenden der Teilnehmer und den Einsatz von sich spontan zusammenfindenden Menschen.

„Ich habe hier in wenigen Tagen mehr tiefe Freundschaften geschlossen, als in meinem ganzen Leben zuvor“, berichtet sichtlich erstaunt ein Teilnehmer in einem Video der New York Times.

Eine alte Frau, die jeden Tag vor Ort war, sagt im selben Filmchen: „Ich würde alles dafür geben, dass diese Jugendlichen dass schaffen, was meine Generation nicht vollbringen konnte.“

15 Oktober – der Beginn der globalen Aktionen

Für den für den 15. Oktober ein weltweiter Aktionstag für den „globalen Wandel“ geplant. Veranstaltungen sind in zahllosen Städten in den USA, fast allen europäischen Ländern, Australien, Japan, China, Taiwan, den Philippinen, Ägypten, Marokko, Südafrika, Brasilien, Uruguay, Peru, Mexiko, Indien, Pakistan und vielen weiteren Ländern geplant.

In Deutschland beteiligen sich Berlin, Hamburg, Bremen, München, Magdeburg, Leipzig, Köln und viele weitere Städte an der Aktion.
Einsehbar sind die Orte auf der Webseite 15october.net

Was daraus entstehen kann, wurde in Spanien und den USA vorgeführt, wo sich die Zahl der Teilnehmenden in wenigen Wochen beinahe vertausendfacht hat.

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5 Responses

  1. Guido V.

    Die OCCUPY-Bewegung mal aus ganzheitlicher Sicht … wie im Kleinen, so im Großen:

    Und wieder so eine Überraschung aus der Welt der Wissenschaft. Gemeint ist dieser Text hier:

    http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,791156,00.html

    Selbst vor Viren macht die Expansion offenkundig nicht Halt, findet man im verlinkten Text doch reichlich Vokabular der expansiven Art. Schließlich zeigt das aktuelle Bild der Viren Züge militärischer Besetzung … eine virale Okkupation. Doch einmal mehr zeigen Realität und Wirklichkeit zwei gänzlich verschiedene Bilder. Was macht ein Virus ? Laut der Wissenschaft sucht es hinterlistig unentwegt nach Möglichkeiten der fortwährenden Vermehrung. Dabei sollte im Vordergrund der Betrachtung vielmehr das Wort Erreger stehen, mit welchem Viren immerzu tituliert werden, denn nichts anderes machen sie … sie regen zu Reaktionen an, die sich mitunter als das Bild einer Krankheit manifestiert.
    Wofür ? Um anzuzeigen, dass der Organismus, in dem das Virus auftaucht und sich vermehren kann, Aktionen ausgesetzt ist, die einer Anpassung bedürfen, um unter den gegebenen Umständen weiter in der vertrauten Umgebung überleben zu können.
    Wofür ? Um das eingespielte Netzwerk der Ordnung, welches Lebensräume mit sich bringen, nicht an die Unordnung zu verlieren, damit weitere reaktive Unordnung provozierend.
    Wofür ? Der energetischen Schadensbegrenzung wegen, denn Viren vermehren sich nur, wenn es eine vermehrungsfördernde Grundlage in jenem Organismus gibt, der, von jetzt auf gleich, neuen Aktionen auf der Bühne des Lebens gegenübersteht. Plötzliches Aufkommen von Unordnung bedarf einer schnellen, ordentlichen Lösung … und genau dafür gibt es das Bild der Viren. Sie tauchen dort in großer Zahl einer Spezies auf, wo unerwartet Aktionen stattfinden, die einer Eindämmung der Folgen dieser Aktionen bedürfen. Viren sind … auch wenn ich mich hier wiederhole … nicht der primäre Auslöser einer Krankheit, sondern eine Reaktion auf energetische Mißstände in einer ansonsten eingespielten Umgebung.

    Das folgende Zitat aus dem Text deutet genau in diese Richtung:

    … “Die Biologen hatten das Riesenvirus in Wasserproben an Chiles Pazifikküste nahe des Ortes Las Cruces in Amöben der Art Acanthamoeba castellanii entdeckt. Die Genome von Megavirus chilensis und Mimivirus ähneln sich in vielen Bereichen, schreiben die Forscher. Vor allem die Tatsache, dass das Megavirus eine Reihe von zellulären Genen enthält, die für eine Reproduktion benötigt werden, lege den Schluss nahe, dass die Theorie über die Evolution von Viren geändert werden müsse.“ …

    Was mögen am Entdeckungsort des Virus für Umstände in Küstennähe dafür gesorgt haben, dass der Auftritt des Riesenvirus zustande kam ? Diese Frage wird immerzu vernachlässigt, wenn es um die Beurteilung … oder vielmehr um die Verurteilung … von Viren geht. Und so bleibt es in der Regel bei der weißen Leinwand, dem falschen Bild, der oberflächlichen Betrachtung, die den Forschenden eine Okkupation vorgaukelt, während das Gesamtbild vom Versuch des Lebens zeugt lokale Unordnung wieder in Ordnung zu bringen. [b]Daher mag nicht verwundern, dass nicht jeder, der OCCUPY auf seine Fahne schreibt, die gewaltsame Besetzung fremden Gebietes im Schilde führt, sondern einzig auf Aktionen hinweist, die reichlich reaktive Unordnung in sich bergen, einem Trojanischen Pferd gleich. Je mehr Viren an einer gestörten Lokalität in einem Organismus auftauchen, desto größer das Trojanische Pferd. Gleiches gilt für die OCCUPY-Demos: Je mehr Demonstranten, desto größer das Potenzial der reaktiven Unordnung im Bauch des Trojanischen Pferdes mit der Aufschrift Weltfinanzsystem. Jeder Demonstrant ein Virus, ein Erreger, jemand, der Aufmerksamkeit erregt … und Energie, ja, ja, zum zigsten Male, folgt nun mal der Aufmerksamkeit …[/b]

    Doch wie praktisch, und gar nicht paradox, für die energetische Zunahme der Unordnung, dass im allgemeinen Sprachgebrauch Viren und Trojaner für viele Menschen, im expansiven Computerzeitalter, ein und dasselbe sind … und die Leinwand somit weißer und weißer wird …

    Gruß
    http://www.gold-dna.de

    Antworten
  2. Reiner Sailer

    Das fuehlt sich beim Lesen gut an, die Richtung in der ich auch arbeite! Das Gelernte aus meinen bisher 49 Lebensjahren hier in Level Deutschland habe ich hier veroeffentlicht: http://www.reinersailer.de und http://www.reinersailer.eu
    Dieser Kommentar ist ausserdem ein Zeitstempel auf dem Weg, unsere an Dekadenz
    erkrankten Mitmenschen zu heilen.

    Mit freundlichem Gruss
    Reiner Sailer

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  3. Hans Axnix

    Gratulation!

    Sehne diesen Tag seit Jahrzehnten herbei, beobachte aus der Ferne hocherfreut diesen Schritt zum Mut! Habe zulange unter diesen Umständen und Folgen gelitten – daher Deutschland, die Heimat für immer verlassen!

    Antworten
  4. Guido V.

    Bezüglich der Demos, um den 15. Oktober herum, die momentan des öfteren erwähnt werden und immer weitere Kreise ziehen:

    http://www.gold-dna.de/update5.html#up84

    Auch dieses Bild des Aufbegehrens hat nun seine Zeit und seinen Platz im realen Bilderfluss … und alles deutet darauf hin, dass der Aufschrei erfolgreich sein wird …

    Gruß

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  5. WellenbeobachterHH

    Die Eigendynamik dieser neuen Bewegung ist hier prima beschrieben worden. Das zeigt indirekt auch dessen Problem.

    Ohne einen theretischen Background könnte der Protest ins Leere laufen. Allein schon deshalb, weil unklar bleibt, an wen man sich richtet. Etwa an eine Instanz wie den bürgerlichen Staat, der über Besteuerung selbst existenziell ans Kapital und dessen Profitlogik gekoppelt ist? Dann würde man in der Wertschöpfungslogik und somit bürgerlichen Ideologe befangen bleiben.

    Erst wenn sich die Bewegung an ihre Mitmenschen richtet, ohne an vom Staat zu realisierende Forderungen zu appelieren, sondern davon unabhängig nach neuen gesellschaftlichen Möglichkeiten der gesellschaftlichen Reproduktion fragt – dann könnten wahrhaft emanzipatorische Ansätze denkbar werden und somit auch die Grundlage für etwas Neues jenseits von Markt / Staat erschaffen.

    Insgesamt ist diese Bewegung unterstützenswert, um überhaupt erstmal wieder eine Protestkultur zu entwickeln. Der Rest mag sich noch entwickeln oder auch nicht. Wir werden es beobachten können…

    nützliche Artikel zum Nachdenken finden sich hier:
    http://www.hh-violette.de/

    und hier:
    http://www.exit-online.org/

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