Wie sieht unsere Wahrheit aus in Beziehungen? Lassen wir dem anderen Raum oder erdrücken wir ihn? Leben wir auf der Basis von Verlustangst oder sind wir bereit für immer mehr Freiheit? Gedanken über die Liebe von ZEGG-Mitgestalterin Dolores Richter

 

Im Sommer 2009 bot ich eine „Liebesschule für Teens und Twens“ an. Nach einem Kennenlernabend mit Bewegung und Tanz, einem Tag in der Natur und einem Tag, an dem die unterschiedlichen Geschlechter unter sich waren, war die zweite Hälfte unserer gemeinsamen Zeit dann der Verständigung zwischen Mann und Frau gewidmet.

Einen Abend verbrachten wir stundenlang am Lagerfeuer; wir saßen oder lagerten und unterhielten uns. Wir redeten gerade darüber, wie Einzelne sich fühlen, wenn sie Kontakt aufnehmen zu einer Frau oder einem Mann, der sie interessiert. Davon ausgehend tauschten wir uns aus, wie wir in Situationen von Eifersucht in Kommunikation und Verbindung zum Partner oder Geliebten bleiben.

In diesem Moment fiel uns auf, dass ein Mann und eine Frau fehlten. Jemand sagte: „Ich glaube, die zwei haben sich zurückgezogen.“ Wir haben dann weitergeredet über das Thema Kontakt. Dann kamen die beiden, und es war klar, dass sich das Gespräch dadurch veränderte. Zum Glück war eine Frau dabei, die gleich benannte, was bei ihr los war: „Ach, ich wäre so gerne dabei gewesen.  Und ich weiß jetzt gar nicht, was ich damit machen soll“. Ein junger Mann meinte: „Eigentlich habe ich gedacht, dass das Mädchen zu mir will: Ich verstehe das nicht, warum die jetzt zu dem gegangen ist. Eigentlich hatte sich zwischen uns ein Kontakt aufgebaut, schon seit zwei Tagen, ich bin mir ganz sicher; eigentlich dachte ich, dass wir uns heute treffen werden. Jetzt ist sie mit ihm gegangen: Ich weiß nicht – wovon hängt das ab? Ist das eine Frage von Sekunden, wo sich das entscheidet, oder wie geht das?“

Dies war aus dem Herzen gesprochen, alle hörten ganz aufmerksam und Anteil nehmend zu. Es brauchte in diesem Augenblick nichts gesagt zu werden, es brauchte keine Antwort, keinen Tipp, keinen Trost. Wichtig war, dass es ausgesprochen werden konnte. Was für ein Glück, wenn ich meine Enttäuschung nicht mit mir alleine ausmache. Und aus der Offenheit ist eine Öffnung bei allen Beteiligten entstanden, und so konnte sich auch der Wunsch dieses jungen Mannes annähernd erfüllen.

 

Archetypische Anziehung

Üblicherweise betrachten wir in unserer Kultur die Liebe als etwas Persönliches und Privates, und so ist unser Bewusstsein meist auch nur auf die Frage der persönlichen Erfüllung beschränkt. Ich möchte diese Art zu denken weiten hin zu dem, wer wir als Liebende sind, woher wir kommen und was unsere Wahrheit jenseits von Konvention und Anpassung ist – bis hin zu der Frage, welches Bewusstsein und welche Formen des Zusammenlebens die Liebe fördern. Allein wenn Menschen diese Fragestellung weiten, zieht Entspannung ein.

Die überpersönliche Ebene der Liebe ist das Gefühl, meinem Partner oder dem begehrten Gegenüber nicht „allein“ gegenüber zu stehen, sondern in einer vertrauensvollen Gruppe, einer Gemeinschaft oder einem Freundeskreis, die mich unterstützen und mir Rückkoppelung geben. Wenn wir in Frauen- bzw. Männerkreisen in ehrlichem Austausch sind – welch ein Quantensprung, wenn ich Frauen im Rücken habe auf meinem Weg zum Mann, auch und sogar die Frauen, die denselben Mann attraktiv finden könnten (Sie wirklich im Rücken zu haben, mag eine Weile dauern und auch nicht immer gelingen – aber allein, dass wir zum Beispiel einander wissen lassen, was und wen wir lieben, schafft die Basis für eine solidarische Verhaltensmöglichkeit unter Frauen in dem Bereich, in dem wir sonst schnell zu beinharten Konkurrentinnen werden.)

Eine weitere überpersönliche Ebene ist die Erfahrung, dass es neben der persönlichen Anziehung auch die archetypische Anziehung gibt. Der personale Aspekt heißt: Ich liebe und begehre dich, will mit dir mein Leben teilen, Partnerschaft aufbauen. Der universelle Aspekt der Liebe ist überpersönlich. Unter diesem Aspekt ist das Gegenüber zum Beispiel ein Mann, der etwas verkörpert, eine bestimmte Energie, einen bestimmten Archetyp, der etwas in mir ankickt, etwas Überpersönliches. Wir begegnen dieser Energie bei Festen, Ritualen, Reisen, Ausnahmesituationen. Oft sind und bleiben die Gegenüber „Fremde“ in dem Sinn, dass sie nicht selbstverständlicher Teil unseres alltäglichen Lebens werden. Da nährt sich die erotische Anziehung aus dem, was durch das Persönliche hindurchscheint. Es sind sogar sehr starke Energien, die da wirken. In unserer Kultur liegt Männern dieser Aspekt scheinbar näher als Frauen. Eine Ursache ist die Jahrhunderte lang verdrängte und missbrauchte weibliche Sexualität. Eine andere ist der Unterschied im physischen Erleben: Die Frau nimmt den Mann in sich auf – auf eine Art kommt er viel näher an ihr Innerstes heran; und diese Tatsache macht verständlich, warum Frauen vielleicht mehr Sicherheit zum Beispiel auch durch persönliches Kennen brauchen und oft auch nur über die persönliche Liebe Zugang zu ihrer sexuellen Öffnung finden.

 

Erotische Anziehung zulassen

Ich finde den persönlichen Zugang zur sexuellen Öffnung wunderbar und heilsam. Er ist heilsam, weil ich im besten Falle wirklich als eine weibliche Einheit erfahren und geliebt werde (seelisch, physisch, emotional, geistig). Frauen haben ein großes Bedürfnis nach Ganzheit, auch und gerade weil sie oft in verschiedene Aspekte getrennt werden, die aber alle in einer Frau vorhanden sind oder mindestens schlummern (Heilige, Hure, Mutter, Tochter, Gemahlin, Geliebte etc.). Für mich als Frau ist die Liebe ein Öffnungsvorgang, der umso tiefer stattfinden kann, je „sicherer“ ich mich fühle. Wo ich mich geliebt fühle bzw. vollen Herzens liebe, kann ich mich auf eine Weise öffnen, die sexuelle Welten zum Klingen bringt, die ein Fremder kaum berührt. Ich fühle mich „sicher“, wenn ich das Gefühl habe, dass mein Partner sich in meine Welt hineinfühlen kann.

Wenn ich das Glück habe, einen Mann zu lieben, der in mir die Ganzheit lieben und begehren kann, bin ich wahrscheinlich satt und zufrieden und brauche mich auf dem Markt der Möglichkeiten nicht weiter zu tummeln. In meiner Erfahrung mit mir und unzähligen Liebenden, die ich begleiten durfte, lohnt sich aber auch in diesem Fall, das Bewusstsein zu weiten auf die unpersönliche Ebene. Auch wenn sie für den Moment oder dieses Leben gar nicht in meine gelebte erotische Welt gehört, dient es meiner Liebe, wenn ich darum weiß und entsprechend der Anziehung anderer Frauen und Männer respektvoll, wissend und im besten Falle angstfrei gegenüberstehe.

Wo es erotische Anziehung außerhalb der Beziehung nicht geben darf, weil sie mich mit Angst und Misstrauen konfrontieren würde, stehe ich im Bann einer Vermeidung, die auch meine Liebe beschränkt. Aber ich kann mich frei für die Konzentration auf den einen Menschen entscheiden und gleichzeitig um das Wesen des Eros wissen.

 

Fehlende Liebeskultur

Der archetypische Ausdruck der sexuellen Liebe lebt gerne und oft außerhalb von Beziehungen und Partnerschaft. Er ist lebendiger, wo Fremdheit, Nicht-­Alltäglichkeit ist. Das hat es in allen Kulturen gegeben. Frühere Naturvölker feierten Fruchtbarkeitsfeste; in unserem Kulturraum ist Fasching aus solch einem Zusammenhang heraus entstanden. Es gab und gibt immer Orte oder Zeiten, wo sich die anonyme oder unpersönliche Art der sexuellen Liebe ausdrückt. Erst in Kulturen, in denen dieser Aspekt moralisch verurteilt wurde, wurde sie ins Abseits der Gesellschaft gedrängt. Sexualität, die nicht in einer Beziehung zu Hause ist, hat es nicht zu geben, entsprechend gab und gibt es kaum ein Bewusstsein, noch Orte und Zeiten, in denen sie unverstellt und unverheimlicht gelebt werden kann. „Seitensprünge“ gehören auch in diesen Kontext, wobei ein Seitensprung dann als Beweis dafür genommen wird, dass man sich nicht mehr liebt. Dieser Gedanke – wenn du eine andere liebst, dann ist es vorbei – ist der Gedanke, der unsere Liebeskultur zersetzt. Er erzeugt soviel Kurzschlusshandlungen und unnötige Trennungen. Wenn wir an dieser Stelle innehalten und zumindest prüfen, was der tiefere Auslöser für dieses Ereignis ist, könnten wir mit offenem Herzen  miteinander sprechen und gemeinsam nach Konsequenzen suchen.

Ich kann eine monogame Partnerschaft leben, wenn das meine Wahrheit bzw. unser beider Wahrheit und Entscheidung ist. Ich kann die sexuelle körperliche Form der Liebe mit verschiedenen Menschen genießen, wenn das meine Wahrheit ist usw. Für mich ist entscheidend, ob ich die Entscheidung darüber, wie ich lieben möchte, aus Angst treffe oder in Freiheit. Ich kann mich in Freiheit dafür entscheiden, einem Mann treu zu sein. Für mich heißt das, dass ich meiner Liebe zu ihm treu bleibe, auch wenn sein Weg nicht immer so aussieht, wie ich es gerne hätte. Ich unterstütze meinen Partner in dem, was seine Wahrheit ist. Ich sage ihm, was mir wichtig ist, setze mich dafür ein, was ich will; wenn es bei ihm keine Resonanz gibt, dann tut er das, was er tut. Ich kann treu sein, wenn ich auch andere lieben darf.

 

Tiefer fühlen lernen

Ich möchte euch ein Beispiel erzählen aus früheren Jahren, da habe ich die Eifersucht studiert. Ich rief bei meinem Freund an, ich hatte Lust und wollte mit ihm ins Bett. Er war nicht da. Ich habe sofort alle Verdachtsmomente zusammengerafft mit dem Ergebnis: Der ist bestimmt bei dieser „blöden Kuh“, ist doch klar, oder? ­Jedenfalls fand ich es blöd, dass   er bestimmt bei der ist, und ich konnte schon richtig beobachten, wie dann diese Wallungen kamen; ihr kennt das Gefühl, wie das in ­einen reinschießt, es eng wird, unappetitlich, der Magen krampft sich zusammen usw. Gerade noch rechtzeitig vor dem unaufhaltsamen Teufelskreis der Gefühle kam mir der Gedanke, was wäre, wenn er jetzt gar nicht bei ihr ist, sondern im Büro. Die ganzen Gefühle sanken wieder in sich zusammen, haben sich wieder verteilt, der Magen hat sich entspannt. Interessant. Daraus habe ich geschlossen, dass es gar nicht die Tatsache ist, dass er bei ihr ist oder im Büro, die mich beutelt, sondern die Tatsache, dass er mir nicht „zur Verfügung“ steht! Er ist nicht da. Ich will gerne was mit ihm machen, und er ist nicht da. Das ist bedauerlich, aber damit kann man leben, wenn eben der Film nicht einrastet. Es gibt andere Momente, wo ich mit dem Gefühl, das in solchen Momenten aufkommt, in die Stille gehe und immer tiefer hineinfühle, was darunter gefühlt werden will. Auch das bringt mich an meine eigene Quelle. Oder zu einem Wunsch, den ich mich nicht mehr traute zu haben.

 

Wahrheit: Elixier für den Eros

Wahrheit in der Liebe kann es nur geben, wenn wir sie einladen. Interessanterweise ist sie ein Elixier für den Eros. Oft möchten wir lieber Sicherheit als Wahrheit. Aber was unsere Liebessituation unsicher macht, ist die Wahrheit, die nicht gewünscht ist. Ich glaube nicht, dass es in der Liebe eine andere Sicherheit geben kann außer der, die Liebe und damit die ehrliche Kommunikation unter Liebenden lebendig zu halten.

Wahrheit braucht Weite – menschliche, geistige, spirituelle Weite. Und sie braucht Nähe und Intimität. Einer der Urimpulse des ZEGG war es, eine Gemeinschaft aufzubauen, in der das Zusammenleben unter Liebenden und ein lebendiger und freier Fluss möglich ist. Es ging uns darum, sowohl den zarten und süßen wie den wilden Seiten der Liebe Platz zu geben – und das in der personalen wie in der überpersonalen Form. Jede freie Bewegung braucht Form und Halt. Wenn mehr als zwei Menschen eine Form halten, ist mehr Bewegung möglich. In diesem Bild ist eine Gemeinschaft die Form, die die Bewegung hält.

Ein weiterer Gedanke in den Anfangsjahren war: Wir wollen da, wo wir einmal geliebt haben, ­keine Trennung mehr. Die Liebe braucht Erholung von der Angst, verlassen zu werden. Wir wollen uns nicht „trennen“, nur weil sich in der Art unserer Liebe etwas verändert. Und wenn Menschen zusammenbleiben, die sich lieben, und neue dazukommen dürfen, entsteht Gemeinschaft…

Die Nachhaltigkeit einer Kultur, ihre Friedensfähigkeit, ihr Liebes- und Glückspotenzial hängt davon ab, wie frei unsere Lebenskräfte in ihr fließen können. Ich freue mich, wenn immer mehr Liebende gemeinsam forschen und immer mehr Formen finden, die Liebe zu nähren und zu weiten.


Abb: © GIS – Fotolia.com

Termine:

26.05.-29.05.
Lieben heißt, einen Menschen so sehen, wie Gott ihn sieht

29.06.-03.07.
Gemeinschaft: Wachheit unter Menschen

07.09.-11.09.
Liebe, Sex und ­Wahrheit

10.11.-13.11. ­

LiebesBilder – ­LebensRäume

Mehr Infos unter www.zegg.de und www.kreacom.org

Anmeldung unter Tel.: 033 841-595 10 oder empfang@zegg.de

Über den Autor

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Dolores Richter hat 1991 die ZEGG-Gemeinschaft mit begründet. Sie ist Autorin des Buches »Die Liebe ist ein soziales Kunstwerk« und begleitet seit über 30 Jahren Menschen auf ihrem Weg in Bewusstwerdung,  Gemeinschaftsbildung, Liebe, Partnerschaft und Sexualität. Heute liegt ihr Engagement im Aufbau von gemeinschaftlichen Netzwerken, in denen Liebende sich einbetten und gegenseitig unterstützen.

 

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2 Responses

  1. klaus dettwyler

    einmal mehr lese ich von dir, liebe dolores, danke. zur von dir gewünschtenn begegnung ist es noch nicht gekommen. ich bin eher nach tamera ausgerichtet. dieses jahr feierten esther und ich dort unsere goldene hochzeit, anstatt ein grosses fest zu machen.
    ich grüsse dich herzlich, salam-shalom, chlous.

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  2. Ralf Wünsche

    Liebe , Lust und gelebte Sexualität kann nur unter Wahrheit gedeihen !
    Wo diese fehlt und mit Unwahrheit und Verstelltheit ( so wie dieses im deutschen Alltag vorherrschend ist in allen Lebensbereichen ) kann kein gutes Leben für alle gedeihen.

    In der Lust und in deren Offenbarung durch eine gelebte authentische Nacktheit tritt dieses dann schon äusserlich auf durch Hautverfärbungen usw.

    Wahrheit ist ein hohes Gut und sollte unter Liebenden und Verlustierenden schon sehr gepflegt werden als ein kostbarer Juwel !

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