Dein Selbstwert – ein Ergebnis von Biografie, Gesellschaft, Tradition und früheren Inkarnationen

von Clara Welten

Als ich gefragt wurde, ob ich Interesse hätte, einen Artikel über das Thema Selbstwert zu schreiben, waren meine ersten spontanen Überlegungen, wie ich mich denn eigentlich selbst fühle, wo diese spezifische Sinnesempfindung von Selbstwert im Körper sitzt, und wann ich denn überhaupt einen Selbstwert entwickelt habe. Als ich ein Kind von vier Jahren war, dachten meine Eltern und der enge Kreis von Familienangehörigen, dass ich eventuell autistisch sei: Ich sprach wenig, spielte nie mit anderen Kindern und beschäftigte mich auch sonst nicht „wie alle“ meines Alters mit Puppen, Bauklötzen oder im Sandkasten. Und tatsächlich, wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, fand ich typische Aktivitäten junger Menschen immer langweilig. Sie berührten mich nicht, sagten mir nichts.

Meine Lieblingsbeschäftigung war, sehr zur Verwunderung aller Erwachsenen, stundenlang unter dem großen Biedermeiertisch im Wohnzimmer zu sitzen – und nichts zu tun. Eines Tages hörte ich meinen Onkel im Gespräch mit meiner Mutter sagen, wie merkwürdig ich doch sei und dass er noch nie ein Kind gesehen habe, das sich so schlecht mit sich selbst beschäftigen könne! „Komisch“, dachte ich, „… ich beschäftige mich doch die ganze Zeit mit mir selbst: Ich höre meinen Gedanken zu!“ Meinen Gedanken zuzuhören, das war für mich schon damals eine Aktivität. Der Biedermeiertisch war ein Dach über einem sicheren Raum. Und geborgen war ich sowieso: nämlich in und mit mir selbst. Auch sehr gerne ohne andere Menschen. Diese Episode erinnert mich daran, dass ich eventuell zu der seltenen Sorte Mensch gehöre, die mit dem Selbstwertgefühl nie ein Thema hatte: Ich fühle mich eins mit dem Universum, spüre eine Energieschicht um mich herum, die mich trägt – heute weiß ich, dass es meine Aura ist –, fühle mich warm und in meinem Körper oberhalb des Magens sicher verortet, als gäbe es einen unsichtbaren Kreis, der um mich herum und immer da ist – ganz gleich, was das Leben mir an Aufgaben überträgt. Seit ich selbst und beruflich mit Chakren arbeite, ordne ich diese „Kugel“ dem Solarplexuschakra zu, das gelb leuchtet und eben genau die passende Frage verkörpert: Wer bin ich in der Welt, in meiner Selbst-Verwirklichung?

Selbst- und Fremdwahrnehmung

Diese Beschreibung betrifft ein wesentliches Merkmal des Selbstwert: deine Selbstwahrnehmung. Wie sicher und unabhängig vom Außen nimmst du dich selber wahr? Verbunden damit ist die Fremdwahrnehmung, nämlich die Frage, wie dich andere Menschen sehen. Und offensichtlich sind Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht unbedingt übereinstimmend! Während ich mich sicher und geborgen fühlte, empfanden mich andere zumindest als merkwürdig und vielleicht sogar als gestört. Deine Selbstwahrnehmung und dein Selbstwertgefühl hängen ganz sicher von den Erfahrungen ab, die du in deinem Leben gemacht hast. Und ich finde es spannend zu wissen, dass nicht nur „ein gutes Leben“ zu einem „guten Selbstwert“ führt, sondern ganz im Gegenteil, dass das Überleben von großem Unglück zu Mut, Stärke, Kraft und Selbstbewusstsein führen kann. Der französische Psychoanalytiker Boris Cyrulnik hat mit dem Buch „Das wunderbare Unglück“ diese Tatsache psychologisch untersucht: Es gibt Menschen, deren Lebendigkeit und Lebensmut in Extremsituationen wie abstirbt, und es gibt solche, die gerade durch das Erfahren von großem Leid in ihre Gestaltungskraft und Lebensenergie finden. Weshalb? Das Überleben von starken Leidzuständen erschafft Resilienz, Widerstandskraft, und stärkt letztendlich auch den Glauben an dich selbst, da das unbedingte Wissen fühlbar ist: Ich bin wertvoll und liebenswert. Ich bin vom Leben getragen. Ich habe überlebt! Ich kann und werde auch weiterhin überleben!

Der vorgeburtliche Raum

Dank der tiefenpsychologischen Forschungen zum vorgeburtlichen Zustand, die es seit den 90er-Jahren gibt, wissen wir auch, dass die Entwicklung der Selbstwahrnehmung bis in den pränatalen Raum zurückreicht, d.h. bis in die Emotionen, die du als heranwachsender Mensch im Leib deiner Mutter erfahren hast: Hat sie sich auf dich gefreut, deine Mutter? Wie war ihr eigener Gemütszustand? War sie durch Einsamkeit oder gar Depression von dir abgeschnitten? Hat sie dich abgelehnt, schon bevor du überhaupt in dieser Welt angekommen bist? Für deine physische, energetische und seelische Erfahrungswelt ist demnach der Tag der Befruchtung ebenfalls nicht unwichtig: In meiner tiefenpsychologischen und spirituellen Arbeit mit geflüchteten Frauen, die vergewaltigt wurden, stellen wir dank der „spirituellen Seelenreisen“ in diese frühe Zeit des Selbst immer wieder fest, dass der spezifische initiale Moment deines Menschseins in dieser Inkarnation in deinen Zellen abgespeichert ist und somit auch die wortwörtlich zu nehmende Frage: Wie wurde ich empfangen? War ich wirklich gewollt und geliebt oder waren meine ersten Erfahrungen geprägt von bewusster oder unbewusster Gewalt? Daraus resultiert zum Teil der eigene Blick auf die eigene Person und der entsprechende liebevolle oder brutale Umgang mit sich selbst und anderen (Siehe der Artikel zur natürlichen Geburt in diesem Heft).

Gesellschaftliche Frauenbilder

Das Selbstbild der meisten Frauen nimmt in einer patriarchal geprägten Welt einen speziellen Platz ein. Als ich auf die Welt kam, war meine Mutter überfordert und ich ihr zu viel. Sie hatte bereits eine Tochter (meine Schwester) geboren und war für zwei Kinder mit 22 Jahren eigentlich zu jung. Damals, vor 50 Jahren, war das jedoch, jedenfalls im Osten der Republik, normal, sodass sie sich einerseits keine Fragen über ihre soziale Rolle stellte und andererseits quasi automatisch erfüllen wollte, was Tradition war: Mutter werden! Und dies möglichst schnell nach der Heirat, auf dass „alles für alle in Ordnung“ sei“. Eigenwahrnehmung und die der Gesellschaft stimmten auch bei ihr nicht überein: Meine Mutter sehnte sich im Stillen danach, Oratoriensängerin zu werden, wonach sie niemand je gefragt hatte – nicht ihre eigene Mutter und erst recht nicht ihr Ehemann. Das Fremdbild zu erfüllen, war ihre erste bewusst wahrgenommene Aufgabe, was dazu führte, dass ihr Selbstbild sehr schwach bis negativ war und ihr Selbstwertgefühl in Richtung Null ging. Selbstsicherheit war nicht aufzufinden, hatte sie doch ihren Traum – das Singen, etwas, das sie seit ihrer Kindheit leidenschaftlich gemacht hatte – spätestens mit der Geburt des zweiten Kindes aufgegeben: mit meiner Geburt. Ihre Liebe zu mir war groß. Der Umstand jedoch, dass sie sich selber weder lieben noch positiv spiegeln konnte, führte dazu, dass ich mich nicht an ihr orientieren und meine weiblichen Vorbilder ganz alleine finden musste – aus mir heraus. Und vielleicht hat gerade dieser Umstand die Entwicklung meiner Selbst-ständigkeit unterstützt. Das, was Gesellschaft, Kultur und Tradition über die Jahrhunderte von Frauen eingefordert hatten und haben, stimmt(e) selten mit dem Wunsch der Frauen überein: Wie einen positiven Selbstwert kreieren und empfinden, wenn weder nach eigenen Interessen noch Vorlieben und Wünschen je gefragt wurde und wird?

Kultur und Tradition

Dein Selbstwert hängt demnach nicht nur von deinem individuellen Ausdruck, sondern auch von den Werten der Gesellschaft ab, in der du lebst. Generell können wir sagen: Je traditioneller die Struktur des Dorfes, der Stadt, des Landes ist, desto schwächer ist der Selbstwert bei Frauen angelegt. Oder wie es die französische Psychoanalytikerin Françoise Dolto in den 80er-Jahren formulierte: Traditionellerweise ist die Ichstruktur (das Kerngefühl) der Frauen schwächer, da ihr Über-Ich sehr rigide und stark ist! Heißt: Je strikter und gesellschaftlich angepasster die Glaubenssätze und Affirmationen im Über- Ich (der individuellen Kontrollinstanz) ausgelegt sind, desto schwieriger ist es für dich als Frau, dein Ich autonom und unabhängig zu leben, zu verorten und zu spüren. Dank der feministischen Soziologie und Psychoanalyse wissen wir, dass der Selbstwert von Frauen – wenn er nicht bewusst angeschaut und des Öfteren mit dem Mut versehen ist, in Kontroverse und Konflikt mit dem Rest der Umwelt zu gehen – sich erst und ausschließlich durch die Anerkennung des Mannes bildet – und selbst dann für die Frau nur fühlbar ist, wenn ein Mann sie lobt oder/und begehrt. Anders formuliert: Es ist traditionellerweise der Blick des Mannes auf die Frau, der macht – und zwar wortwörtlich zu nehmen –, dass sie sich überhaupt positiv spüren kann! Wie ist das vorstellbar?

Kein eigener Selbstwert

Als ich in Paris lebte und in einer traditionell jüdischen Schule die Kinder und Ehefrau eines Rabbiners unterrichtete, erzählte mit Salomé, seine Frau: „Ich würde so gerne so frei wie du sein! Aber nun bin ich schon wieder schwanger, das 6. Mal, mit 39 Jahren! Und wenn du mich fragst, ob ich selbstbewusst bin, dann finde ich meinen eigenen Wert nur durch die Fortpflanzung: Ich schenke meinem Mann die Kinder! Und erst dann, wenn ein Sohn dabei ist, habe ich das Recht, nicht mehr weiter zu gebären. Meinen Selbstwert fühle ich nicht aufgrund meines Studiums in Israel, sondern nur dann, wenn mein Mann mich lobt und zufrieden mit mir ist.“ Und sie fügte hinzu: „Ich fühle mich wie der Keller im Haus; die Etagen über mir sind von meinem Mann bewohnt. Sie sind sichtbar und überhaupt erst durch den Keller möglich. Bei mir aber ist es dunkel.“ Ist diese Selbstbeschreibung von Frauen übertrieben oder eine Ausnahme? Nein, ich gehe davon aus, dass alle traditionell gelebten Religionen des Monotheismus, wie beispielsweise das Christentum, Judentum und der Islam, für das Selbstwertgefühl von Frauen problematisch sind und eine bewusste Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft, mit ihren eigenen Wünschen und Zielen erfordert, eine Auseinandersetzung, die die Frauen selbst nicht selten in große Konflikte mit ihrer Umwelt und auch in Gefahr stürzen kann. Weshalb? Weil die männlichen Familienmitglieder sich für den Gehorsam der weiblichen Familienmitglieder verantwortlich fühlen und sie im Sinne der Tradition meinen, beschützen und gar strafen zu müssen: In Paris musste ich miterleben, wie junge Mädchen von Clanmitgliedern angezündet und verbrannt wurden, weil sie ohne Kopftuch das Haus verließen und sich gegen Traditionen wehrten.

Je traditioneller, also patriarchal, eine Gesellschaft funktioniert, desto komplizierter wird für Frauen der Vorgang, sich im Eigenwert zu finden und selbst zu spiegeln. Das „evolutionäre Gedächtnis“ zu verändern – abgespeichert bis in den Körper, in die Faszien – bedeutet für Frauen, dass die Entwicklung des Gefühls von Eigenwert (bezogen auf das eigene Geschlecht) einer aktiven Bewusstseinsarbeit und Auseinandersetzung mit sich selbst als „geschichtliches Wesen“ bedarf. Meine Arbeit mit Geflüchteten untermauert diese These aus der Praxis. Viele Frauen fliehen gar aus diesem spezifischen Grunde nach Europa: um endlich ihren Selbstwert zu finden und leben zu dürfen.

Frühere Inkarnationen

Nun könnten wir meinen, dass das fehlende Selbstwertgefühl meiner Mutter und die Bewusstseinsräume, in die ich dadurch als ein Anhängsel von ihr kam, automatisch zu einem fehlenden Selbstwert meinerseits geführt hätten. Wie zu Beginn des Artikels angedeutet, stimmt dies aber nicht. Ganz im Gegenteil wusste ich Zeit meines Lebens, was ich werden und wie ich arbeiten möchte. Und auch, welches Bild von mir ich anderen präsentiere, wie ich also auf andere wirke und ob das aus meinem ureigenen oder einem gesellschaftskonform positiven Blickwinkel geschieht. Dank meiner beruflichen spirituellen Tätigkeiten habe ich erlebt, dass weder alles mit dem pränatalen Raum noch mit dem Tag der Befruchtung oder mit deiner Biografie beginnt – auch nicht dein Selbstwertgefühl! Wie du dich definierst, was deine Ziele im Leben sind, ist auch eine Folge deiner bereits gelebten Existenzen, deiner unzähligen Inkarnationen. Und ich finde, diese Tatsache gibt Hoffnung: Wie oft habe ich mit Menschen gearbeitet, deren Biografie als auch deren Heimatland eigentlich überhaupt keinen Stoff für die Gründung oder Untermauerung eines Selbstwertgefühls hergaben. Und dennoch: Es waren starke, autonome Individuen! Meiner professionellen Erfahrung als Seelenbegleiterin nach spielen die Inkarnationen, also die unterschiedlichen Verkörperungen deiner Seele zu verschiedenen Zeiten – deine spezifischen Existenzen – eine wichtige Rolle bei der konkreten Beantwortung der Frage: Wie komme ich eigentlich in dieser Welt an? Damit dein Selbstwertgefühl warm, stark und als Kraft fühlbar ist, tut es in jedem Falle gut, dich mit den drei folgenden Fragen bewusst auseinanderzusetzen:
· In wieweit bin ich (noch) das Produkt meiner Erziehung, der Ansichten meiner Eltern, meiner Umwelt und der Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin, lebe also das Leben der anderen?1
· In wieweit trägt mein Inkarnationsgedächtnis dazu bei, dass ich mich schwach und als Opfer fühle? Und:
· Was kann ich alles selbst tun, und zwar zu jeder Zeit meines Lebens, um immer mehr der Mensch zu werden, der sich selbst als beglückt erlebt und sich sagen kann, weil er sich liebt: Ich bin ein warmes Geschenk an mich selbst!

Das Gefühl, dich als wertvoll zu empfinden, in diesem Leben, mit deinen Herausforderungen, wächst progressiv mit der Annahme deiner Themen als zu lösende Aufgaben – auch im Wissen, dass ausnahmslos jeder Mensch, dass wir alle einzeln und gemeinsam hier sind, um zu wachsen. Mir schenkt es Mut, dass ich mit der Bewältigung meiner Selbstaufgaben nicht alleine bin: als begrenztes Wesen dazu da, Selbstgrenzen zu verschieben, zu verändern, um Leben, individuelles und gesellschaftliches, schöpferisch zu gestalten.

1) Siehe dazu mein Grundlagenbuch für „Tiefenpsychologie und Spiritualität“ in der Seelenarbeit: Welten, Clara „Lebst du schon oder wiederholst du noch? Dank Tiefenpsychologie und Seelenreisen dir selbst begegnen“, édition Welten, 2016, 2. Auflage

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