Leben wir aus unserem Kern heraus? Und wenn ja: Ist unser Leben auch tatsächlich Ausdruck dieses Kerns? Oder sind wir nur „Fähnlein im Wind“ mit ständig neuen Zielen und Wünschen, reine Reaktionsmuster auf unsere Umwelt?
Evelin Rosenfeld nähert sich der Spiritualität in einer hyperaktiven Welt an.

 

Wer sich auf diesen Halbsatz – „was dir wirklich wichtig ist“ – tiefer einlässt, bemerkt, welch bunte Vielfalt dabei durch den Kopf schießt: „meine Gesundheit“, „dass ich diese Position endlich bekomme, auf die ich mich beworben habe“, „mein/e Partner/in“, „Frieden“, „Frieden in meinem Leben und in der Welt“. Und ein gesichertes Leben…

Ja, was ist mir wirklich wichtig? Auch wenn viele Menschen nicht unerfahren sind in dieser Art von Fragestellung und Reflexion, so gibt es doch nur sehr wenige, die hierauf eine eindeutige und gleich bleibende Antwort haben. In jeder Lebenssituation. In jeder Lebensphase. Mal liegt der Fokus auf existentiellen Fragen, mal auf emotionalen. Meist geht es allerdings um Dinge, die wir „haben“ wollen…

Nur bei ganz wenigen Menschen spiegelt sich ihre Antwort in ihrem Leben. Wie viele Menschen kennen Sie, die aus tiefstem Herzen wissen, wofür sie leben? Und wie viele davon können das durchgängig in ihrem privaten und beruflichen Leben tatsächlich realisieren?

 

Individuelle Bestimmtheit

Doch genau hier beginnt Spiritualität. Die Einsicht in den Wesenskern, die Einsicht in die individuelle Bestimmtheit ist Voraussetzung für innere Balance, Ausgerichtetheit und Lebenssinn. Und sie ist nicht situationsabhängig. Sie verändert sich nicht im Laufe des Lebens. Der Wesenskern ist wie ein Abbild des großen Ganzen, reflektiert durch das einzigartige „Muster“ einer individuellen Seele.

Durch die Wahrnehmung dieser Spiegelung entsteht ein klarer Bezug zum Leben und zu seinen Gesetzen. Denn das alltägliche Handeln entsteht nicht aus einer Re-Aktion auf äußere Eindrücke, sondern ist ein absichtsvoller Ausdruck dieses Wesenskerns. Entscheidungen werden an einem inneren Kontinuum gemessen und gefunden. Das, was „wirklich wichtig ist“ in Ihrem Leben, ist deutlich wahrnehmbar und bestimmt Ihr Handeln in jedem Moment. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Geben und Nehmen, Pflicht und Erholung. Was Sie tun, ist, was Sie sind. Und was Sie haben, ist, was Sie tun.

Dies ist Selbstbestimmtheit. Die Orientierung kommt von einer bleibenden, im Selbst gründenden Größe – und nicht aus einer Zweckrationalität. Das Selbst – und sein subjektives Motiv – ist im Gegensatz zur Ratio auch immer mit dem Kontext, mit den Mitwesen verbunden.

Dies ist Spiritualität. Spiritualität hat weder etwas mit Glaubensbekenntnissen noch mit esoterischem Hokuspokus zu tun. Sie ist einfach „nur“ eine Art Standleitung zum Sinn des eigenen Lebens.

 

Glaubenskonzepte wanken

Doch wie finden wir zurück zu dieser inneren Orientierung? Und wie erhalten wir sie im Lebensalltag?

In Anbetracht der chaotischen Lebensbedingungen, die selbst Hartgesottene nicht mehr ignorieren können, fragen mehr und mehr Menschen nach dem „Sinn“ und machen sich auf die Suche nach einem lebendigen Leben. Und ­dabei werden endlich auch die ewigen Tyrannen „Anerkennung“ und „Sicherheit“ infrage gestellt. Ganze Lebenskonzepte, in denen sich alles darum drehte, Leistung zu bringen, das Erkämpfte zu behalten und immer noch mehr Merkmale des eigenen Wertes zu sammeln, geraten ins Wanken.

Ratio und Leistungsergebnisse funktionieren als Orientierungsgrößen nicht mehr, denn sie tragen selten bei zur „inneren Nahrung“ und zum Lebenssinn. Im Gegenteil: Die antrainierte Effizienz und Zielorientierung zerrt uns in eine Spirale von Aktion und Reaktion, in der „Menge“ mehr zählt als „Gehalt“. Und so ist auch die Verlockung groß, uns „Spiritualität“ anzueignen statt zu erschließen.
Erkennbar ist diese unheilvolle Tendenz daran, dass in den letzten Jahren der Konsum von Spiritualität einen regelrechten Aufschwung erlebt: Selbstfindungskurse und Yogaschulen erleben einen bemerkenswerten Aufschwung, asketische Phasen oder ganze Ausstiegs-Szenarien unterbrechen den eisernen Rhythmus der westlichen Leistungsgesellschaft.

 

Flaue Selbstbespiegelung

Ich mache selbst auch Yoga – durch meine Mutter inspiriert seit meinem vierten Lebensjahr. Hin und wieder besuche ich offene Stunden der unzähligen Berliner Yogaschulen. Doch meist erlebe ich Körperertüchtigung – wer kann das Asana am besten – oder eine eigenartige Verklärung. Die Vermittlung der hinduistischen Grundtugenden – Wahrhaftigkeit, Enthaltsamkeit, Achtsamkeit – spielt in der Regel keine Rolle. Der Kampf um die besten Yogamatten und das Ergattern der schönsten Plätze haben Vorrang.

Als Coach sehe ich mir natürlich auch verschiedene Angebote zur Selbstfindung an. Da werden binnen eines Abends die „Big Five for Live“ entwickelt (Lebensziele) oder per Ankreuzverfahren Charaktertypen bestimmt. Unternehmen lassen Workshops stattfinden, in denen über Werte diskutiert wird – allerdings weiß am Ende niemand so recht, was das mit der täglichen Arbeit zu tun hat(te).

So wird oft auch aus dem erhabenen Yoga eher eine Wellness-Veranstaltung und aus der metaphysischen Fragestellung „Wer bin ich“ eine flaue Selbstbespiegelung. Der Weg aus einer emo­tionalen und geistigen Überflutung heraus, hin zu Zentriertheit und einem sinnerfüllten Leben braucht andere Hilfsmittel. Und vor allem eine andere Haltung.

Und dafür müssen wir gar nicht bis nach Hinterindien reisen. Andacht. Demut. Aufrichtigkeit. Das sind die inneren Voraussetzungen, die wir in der ­eigenen Kultur längst vergessen haben oder mit einem negativen Beigeschmack versehen haben. Doch ohne Andacht keine Stille. Und ohne Stille keine Klarheit.

 

Die Natur als Ratgeberin

Wenn es Ihnen wirklich darum geht, zu verstehen, warum Sie mit genau diesem Leben, genau diesen Eigenschaften und Empfindungen in der Welt sind, dann müssen Sie über Ihre weltlichen Ziele und momentanen Bedürfnisse hinausgehen und Kontakt aufnehmen. Kontakt zum Leben um Sie herum ist der Weg zum Kontakt zu sich selbst. Die Natur ist dabei eine gute Ratgeberin, denn sie führt uns die Elementarkräfte des Lebens vor Augen. Und sie zeigt, dass kein Wesen im Einklang lebt, ohne dass es auch dem Ganzen dient.

Der Yoga und eine bewusste Ernährung halten den Körper frei von Störungen, die uns daran hindern, still zu werden. Der Yoga fördert zudem Denk- und Empfindungsprozesse: Der Blick weitet sich, Ängste verlieren ihre Kraft und eine klarere Wahrnehmung auf das, was wirklich wichtig ist, kann sich entfalten. Doch all dies bleibt nur Wellness, wenn Sie diese Hilfsmittel nicht gezielt einsetzen, um die erste Frage eines selbst­bestimmten Lebens zu beantworten: Wer bist du? Was ist für dich wirklich wichtig?

Wer den Sonnengruß als „aufheizende Morgengymnastik“ ausführt, hat den Yoga nicht begriffen. Jede der zwölf Positionen dieser komplexen Übungen ist mit einem Mantra verbunden, jede Haltung mit einer bestimmten Atmungsrichtung. Der Sonnengruß ist ein Gebet voller Inbrunst. Wie viele ambitionierte Yogapraktizierende wissen das?

Und die fünf Elemente, die uns in der Natur begegnen, sind nicht nur erfreuliche Begleitung unseres Sinneslebens – die Wohltat eines Waldspaziergangs oder die Faszination eines Sonnenuntergangs mal unbestritten. Auf dem Weg nach persönlicher Entfaltung geht es jedoch darum, sich dem Wesen der Dinge anzunähern – das Wasser in seiner energetischen Verfassung zu begreifen, Erlen, Gundermann und Wermut als beseelten Wesen zu begegnen, die antike Verehrung der Sonne nachzuvollziehen, indem wir die Konsequenz ihrer Existenz oder Nicht-Existenz erfassen.

Aus diesen Bildern, aus einem Moment der Stille und des innigen Naturkontakts lassen Sie sich nochmals fragen:
Was ist Ihnen wirklich wichtig? Wenn wichtige Entscheidungen für Ihren weiteren Lebens- und Berufsweg anstehen – worauf basierend treffen Sie Ihre Wahl?


Abb: © piccaya – Fotolia.com

Über den Autor

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Vor vielen Jahren wagte Evelin Rosenfeld als etablierter Coach einen großen Sprung, indem sie aus einem bewegten Leben zwischen Thailand, Teneriffa und Berlin auf einen verwilderten Berg ins tiefste Bayern zog und begann, dort ohne Maschinen 33.000 Quadratmeter Land in einen blühenden Permakulturgarten zu verwandeln. Harte körperliche Arbeit, unendlich viel neues Wissen, vor allem aber die Bereitschaft, ihre Komfortzone einmal mehr zu verlassen und sich ausschließlich mit ihren eigenen Kräften ins Leben zu werfen, brachten ein kleines Unternehmen hervor, in dem Kostbarkeiten wie Reindestillate, Kräutertabak und Rohdrogen geschaffen werden. Mit ihrer Firma Wild Natural Spirit macht sie Mut, all die Hilfsmittel und Stützen der rationalisierten Welt fallen zu lassen und sich in die Obhut purer Natur zu geben.

Kontakt
Evelin Rosenfeld
Streufdorfer Strasse 5
96476 Bad Rodach OT Rossfeld

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