Wie sieht eine hilfreiche und sinnvolle Begleitung von kranken Menschen oder von Menschen in schwierigen Situationen aus? Heather Plett erklärt anhand ihrer eigenen Geschichte, was es bedeutet, andere so zu begleiten, dass sie darin wachsen können  – ihren Raum zu halten.

 

Als meine Mutter im Sterben lag, kamen meine Geschwister und ich zusammen, um in ihren letzten Tagen bei ihr zu sein. Keiner von uns wusste etwas darüber, wie wir den Übergang eines Menschen von diesem Leben in das Nächste unterstützen können, aber wir waren ziemlich sicher, dass wir sie zuhause haben wollten, also taten wir es.

Während wir Mutter unterstützten, wurden wir wiederum von der wunderbaren Palliativ-Krankenschwester Ann unterstützt, die alle paar Tage kam, um sich um Mutter zu kümmern und mit uns über das zu sprechen, was wir in den kommenden Tagen zu erwarten hätten. Sie zeigte uns, wie wir Mutter Morphium spritzen konnten, wenn sie unruhig wurde. Sie bot uns an, schwierige Aufgaben (wie zum Beispiel das Baden) zu erledigen, und sie gab uns nur so viel Information wie nötig über das, was mit Mutters Körper zu tun war, nachdem ihre Seele die Schwelle übertreten hatte.

„Nehmt euch Zeit“ sagte sie. „Ihr könnte den Bestatter dann anrufen, wenn ihr bereit seid. Versammelt die Menschen, die sich verabschieden wollen. Sitzt so lange mit eurer Mutter, wie ihr es braucht. Wenn ihr bereit seid, ruft den Bestatter an, und sie werden kommen, um sie abzuholen.“

Ann gab uns in diesen letzten Tagen ein unglaubliches Geschenk. Obwohl es eine sehr anstrengende Woche war, wussten wir, dass wir von jemandem gehalten wurden, der nur einen Anruf entfernt war.

In den zwei Jahren seit damals habe ich oft über Ann und über die wichtige Rolle, die sie in unserem Leben gespielt hat, nachgedacht. Sie war viel mehr als das, was der Titel „Palliativ-Krankenschwester“ beinhaltet. Sie war Begleiterin, Coach und Unterstützerin. Indem sie uns eine sanfte, nicht-urteilende Unterstützung und Begleitung anbot, half sie uns, einen der schwierigsten Wege unseres Lebens zu gehen. Die Arbeit, die Ann tat, kann man mit einem Begriff definieren, der in einigen Kreisen, in denen ich arbeite, gebräuchlich ist: Sie hielt Raum für uns.

Was bedeutet es, Raum zu halten für eine andere Person ?

Es bedeutet, dass wir bereit sind, neben einer anderen Person zu gehen, auf welchem Weg sie auch ist – ohne zu urteilen, ohne ihr das Gefühl zu geben, „nicht genug“ zu sein, ohne zu versuchen, sie zu „reparieren“ oder das Endergebnis zu beeinflussen. Wenn wir für andere Personen Raum halten, öffnen wir unsere Herzen, bieten wir bedingungslose Unterstützung an und lassen das Urteilen und die Kontrolle los.

Manchmal ist es so, dass wir Raum halten für Menschen, während diese Raum halten für andere. In unserer Situation hielt Ann beispielsweise Raum für uns, während wir Raum für unsere Mutter hielten. Obwohl ich nichts über ihr Unterstützungssystem weiß, vermute ich, dass es Menschen gibt, die einen Raum für Ann halten, während sie diese anspruchsvolle und sinnvolle Arbeit macht. Es ist praktisch unmöglich, ein starker „Raumhalter“ zu sein, wenn wir keine anderen haben, die Raum halten für uns. Selbst die stärksten Führer, Coaches, Krankenschwestern, usw. müssen sicher sein, dass es einige Menschen gibt, bei denen sie verletzlich und schwach sein können – ohne Angst, verurteilt zu werden.

In meiner eigenen Rolle als Dozentin, Begleiterin, Coach, Mutter, Ehefrau und Freundin gebe ich mein Bestes, um für andere Menschen Raum in der gleichen Weise zu halten, wie Ann es mir und meinen Geschwistern zeigte. Das ist nicht immer einfach, denn ich habe die sehr menschliche Tendenz, andere „reparieren“ zu wollen, ihnen Ratschläge zu geben oder sie zu dafür zu verurteilen, dass sie nicht weiter sind, als sie es eben sind. Trotzdem versuche ich es weiter, weil ich weiß, dass es wichtig ist. Gleichzeitig gibt es in meinem Leben Menschen, denen ich vertraue, dass sie Raum für mich halten.

Wenn wir Menschen in ihrem eigenen Wachstum, in ihrer Verwandlung und in ihrer Trauer wirklich unterstützen, können wir das nicht tun, indem wir ihnen ihre Macht wegnehmen (also versuchen, ihre Probleme zu lösen), oder sie beschämen (also erwarten, dass sie mehr wissen), oder sie überfordern (also ihnen mehr Informationen geben, als sie aufnehmen können). Wir müssen darauf vorbereitet sein, zur Seite zu treten, so dass sie ihre eigenen Entscheidungen treffen können. Wir müssen ihnen bedingungslose Liebe, Unterstützung und sanfte Führung anbieten, wenn es nötig ist, und wir müssen ihnen das Gefühl geben, sicher zu sein, auch wenn sie Fehler machen.

Raum zu halten ist nicht nur etwas für Moderatoren, Coaches oder Palliativpflegekräfte.
Es ist etwas, das wir ALLE füreinander tun können – für unsere Partner, Kinder, Freunde, Nachbarn
und sogar für Fremde, mit denen wir ins Gespräch kommen, wenn wir im Bus zur Arbeit fahren.

 

Hier sind die Lektionen, die ich von Ann und von den anderen lernte, die für mich Raum gehalten haben:

1. Gib Menschen die Erlaubnis, ihrer eigenen Intuition und Weisheit zu vertrauen

Als wir Mutter in ihren letzten Tagen unterstützten, hatten wir keine Erfahrung, auf die wir uns verlassen konnten. Und doch: intuitiv wussten wir, was nötig war. Wir wussten, wie wir ihren immer weniger werdenden Körper zur Toilette tragen mussten, wir wussten, wie wir für sie singen konnten und wie wir sie lieben konnten. Wir wussten sogar, wann es Zeit war, die Medikamente zu injizieren, um ihre Schmerzen zu lindern. Auf sehr sanfte Weise ließ Ann uns wissen, dass wir die Dinge nicht nach einem beliebigen Pflegeplan tun mussten – wir konnten einfach unserer Intuition und der Weisheit aus den vielen Jahren vertrauen, in denen wir unsere Mutter geliebt hatten.

2. Gib Menschen nur so viele Informationen, wie sie verarbeiten können

Ann gab uns einige einfache Anweisungen und überließ uns ein paar schriftliche Anleitungen, aber sie hat uns nicht überfordert mit viel mehr, als wir in unserer verletzlichen Trauer hätten verarbeiten können. Zu viel Information hätte uns in einem Gefühl der Inkompetenz und Würdelosigkeit zurückgelassen.

3. Nimm ihnen nicht ihre Macht

Wenn wir Menschen die Entscheidungsgewalt aus den Händen nehmen, geben wir ihnen das Gefühl, nutzlos und unfähig zu sein. Es kann Zeiten geben, in denen wir einschreiten und schwierige Entscheidungen für andere Menschen treffen müssen (z. B. wenn es um Sucht geht und eine Intervention das einzige zu sein scheint, was diesen Menschen retten kann). Aber in fast jedem anderen Fall brauchen Menschen Autonomie, um selbst zu wählen (sogar unsere Kinder). Ann wusste, dass wir uns fähig fühlen mussten, um für unsere Mutter zu entscheiden, und so bot sie zwar Unterstützung an, versuchte aber nie, uns zu lenken oder zu kontrollieren.

4. Halte dein Ego heraus

Das ist ein wichtiger Punkt. Wir alle treten ab und an in diese Falle, wenn wir anfangen zu glauben, dass der Erfolg einer anderen Person abhängig von unserem Eingreifen ist, wenn wir denken, dass ihr Versagen ein schlechtes Licht auf uns wirft, oder wenn wir davon überzeugt sind, dass die Gefühle, die sie auf uns abladen, mit uns zu tun haben anstatt mit ihnen. Es ist eine Falle, in die ich gelegentlich hineinrutsche, wenn ich unterrichte. Es kann passieren, dass ich mir mehr Sorgen um meinen eigenen Erfolg mache als um den meiner Schüler (mögen die Schüler mich? Spiegeln ihre Noten meine Fähigkeiten als Lehrerin wider?). Aber das nützt niemandem – nicht einmal mir. Um ihr Wachstum wirklich zu unterstützen, muss ich mein Ego heraushalten und einen Raum schaffen, in dem sie die Möglichkeit haben, zu wachsen und zu lernen.

5. Lass Menschen sich sicher genug fühlen, um zu scheitern

Wenn Menschen lernen, wachsen, einen Prozess der Trauer oder des Übergangs durchleben, ist es unumgänglich, dass sie auf diesem Weg Fehler machen. Wenn wir als ihre Raumhalter unsere Urteile und unsere Beschuldigungen zurück zu halten, geben wir ihnen die Möglichkeit, in sich selbst den Mut zum Risiko und eine innere Widerstandsfähigkeit zu erreichen, die sie weitermachen lässt, selbst wenn sie scheitern. Wenn wir sie wissen lassen, dass das Scheitern einfach ein Teil der Reise ist und nicht das Ende der Welt, werden sie weniger Zeit damit verbringen, sich dafür selbst die Schuld zu geben, und mehr Zeit damit, aus ihren Fehlern zu lernen.

6. Schenke Begleitung und Hilfe mit Demut und Aufmerksamkeit

Ein weiser Raumhalter weiß, wann er sich in der Führung zurückhalten muss (z. B. wenn es einer Person das Gefühl gibt, dumm und unzureichend zu sein) und wann es angebracht ist, sie sanft anzubieten (z. B. wenn eine Person danach fragt oder wenn sie zu verloren ist, um zu wissen, um was sie überhaupt bitten soll). Obwohl uns Ann unsere Macht oder Autonomie nicht genommen hat, bot sie uns an, zu kommen, Mutter zu baden und einige der schwierigsten Pflegebereiche zu übernehmen. Es war eine Erleichterung für uns, denn wir hatten keinerlei praktische Erfahrung damit und wollten unsere Mutter nicht in eine peinliche Lage bringen (z. B., dass ihre Kinder sie nackt sehen). Es ist ein Tanz, der sorgfältige Aufmerksamkeit von uns verlangt und den den wir alle tanzen müssen, wenn wir Raum für andere Menschen halten. Es braucht Übung und Demut, die Bereiche wahrnehmen, in denen sie sich am verletzlichsten und unfähigsten fühlen, und die richtige Art von Hilfe anzubieten, ohne sie zu beschämen.

7. Schaffe Raum für komplexe Emotionen, Angst und Trauma

Wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie auf eine tiefere Weise gehalten werden, als sie es gewohnt sind, fühlen sie sich sicher genug, komplexen Emotionen zu erlauben, an die Oberfläche zu kommen, die normalerweise vielleicht verborgen geblieben wären. Jemand, der Halten eines Raums praktiziert, weiß, dass das passieren kann, und wird bereit sein, den Raum auf sanfte, unterstützende und urteilsfreie Weise zu halten. In „The Circle Way“* sprechen wir vom „Halten des äußeren Randes“ für diesen Menschen. Der Kreis wird der Raum, in dem die Menschen sich sicher genug fühlen, um auch zusammenzubrechen zu können, ohne befürchten zu müssen, dass dieser Prozess sie für immer „kaputt“ machen würde oder dass sie von anderen im Raum beschämt werden. Es ist immer jemand da, der Kraft und Mut gibt.

Dies ist keine leichte Arbeit, und es ist eine Arbeit, an der ich fortwährend lerne, während ich immer schwierigere Gespräche begleite. So etwas können wir nicht machen, wenn wir selbst übermäßig emotional sind, wenn wir die harte Arbeit, unserem eigenen Schatten zu begegnen, nicht gemacht haben, oder wenn wir den Menschen, für die wir Raum halten, nicht vertrauen.

Ann tat dies, indem sie uns mit Zärtlichkeit, Mitgefühl und Vertrauen begegnete. Hätte sie uns keine Gewissheit gegeben, dass sie mit schwierigen Situationen umgehen konnte oder wenn wir vermutet hätten, dass sie Angst vor dem Tod hatte, wären wir nicht in der Lage gewesen, ihr so zu vertrauen, wie wir es getan haben.

8. Lass zu, dass sie andere Entscheidungen treffen und andere Erfahrungen machen als du

Raum halten bedeutet, die Unterschiedlichkeit jeder Person zu respektieren und anzuerkennen, dass diese Unterschiedlichkeit dazu führen kann, dass sie Entscheidungen treffen, die wir nicht treffen würden. Manchmal treffen sie beispielsweise Entscheidungen auf Grundlage ihrer kulturellen Werte, die wir vor unserem eigenen Erfahrungshintergrund nicht verstehen können. Wenn wir Raum halten, lassen wir die Kontrolle los und würdigen solche Unterschiede. Dies zeigte sich beispielsweise in der Art, wie Ann uns bei der Entscheidung unterstützte, was mit Mutters Körper geschehen sollte, nachdem ihre Seele dort nicht mehr wohnte. Hätten wir es für nötig befunden, vor der Freigabe ihres Körpers ein Ritual durchzuführen, hätten wir dies in der Privatsphäre des Hauses unserer Mutter tun können.

Raum halten ist nichts, was man von heute auf morgen meistern oder sich mit einer Liste von Tipps wie die, die ich gerade geliefert habe, aneignen kann. Es ist eine komplexe Praxis, die sich entwickelt, während wir sie praktizieren, und sie ist bei jeder Person und in jeder Situation einzigartig.

 

Übersetzung: UR/Sein.de, Michaela Sieh

Weitere Infos:

* Das Buch von Christina Baldwin und Ann Linnea ist vor kurzem auf Deutsch erschienen: Circle: Die Kraft des Kreiseshttp://www.beltz.de/fachmedien/training_weiterbildung/buecher/produkt_produktdetails/6279-circle_die_kraft_des_kreises.html

Der Originalartikel „What it means to “hold space” for people, plus eight tips on how to do it well“ erschien in Heather Pletts Blog im März 2015 unter http://heatherplett.com/2015/03/hold-space – Feedback sowie ergänzende oder unterschiedliche Erfahrungen zum Thema „Raum für andere Menschen halten“ können gerne auch direkt dort gepostet werden.

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