Schmerz ist bei uns meist mit einer Geschichte verbunden: Woher kommt er, warum wurde er uns zugefügt, wie können wir verhindern, dass er sich wiederholt. Das alles verursacht Leiden. Die amerikanische spirituelle Lehrerin Gangaji lädt dazu ein, dieses Leid zu beenden, indem wir die Geschichte fallenlassen und dem Schmerz direkt begegnen.

Körperliche Gefühle von Schmerz sind vertraute Warnzeichen für jeden von uns. Meist bemerken wir das Unbehagen und unternehmen natürlicherweise etwas, um dessen Ursache zu beheben. Dafür sorgt die uns angeborene Intelligenz. Und wenn der Schmerz keinen komplizierten Hintergrund hat und einfache Korrekturen greifen, ist alles gut. Das Schmerzempfinden wird vergessen, so lange, bis es das nächste Mal gebraucht wird.

Emotionale Schmerzen sind für gewöhnlich nicht „einfach“ und wenn sie anwachsen zu emotionalem Leiden, können sie die gesamte Weltsicht dessen, der von ihnen befallen ist, beeinflussen. Wir wissen, entweder unmittelbar aus eigener Erfahrung oder durch unser Einfühlungsvermögen in die Erfahrungen anderer, dass manchmal wirklich furchtbare Dinge geschehen, die Menschen gefühlsmäßig verletzen. Ungerechte Dinge, die Unschuldigen zugefügt werden. Dinge, die wir nicht guten Gewissens kurzerhand beiseite schieben können.

Den Kreislauf des Leidens unterbrechen

Es ist natürlich, dass eine Geschichte zusammen mit emotionalem Schmerz auftaucht. Da gibt es für gewöhnlich ein Ereignis oder eine Person, die den Schmerz „verursacht“. Anfangs mag es wichtig sein, die Geschichte zu erzählen und ihre Lektionen zu lernen oder auf irgendeine angemessene Art zu reagieren. Sehr oft rufen das Ereignis oder die Person auch den Nachhall früherer Versionen von emotionalem Schmerz mit ähnlichen Geschichten wach. So berechtigt die Geschichte oder Geschichten sein mögen – wenn sie immer wieder abgespult und in Gedanken durchgespielt werden, wächst emotionaler Schmerz sich aus zu emotionalem Leid. Der Schmerz wird dann zu einem Zeichen für alles, was falsch gelaufen ist oder falsch laufen könnte, statt ein einfaches Korrektursignal zu sein. Und dennoch: Wenn emotionalem Schmerz ohne die unvermeidliche Geschichte, die mit ihm auftaucht, begegnet werden kann, dann verschwindet emotionaler Schmerz genauso aus der Erinnerung wie einfacher körperlicher Schmerz.

Oft glauben wir, damit aufzuhören, die Geschichte unseres emotionalen Schmerzes zu wiederholen bedeute, uns selbst irgendwie untreu zu werden. Wir meinen, indem wir bei der Geschichte unserer Verletzungen bleiben, seien wir uns selbst treu! Aufgrund dieses (falschen) Ideals von Loyalität uns selbst gegenüber beginnen wir dann, uns anhand unseres emotionalen Schmerzes zu definieren. Doch uns selbst über unseren emotionalen Schmerz zu definieren, heißt unnötig leiden.

Schmerz, dem bewusst begegnet wird, wächst nicht zu Leiden an. Um zu leiden brauchen wir Zeit und eine laufende Geschichte. „Meine Mutter….“, „Er oder sie oder die….“, „Ich bin / bin nicht …“: Die Geschichte fortzuführen garantiert die Geburt und den Fortbestand von Leiden und die Vermeidung des reinen Gefühls, das unter jedwedem inneren Dialog verborgen liegt.

Hin zum Schmerz statt weg davon

Die „Korrektur“ für emotionalen Schmerz kann sich am Anfang anfühlen, als laufe sie der Intuition zuwider. Statt uns von ihm wegzubewegen, müssen wir dem emotionalen Schmerz direkt und aus nächster Nähe begegnen. Es ist eine intime, vertrauliche Begegnung. Nur du und dein Schmerz sind anwesend. Dafür müssen alle anderen Darsteller deiner Geschichte von Ursachen, Vertrauensmissbrauch und Ungerechtigkeiten zeitweise gelöscht werden. Die Intimität des Eins-Werdens mit dem Schmerz ist nötig. Keine jämmerliche, dramatische Fassung von „Wie ich eins mit dem Schmerz wurde“, sondern ein einfaches und nüchternes stilles Verschmelzen von Aufmerksamkeit und der Empfindung von Schmerz.
Wo fühlst du die Verletzung? Wenn du deine ganze Aufmerksamkeit in diesen Bereich hineinfallen lässt, jeden Teil jeder Geschichte über die Ursache dieser Verletzung zurück lässt, sogar die Bezeichnungen „Schmerz“ und „Verletzung“ aufgibst, entdeckst du pure Energie. Wenn wir diese Energie nicht bewerten, auch wenn sie sich unangenehm oder noch schlimmer anfühlt, können wir noch näher herangehen. Wir können so nah herankommen, dass wir tatsächlich eins mit ihr werden. Und wir können da anhalten. Wir können einfach da sein, in der Weite des unendlichen, offenen Mind.

Die Herausforderung besteht dann darin, die Identität desjenigen aufzugeben, der verletzt wurde oder wird. Dieses Aufgeben erfordert lediglich, dass wir damit aufhören die Geschichte wiederzuerzählen, wie wir verletzt wurden, wer uns verletzt hat, wie sehr es weh tut, warum es nicht hätte passieren dürfen, und so weiter und so fort.

Allein dadurch, dass du es ablehnst diese Geschichte noch einmal zu erzählen, hast du die unmittelbare Gelegenheit, direkt dem Schmerz, der unter der Geschichte liegt, zu begegnen. Das ist alles was nötig ist, damit das Leiden ein Ende hat!
Wenn das emotionale Leiden wieder erscheint, ist eine Geschichte damit verbunden. Und wieder hast du die Wahl, die Geschichte loszulassen und dem Schmerz ganz nah zu begegnen.

Schmerz, dem nicht begegnet wird, entwickelt sich zu Leiden.
Schmerz, dem begegnet wird, ist nicht Schmerz.


Abb.: Owleeey

Über den Autor

Avatar of Gangaji

ist eine amerikanische spirituelle Lehrerin und Autorin. Sie reist um die ganze Welt und spricht zu Suchenden jeglicher Herkunft. Ihre Botschaft ist kraftvoll, klar und einfach: Wahrer Frieden und immerwährende Erfüllung sind die wahre Natur deines Seins. Gangaji lädt dich dazu ein, die Möglichkeit zu entdecken, dein Leben in Frieden und Freude zu leben, indem du einfach bist.

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