Alle „klassischen“ Tarot-Versionen zeichnen sich dadurch aus, daß sie die Tradition in bedeutungsvoller Weise neu schöpfen. Das gilt für die Waite- und die Crowley-Karten genauso wie für einen „neuen Klassiker“ wie das Margarete Petersen-Tarot. Hier verbinden sich persönliche Intuition und Ausdruckskraft mit der Tarot-Überlieferung von Generationen. So entstehen Bilder, die viele Menschen erreichen und bewegen.

Seele als innerer Raum

Die HOHEPRIESTERIN aus dem Margarete Petersen-Tarot: Eine weiße Lichtgestalt in einer schwarzen Höhle. Ein weißer und ein schwarzer Mond sind links und rechts außen zu sehen. Eine Mondsichel zu Füßen der Bildfigur, auf deren Kopf die Isis-Krone, die zugleich die drei sichtbaren Mondphasen (Vollmond, zu- und abnehmender Mond) darstellt. Im Bild auch die Symbole der vier Elemente: Stab, Kelch, Schwert und Münze/Pentakel.

Das Bild zeigt vertraute und unbekannte Inhalte. Monde und Mondsichel beispielsweise kennt man von anderen Darstellungen der HOHEPRIESTERIN. Daneben springen ungewöhnliche Motive hervor: Die fast körperlose Lichtgestalt in der Bildmitte. Die Grotte, die auch als Höhle oder Kammer zu bezeichnen ist. Das Auge – im Bild gleich mehrfach enthalten: Ein Auge befindet sich hinter/über dem Kopf der Bildfigur; die gesamte ovale Höhle hat die Form eines Auges.

Auge und Spiegel

Margarete Petersen TarotDas Auge gilt als Spiegel der Seele. In der Traumdeutung symbolisiert es u.a. auch das weibliche Geschlecht. Das Auge gehörte immer schon zum Motivkreis der HOHEPRIESTERIN, bisher allerdings nicht so offensichtlich. Traditionell spielt diese Karte u.a. auf die ägyptische Göttin Isis an. Direkt von Isis leitet sich Iris ab, und Iris ist nicht nur ein Name, sondern auch die Mitte des Auges.

Traditionell vertritt die HOHEPRIESTERIN auch den jungen Teil der Dreiheit (Jungfrau, Frau, Alte). In den mythischen Zeiten, als die Vorstellung von der dreifachen Großen Göttin entstand, hieß aber Mädchen auf altgriechisch Kore. Durch den Mythos von Kore und Demeter ist das weithin bekannt. Weniger geläufig ist jedoch, daß das griechische Wort „Kore“ nicht nur junge Frau, sondern auch Puppe, Pupille und Augapfel bedeutete.

Licht im Auge

Auf der Rückseite eines Auges befindet sich die Netzhaut, und als ein ebenso riesiges wie filigranes Netz zeigt zum Beispiel das Crowley-Tarot die HOHEPRIESTERIN. In der Mitte der Netzhaut aber liegt der Blinde Fleck. Er existiert, weil auf diese Stelle der Nerv trifft, der Auge und Gehirn verbindet.

Der Blinde Fleck ist eine anatomische Gegebenheit von weitreichender Bedeutung. Sinn und Sinne treffen an dieser Stelle aufeinander. Jede gelungene Wahrnehmung ist ein ganzheitlicher Vorgang, an dem Körper, Geist, Seele und Wille (Intuition) beteiligt sind – daher zeigt das Bild mit Recht alle vier Elemente. Jede gelungene Wahrnehmung schafft Licht, wo zuvor Dunkelheit war, denn sie verbindet Erfahrung und Erkenntnis. 

Seelische Kamera

Margarete Petersen TarotNicht nur die Augen sind ein Spiegel der Seele. Die Seele selber gilt gemeinhin als Spiegel und wird symbolisch etwa mit dem Glaserspiegel, dem Wasserspiegel oder auch der Fotokamera verglichen. Kamera heißt wörtlich „Kammer“, und eine solche ist im Bild zu erkennen.

Die HOHEPRIESTERIN besitzt eine Kammer, die zugleich offen und abgesondert ist. Das symbolisiert in vielen anderen Darstellungen ein Vorhang im Bild: Absonderung ist erforderlich, um die eigene Seele vom allgemeinen Fluß der Zeit zu trennen; so wird ein individuelles Leben möglich. Offenheit ist nötig, um die Verbindung der einzelnen Seele mit dem großen Strom des Lebens zu gewährleisten; so nimmt man Teil an der Ewigkeit. 
„Ein Zimmer für mich allein“, so lautete der Titel des berühmten Romans von Virginia Woolf, ein Grundstein des Feminismus und der Emanzipation. Bis heute braucht jede/r eine eigene „stille Kammer“. Dabei macht das Bild von Margarete Petersen deutlich, daß damit auch die eigene Kamera, eine persönliche Wahrnehmung und eigene leuchtende Augen gemeint sind.

 

Ihre Tarot-Karten gelten bereits als moderne Klassiker: Die Berliner Künstlerin Margarete Petersen er-lebt und er-arbeitet das Tarot in einmaliger, beeindruckender Weise. Seit 1979 beschäftigt sie sich ausschließlich mit Tarot. Über 40 der insgesamt 78 Bilder hat sie inzwischen neu geschaffen. Bei einem Besuch der Tarot- & Traum-Zeitung entstand das folgende Interview:

Woran arbeiten Sie gegenwärtig?

Petersen: Ich male die Kleinen Arkana, zur Zeit Stab- und Kelch-Karten. Die „kleinen Karten“ sind für mich die Dramen des Alltags. Sie stellen vor allem eine Frage: Wie lassen sich spirituelle Erlebnisse und Erkenntnisse mit dem täglichen Leben verbinden?

Die gute Nachricht lautet: Mehr als 40 Ihrer Tarot-Karten, die meist schon zu beliebten Sammlerobjekten geworden sind, haben Sie bisher fertiggestellt. Wenn man nun hochrechnet – rund 40 Karten sind seit 1979 entstanden-, müssen wir bis zum Jahre 2019 warten, bis der komplette Satz Karten vollendet ist?

Petersen: Der künstlerische Prozeß und der spirituelle Weg sind unberechenbar. Als ich anfing, habe ich mit insgesamt vielleicht 4 oder 5 Jahren gerechnet. Dann hat es Zeiten gegeben, in denen ich „Umwege“ gehen oder an „verschlossenen Türen“ rütteln mußte – da ist dann vielleicht höchstens eine Karte im Jahr fertig geworden.

In anderen Phasen fließen die gefundenen Quellen reichlich, und in wenigen Monaten entstehen zum Beispiel zehn Bilder. Also, ich glaube nicht, daß es noch sehr lange dauern wird, bis alle 78 Karten vorliegen. Aber keine Zeitprognose. Der Prozeß ist für mich das Entscheidende; diesem Fluß vertraue ich mich an, nicht dem Terminkalender.

Können Sie diesen „Prozeß“ näher beschreiben?

Petersen: Mein Leben spiegelt sich in meinen Bildern. Sie sind der rote Faden, den ich spinne und der unterschiedliche Wahrnehmungsebenen – Alltag und Träume – miteinander verwebt.

Was ist für Sie das Schönste, was das Schwierigste, wenn man so beeindruckend konsequent seiner Berufung folgt?

Petersen: Mein Weg ist ein spiritueller. Manches steht in meiner Macht, manches aber auch nicht. Da ist eine schöpferische Kraft – in uns und um uns -, die trägt und führt. Mich ihr anzuvertrauen ist das Schwierigste, aber auch das Schönste!

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