Wort und Wurz: Wo kommt unsere Heilkunde, unsere Medizin her? Die Lehrer in der Schule erzählten, dass sie ursprünglich aus Ägypten und dem Nahen Osten stamme. Rezepturen und Heilmethoden seien dann ins alte Griechenland weitergetragen worden, wo ein heller Kopf, Hippokrates, sie von abergläubischen, magisch-religiösen Vorstellungen säuberte. Gelehrte hellenische Ärzte hätten sie dann zu den Römern gebracht, deren Heilkunde bis dahin recht primitiv war. Der römische Historiker Plinius behauptete zum Beispiel, dass die Römer sechs Jahrhunderte lang keine Ärzte brauchten – in alten Zeiten der Republik hätten sie sämtliche Beschwerden mit Kohl aus dem Garten geheilt. Erst als sie dekadent wurden und verweichlichten, so schrieb er, lieferten sie sich den verschlagenen griechischen Ärzten und ihren teuren Medikamenten aus. Trotz Fortschrittsverweigerern wie Plinius gewann auch im römischen Imperium die rationelle Heilkunde die Oberhand.

Aber dann, mit der Völkerwanderung, überrannten raufende, saufende Barbarenhorden, die wenig Verständnis für die Feinheiten der Zivilisation hatten, die römischen Provinzen. Wilde Völkerschaften waren das, noch ganz in ir – rationalen, magischen Vorstellungen befangen. Da sie des Lesens und Schreibens nicht mächtig waren, hatten sie kein Verständnis für den Wert schriftlicher Überlieferungen. Bibliotheken gingen in Flammen auf. Das Wissen der Heiler und ihrer Rezepturen stand in Gefahr, für immer verloren zu gehen. Glücklicherweise hegten und pflegten die Mönche diesen Wissensschatz, kopierten die noch vorhandenen Manuskripte und retteten sie über das dunkle Frühmittelalter hinweg. In ihren Klöstern legten sie zudem Kräutergärten mit bewährten Heilpflanzen aus dem Mittelmeerraum an. Im Laufe der Zeit wurden die Erkenntnisse verfeinert und mündeten in unsere moderne Medizin.

Keine einzig wahre Medizin

So jedenfalls steht es geschrieben. Leider stimmt das nicht ganz. Es ist lediglich ein Mythos. Weder die Heilkunde noch die einzig wahre Religion stammen aus einer einzigen Region. Vielmehr gibt es keine einzige Ethnie, keinen Stamm, der nicht im Besitz einer wirksamen und in der Praxis bewährten Heilkunde ist und war. Auch wenn die Erklärungen, die Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit sowie die angewendeten Heilmittel unterschiedlich sind, können sie Bauchgrimmen stillen, Knochen richten, Durchfall stoppen, Wunden heilen und gesunde Kinder auf die Welt bringen. Völkerkundler bestätigen das immer wieder. Es gibt – so die Ethnologen – keine einzig wahre Medizin, ebenso wie es keine einzig wahre Religion gibt.

Der symbolische, schamanische Aspekt des Heilens

Das trifft natürlich auch auf die Eingeborenen Europas zu, auf unsere Vorfahren, die Waldvölker nördlich der Alpen – die Kelten, Germanen, Slawen und Balten. Diese hatten, ehe die Römer und vor allem die christliche Mönchskultur neue Impulse brachte und durchsetzte, ihre eigene Heilkunde. Diese wurde vor allem von den Frauen, insbesondere den Großmüttern, getragen, deren Aufgabe es war, Mensch und Tier in Haus und Hof gesund zu halten.

Wurz-fluenta-Fotolia.comMit Wort und Wurz taten sie das. Das Wort war der symbolische, schamanische Aspekt des Heilens. Der Wurm, der Krankheitsdämon oder der Siechtum bringende Geisterpfeil, wurde mit Machtworten herausgesungen und herausgezwungen. Das Heilritual setzte voraus, dass die Heilerin oder der Heiler hellsichtig war. Sie konnten im entrückten Zustand, in Trance, die in die dunklen Leibestiefen eingenisteten Würmer, die die Lebenskraft wegsaugten, oder auch die verderblichen Zauberpfeile „sehen“. Durch ihre eigene Zauberkraft und mit Hilfe ihrer Hilfsgeister konnten sie den Kranken davon befreien. Die herausgesungenen, herausgeräucherten Schadwesen mussten anschließend entsorgt werden. Töten konnte man sie nicht, denn sie waren ja schon Geister, sie hatten also keinen physischen Körper, den man vernichten könnte. Also bannte man sie in Bäume oder man schoss sie mit Pfeil und Bogen ins „Nimmer-Nimmerland“ – zurück in die jenseitigen Dimensionen.

Am liebsten bannte man sie in den Holunder, einen Busch, der schon in der Mammutsteppe wuchs und der der paläolithischen Höhlengöttin, der Großmutter unter der Erde, der Hüterin der Samen und Tierseelen, geweiht war. Der Holunder – so heißt es noch immer im Volksaberglauben – zieht alles Negative an und leitet es nach unten in die Erde. Tatsächlich, wenn man unter einem Holunder sitzt und meditiert, hat man den Eindruck, dass er energetisch nach unten zieht. Unter dem Hofholunder, davon war man noch im Mittelalter überzeugt, rührt noch immer die inzwischen zur Großmutter des Teufels mutierte Frau Holle in ihrem Kessel. Die Krankheitsdämonen plumpsen in diesen Kessel und werden zerkocht. Krankheiten konnten aber auch auf Vögel, Frösche oder Käfer gezaubert und so entsorgt werden.

Heilpflanzen: Materielle Träger der Heilinformation

Ebenso wie man zwei Beine braucht, um zu laufen, braucht man neben dem Wort – dem Zauberspruch oder Heilgesang –, auch die Wurz. Wurz (angelsächsisch wyrt, schwedisch ört) bedeutete nicht nur Wurzel, sondern es war die Bezeichnung für die Heilpflanze an sich. Sie lebt in den Namen der stärksten Heilkräuter weiter: Meisterwurz, Engelwurz, Goldwurz (Schöllkraut) oder Magenwurz. Diese Pflanzen wurden zum Ausheilen verwendet und entweder als Aufguss, als Sud oder Salbe verabreicht (Kräuterschnäpse und -tinkturen hatten ihren Ursprung in der arabischen Medizin und kamen erst im 13./14. Jahrhundert durch die Klostermedizin bei uns in Gebrauch). Der Kräutertee oder Aufguss wurde drei Mal am Tag, in den „heiligen“ Stunden – morgens, wenn die Sonne aufgeht, mittags, wenn die Sonne am Zenith steht, und abends, wenn sie untergeht – getrunken. Drei war bekanntlich für diese Völker eine heilige Zahl.

Heilen bedeutet heil-machen, was gebrochen war. Es bedeutet, etwas in seinen ursprünglichen gesunden Zustand zurückzuversetzen. Als Ursprung aller Dinge galt bei diesen Waldvölkern Feuer und Wasser. Die Schale Kräutertee besteht aus der Heilpflanze, die mit kochendem Wasser übergossen wird. Das heißt, die Energie des Feuers vermittelt dem Wasser die Kräfte der Pflanze. Die Schale selber symbolisiert den Kessel, den gebärenden Schoß der Urgöttin, die wir noch als Frau Holle kennen. Die Pflanzen (Wurze) selber wurden nicht als Wirkstoffakkumulatoren gedacht, wie wir es heute tun, sondern als mächtige, verkörperte Wesenheiten, die man ansprechen und um Hilfe bitten konnte. Das kommt ganz klar zum Ausdruck in dem alten „angelsächsischen Kräutersegen“ (Lacnunga). Man ruft sie beim Namen, erinnert sie an ihre innewohnende Kraft und bittet sie um Hilfe.

Uralte Wurzeln

Diese Heilkunde ist uralt. Ihre Wurzeln liegen in der Altsteinzeit. Das wurde den Ethnobotanikern klar, als sie die Heiltraditionen der europäischen Waldvölker, der Sibirier und der nordamerikanischen Indianer verglichen. Die Indianer benutzen bevorzugt jene Heilpflanzen, die sie schon aus Sibirien kannten, ehe sie vor mehr als 15.000 Jahren über die Landbrücke nach Nordamerika wanderten. Und was noch bedeutsamer ist: Sie benutzen diese im selben kulturellen Zusammenhang. Sie schaben zum Beispiel den Bast junger Holunderzweige nach oben, wenn sie mit dessen Sud beim Patienten Brechreiz erzeugen wollen; sie schaben ihn nach unten, wenn die Krankheitsdämonen durch den Darm gejagt werden sollen. Interessanterweise kennen die Sibirier, die slawischen Völker, die mittelalterlichen Heilerinnen wie auch einst die Kelten diesen Brauch.

Funktioniert das auch? Kommt es zum Erbrechen, wenn der Holundertrieb nach oben, und zum Durchfall, wenn er nach unten geschabt wird? Die Antwort ist überall eindeutig „Ja“. Der Grund ist, dass der gekochte Holunderbast leicht giftig ist; der Körper will, durch Schwitzen, Erbrechen oder Durchfall, sein Unbehagen loswerden. Es ist das Wort, die Suggestion des Heilers oder Schamanen, das dann die Richtung bestimmt.

Auch andere Kräuter und Pflanzen, die einst in der eiszeitlichen Mammutsteppe wuchsen, werden bei diesen Völkern noch verwendet. Der Beifuß (Artemisia) spielte überall, von Westeuropa bis an die Ostküste Nordamerikas, von Nordsibirien bis in den Himalaja, als sakrales Räucherkraut und Hebammenpflanze eine Rolle. Kraftorte, wo man Rituale zur Begegnung mit den Göttern und Geistern durchführte, auch die Schwitzhütten und sibirischen Dampfbäder, wurden damit ausgelegt. In der alten wie auch der neuen Welt ging man in die Schwitzbäder, um Krankheiten herauszuschwitzen, um Visionen zu haben, um den Göttern und Ahnen zu begegnen – und die Frauen gingen hinein, um ihre Kinder zu gebären. Überall galt die Schwitzhütte als Schoß der Erdmutter, als Zugang zur anderen Welt, zur „Traumzeit“, aus der man dann geheilt wiedergeboren werden konnte.

Auch die ersten Bauern, die Bandkeramiker, die vor rund 8.000 Jahren in Mitteleuropa erschienen, trugen Wesentliches zur Volksheilkunde bei. Sie kannten mehr Heilpflanzen als die alten Jäger und Sammler, aber nur weil sie, als Sesshafte, mehr Krankheiten als diese hatten. Abfall und Tier-Kot zog Fliegen, Ratten, Läuse, Wanzen und anderes Ungeziefer als Krankheitsvektoren an. Infektionskrankheiten, die man vorher nicht kannte, übersprangen die Artengrenze vom domestizierten Vieh zum Menschen. Aber auch diese Bauern entwickelten viele wirksame Heilweisen.

Wir sehen also, unsere Volksheilkunde, getragen von Frauen und Männern, die nicht auf gelehrte Schriften angewiesen waren, sondern das Wesentliche hellsichtig und unmittelbar wahrnahmen, hat wirklich tiefe Wurzeln. Die Heilkunde der Antike und die Klosterheilkunde sind nur der oberflächlich sichtbare Teil eines Wissens, das Jahrtausende zurückreicht und sich aus vielen Kulturen speist.

 


 

Zu seinem neuen Buch Urmedizin – Die wahren Ursprünge unserer Volksheilkunde, AT-Verlag 2015, hält er einen Vortrag am Freitag, 23. Oktober 2015, 19 Uhr, im Rudolf-Steiner-Haus, Bernadottestr. 90/92, 14195 Berlin

Eintritt: 15 € VVK (erm. 13 €), AK 17 € VVK
in allen alternativen Buchhandlungen in Berlin
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Gutes Gelingen
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Tel.: 030-362 844 92
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