Yoga und Yogapraxis: Gefühle als Wegweiser durch stürmische Zeiten – von Vivian Dittmar und Lisa Sintermann

Yoga ist eine ganzheitliche Praxis, die alle Ebenen unseres Seins einschließt. Unsere Gefühle erscheinen uns dabei besonders schwer greifbar, hoch sensibel und zuweilen unkontrollierbar. Ein weit verbreiteter Mythos zum Thema Gefühle besagt, dass diese irrational und unverständlich seien. Das zeigt sich schon darin, dass wir den Begriff „Gefühl” sehr vage verwenden – und zwar für so ziemlich alles, was sich dem rationalen Verständnis entzieht. „Ich habe das Gefühl, dass du mich anlügst” ist ein klassisches Beispiel solch schwammiger Aussagen. Doch wofür haben wir Gefühle eigentlich? Sind sie wirklich so unlogisch und vielleicht sogar unpraktisch wie gemeinhin angenommen? Oder verbirgt sich hinter unseren emotionalen Wogen vielleicht eine geheime Logik, eine unsichtbare Gesetzmäßigkeit, die wir bislang schlicht noch nicht entdeckt haben?

Gefühle im Fokus der Yoga-Philosophie

Es gibt Ansätze im Yoga, die sich explizit der Welt unserer Gefühle widmen. In der tantrischen Yogaphilosophie wird beschrieben, wie wir jede Art von Erfahrung und Gefühlsregung für unsere spirituelle Praxis nutzen können. Das „Vijnana Bhairava Tantra“ schließt sogar extreme Zustände wie Angst, Trauer, Flucht und Hunger (Vers 118) mit ein. Und die Lehre der Chakren ordnet nicht nur Energieflüsse, sondern auch unsere Emotionen Körperbereichen zu. Auch die Wissenschaft des Ayurveda bezieht in ihrer Konstitutionsbestimmung die emotionalen Wesenszüge eines jeden Individuums mit ein.

Alle diese Ansätze basieren auf der Lehre des Samkhya, welche besagt, dass sich alles Existierende aus fünf Elementen zusammensetzt: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum. Auf der Gefühlsebene begegnen uns die Elemente als Wut, Trauer, Angst, Freude und Scham. In der Wut beispielsweise steckt die Kraft glühender Lava. Trauer ist reinigend wie frischer Regen und unsere Angst entlädt sich zitternd wie ein Erdbeben. Bei den Grundgefühlen handelt es sich nicht um eine willkürliche Auswahl. Vielmehr befähigen uns genau diese Gefühle in ihrer Kombination, mit allen Situationen im Leben angemessen umzugehen. Sie repräsentieren das Spektrum unserer gesamten emotionalen Bandbreite.

Wut – klare Positionierung

Wut (Element Feuer) ist ein Gefühl, das immer dann auftritt, wenn uns etwas gegen den Strich geht. Wut steckt in unserem Bauch und kann ungeahnte Muskelkraft freisetzen. Wut ist dann ein richtig gutes Gefühl, wenn wir genau wissen, was uns nicht passt, und es auch in unserem Einflussbereich liegt, das zu verändern. Die richtige Dosis Wut gibt mir genau das richtige Maß Energie, um mich durchzusetzen, nein zu sagen oder mich zu beschweren. Richtig unpraktisch ist Wut hingegen dann, wenn ich an einer Situation nichts ändern kann. Dann brauchen wir andere Gefühle – zum Beispiel Trauer.

Trauer – annehmen, was ich nicht ändern kann

Im Gegensatz zu Wut versetzt Trauer (Element Wasser) uns nicht in Handlungsbereitschaft, sondern sie lässt uns zur Ruhe kommen. Sie unterstützt uns, Situationen anzunehmen. Trauer hilft uns, mit all jenen Situationen angemessen umzugehen, die wir nicht ändern können. Etwa, wenn ein geliebter Mensch gestorben ist. Es gibt allerdings auch Situationen, die wir weder an nehmen noch verändern können. Hier braucht es nochmal ein anderes Gefühl – zum Beispiel Angst.

Angst – sich auf das Unbekannte einlassen

Dieses Gefühl mag keiner haben: Angst (Element Erde). Sie steht für Lähmung, Handlungsunfähigkeit, Ausgeliefertsein und Ohnmacht. Doch auch Angst ist ein Gefühl, das nicht entstanden ist, um uns das Leben schwer zu machen, sondern erfüllt eine wichtige Funktion. Da Angst in Situationen auftritt, die wir weder annehmen noch verändern können, ist Angst ein Signal für das Unbekannte. Dieses Unbekannte kann eine Gefahr bergen, es kann aber auch eine große Chance für etwas komplett Neues sein.

Scham – sich selbst in Frage stellen

Manchmal ist es an der Zeit, sich selbst in Frage zu stellen. Hierbei ist ein weiteres zuweilen unbeliebtes Gefühl von zentraler Bedeutung: die Scham (Element Raum). Sie lässt uns in den Spiegel unserer eigenen Werte blicken. Haben wir den prüfenden Blick erst auf uns selbst gelenkt, können wir jedes andere Gefühl auch auf uns selbst anwenden und bewusst reflektieren: die Wut, wenn wir uns einfach mal einen Ruck geben müssen, die Trauer, wenn es gilt, Anteile anzunehmen oder die Angst, wenn wir Aspekten ins Auge sehen, mit denen wir nicht umzugehen wissen.

Freude – wertschätzen, was mir gefällt

Freude (Element Luft) gilt jenen Dingen, die wir als richtig empfinden. Es ist das einzige Gefühl, das wir sofort als positiv einordnen: Freude gilt Umständen, die unseren Bedürfnissen entsprechen. Jedes der anderen Gefühle gilt hingegen Situationen, die anders sind, als wir sie gerne hätten. Freude ist Wertschätzung. Sie sagt: Das gefällt mir! Das habe ich mir gewünscht! Doch nicht immer empfinden wir Freude. Allzu oft nehmen wir etwas für selbstverständlich und versäumen es, beispielsweise das weiche Bett als Anlass zur Freude zu nehmen. Woran liegt das? Um das zu verstehen, müssen wir uns der Frage zuwenden, wie Gefühle überhaupt entstehen.

Wie entsteht ein Gefühl?

Gefühle werden erzeugt, und zwar von uns selbst. Es sind unsere Gedanken, also wie wir eine Situation interpretieren, die Gefühle entstehen lassen. Und zwar jedes Gefühl durch eine andere Interpretation: Wut durch die Interpretation, dass etwas “falsch” ist, Trauer, dass es “schade” ist, Angst, dass es “furchtbar” ist, und Freude, dass es “richtig” oder “schön” ist. Scham hingegen wird ausgelöst durch den Gedanken, dass ich selbst vielleicht falsch bin. Diese Grundinterpretationen sind wie Knöpfe in unserem Kopf, die wir bedienen und dadurch Gefühle erzeugen. Da uns dieser Prozess jedoch in der Regel nicht bewusst ist, kommt es uns so vor, als würden unsere Gefühle aus dem Nichts entstehen.

Gefühle als Kraft oder Schatten

Besonders schwierig wird es, wenn unsere Gefühle sich nicht als positive Kräfte zeigen, die eben genau das sind, was wir in der jeweiligen Situation brauchen, sondern in ihrem Schattenausdruck: Statt für Klarheit zu sorgen, wird Wut zerstörerisch. Trauer hingegen führt in ihrem Schattenausdruck nicht zu positiver Annahme der Situation, sondern zu depressiver Passivität. Angst ist ganz und gar nicht schöpferisch, wenn sie sich in ihrem Schatten zeigt. Im Gegenteil: Sie lähmt uns. Scham in ihrem Schatten unterstützt uns nicht in einer gesunden Selbstreflexion, sondern wir zerfleischen uns buchstäblich mit Selbstvorwürfen. Überraschend dürfte für die meisten Menschen sein, dass auch unser Lieblingsgefühl Freude nicht nur positiv ist. Auch sie hat einen Schattenausdruck: die Illusion. Wir reden uns Dinge schön, die eigentlich dringend der Aufmerksamkeit einer anderen Gefühlskraft bedürften.

Gefühle im Körper – Halt oder Ausbruch

Gefühle lassen sich ganz konkret im Körper spüren und lokalisieren. Jeder kennt einen flauen Magen oder zittrige Beine. Im Umgang mit unseren Gefühlskräften spielt es eine große Rolle, wie gut wir unseren Körper wahrnehmen und ob wir Gefühle in ihm „halten“ können. Können wir es nicht, lassen wir Gefühle gar nicht erst zu und unterdrücken sie, bis sie unkontrolliert ausbrechen. Dann zeigen sich nur die Schattenseiten unserer Gefühle. Ein präsenter, kraftvoller und flexibler Körper kann uns hingegen helfen, Gefühle als positive Kraft einzusetzen. Spüren wir aufkommende Wut im Bauch rechtzeitig und verfügen wir über das nötige Durchsetzungsvermögen, müssen wir nicht gleich explodieren. Wir machen einfach klar, was wir anders haben wollen.

Gefühle und Spiritualität – Streben nach Einheit

Wenn wir also verstanden haben, dass Gefühle unser Rüstzeug sind, um auch mit schwierigen Situationen angemessen umzugehen, eröffnet sich eine neue Sichtweise: Gefühle motivieren, unser Leben bewusst und aktiv zu führen. Sie befähigen, uns in den Fluss des Lebens zu begeben und es in allen Facetten zu bejahen. Gefühle sind keineswegs Hindernisse auf unserem spirituellen Pfad zur Einheit, sondern im Gegenteil: Sie sind Ausdruck unseres Strebens nach Einheit. Durch den bewussten Umgang mit unseren Gefühlen nehmen wir das Leben mit allen Herausforderungen an, anstatt sie von uns wegzuschieben.

Gefühle in der Yogapraxis – Transformation und innerer Frieden

Für die Yogapraxis bedeutet das: In den Asanas verbinden wir uns – wie im Leben – gezielt mit unseren Gefühlen. Wir integrieren unsere Herzensthemen wie Offenheit, Freude, Angst oder Akzeptanz auf eine Weise, die uns emotional berührt, und verankern sie durch die Praxis in unserem Körper. Dadurch werden tiefgreifende Veränderungen in uns möglich. Wir lernen, in Anwesenheit unserer Gefühle im Frieden mit uns selbst zu sein. Unsere Yogapraxis kann so ein Weg zu mehr Selbstbestimmtheit, Klarheit und Sensibilität werden. Gefühle bestimmen unser Leben nicht länger, sondern werden zu einem treuen Wegweiser – auch durch stürmischen Zeiten.

 


 

Lisa-SintermannLisa Sintermann
ist Kulturwissenschaftlerin, freie Autorin und Yogalehrerin. Sie unterrichtet Element Yoga im YogaRaumBerlin und schreibt für Magazine und Zeitschriften über die Wissenschaft von Kunst, Yoga und Leben. Mehr Infos auf www.yoga-und-schreiben.de

Vivian Dittmar
Infos siehe Autorenbox am Ende der Seite…

 

 


 

Yogatipp:
Element Yoga im YogaRaumBerlin mit Alexander Kröker & Team:
www.yogaraum-berlin.de

Workshop:
„Die Kraft der Gefühle“
mit Vivian Dittmar im YogaRaumBerlin.
22.-24. April 2016
Mehr Infos auf www.yogaraum-berlin.de

 

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