Unser Gehirn bekommt in der Regel nur wenig oder kaum Beachtung, wenn wir etwas unternehmen, um uns gesund, flexibel und jung zu erhalten. Doch es kann durch falsche Nutzung, große Strapazen oder auch Unterforderung Schaden und Funktionseinbußen erleiden. Gegen all diese Probleme bietet Yoga die beste Medizin – es fordert und fördert das Gehirn.

 

 

Über das Gehirn

Das menschliche Gehirn arbeitet unermüdlich: Es steuert nicht nur das, was wir denken und fühlen, wie wir lernen und uns erinnern, wie wir uns bewegen und sprechen, sondern auch vieles, was wir nicht bewusst wahrnehmen – wie den Herzschlag, die Verdauung und auch den Grad an Stress, den wir spüren.

Das Nervensystem ist eine Art Netzwerk, das Botschaften vom Gehirn zu den verschiedenen Körperteilen sendet und von dort zurückbekommt. Im Vergleich zu seiner Größe ist das Gehirn extrem leistungsfähig. Durch die Entwicklung der Furchen und Falten in der Großhirnrinde hat die Evolution zusätzliche Areale bereitgestellt, um all die wichtigen Informationen des Gehirns unterzubringen. Die Gehirngröße macht zwar nur zwei Prozent der Körpergröße aus, für die Bewältigung seiner Aufgaben verbraucht das Gehirn allerdings 20 Prozent der Körperenergie (Stoffwechsel und Sauerstoff).

Das Gehirn eines jungen Menschen ist sehr anpassungsfähig. Oft kann ein Teil des Gehirns die Aufgabe eines anderen übernehmen, wenn dieser verletzt wurde. Wenn wir älter werden, wird es schwieriger für die Gehirnzellen, neue Verbindungen aufzubauen, was sich darin widerspiegelt, dass es im Alter herausfordernder für uns wird, neue Aufgaben zu meistern oder alte Verhaltensmuster zu ändern. Deswegen glauben viele Wissenschaftler, dass es wichtig ist, das Gehirn ständig zu fordern – zum Beispiel durch das Lernen, was zum Aufbau von neuen  Nervenverbindungen oder zur Stabilisierung von noch nicht befestigten Verbindungen führt. Dies hilft, das Gehirn das ganze Leben lang fit zu halten.

 

YAMA und NIYAMA reinigen und verfeinern das Gehirn

Der Mensch mit seinem hoch entwickelten Gehirn besitzt das Potenzial, seine „tierische Vergangenheit“ – mit den auf das Überleben konditionierten Impulsen und Verhaltensmustern – zu transzendieren und sich zu einem wahrhaft menschlichen Wesen zu entwickeln. Nach einigen Wissenschaftlern wie dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz haben wir dabei allerdings noch einem langen Weg vor uns. Das jetzige Entwicklungsstadium des Menschen charakterisierte Lorenz als „den Übergang von den Affen zum Menschen“.

Yoga ist die Wissenschaft der bewussten Entwicklung (Dr. Swami Gitananda Giri: „Yoga ist the science of conscious evolution“). Die Entwicklung eines Bewusstseins setzt eine Bewusstwerdung unserer tierischen Vergangenheit mit seinen Reaktions- und Verhaltensmustern voraus, um dann die ‚alten‘ Gehirnareale unter bewusste Kontrolle zu bekommen. Die Fähigkeit des Reflektierens, die Fähigkeit, eine Situation so zu sehen, wie sie im jetzigen Moment ist, ohne Konditionierungen und Verhaltensmuster aus der Vergangenheit, und dann eine adäquate Wahl zu treffen – das ist die Essenz von YAMA und NIYAMA, des moralischen und ethischen Systems, worauf der ASHTANGA YOGA basiert. Auf der Leiter der bewussten Entwicklung setzt Maharishi Patanjali YAMA und NIYAMA auf die ersten Stufen des achtstufigen Weges.

Wichtige Nahrung für die Gehirnzellen sind positive Gedanken. Dies bedeutet  auch das Loslassen des „inneren Abfalls“ von negativen Konditionierungen, Ideen und Gedankenmustern, die im Körper zu Spannungen und am Ende sogar zu Krankheiten führen können. Schon Patanjali empfiehlt in seinen YOGA SUTRAS, II-33 (Sadhana Pada), die Kultivierung positiver Gedanken (PRATIPAKSA BHAVANAM), um negativen Gedanken entgegenzuwirken. Für den Yogaübenden ist dies eine große Hilfe bei seinem Streben, nach den Gesetzen des YAMA und NIYAMA zu leben. Wir haben keine andere Wahl, als diese Gesetze zu befolgen, wenn wir uns spirituell entwickeln wollen. Vom Standpunkt des Gehirns aus betrachtet bedeutet dies, dass das Befolgen der Regeln des YAMA und NIYAMA zur Reinigung und Verfeinerung der Gehirnstrukturen führt. YAMAS zu befolgen bedeutet ‚nein‘ zu den tierischen Impulsen zu sagen, NIYAMAS zu befolgen wiederum dient der Kultivierung der menschlich-göttlichen Charaktereigenschaften. Die Gehirnstrukturen aus unserer Säuger-Reptilien-Vergangenheit kommen dadurch unter eine bewusste Kontrolle unseres Geistes. Das erfordert eine achtsame Lebensführung und ein ständiges intensives Üben, das zum Umbau der Gehirnstrukturen und zur Erschaffung von neuen neuronalen Netzwerken im Gehirn führen wird.

 

Yogaübungen als Gehirnnahrung

Die verschiedenen HATHA YOGA-, RAJA YOGA- und JNANA YOGA-Techniken haben die Kraft, unser Gehirn gesund und funktionsfähig, aktiv und jung zu halten. Yoga nährt das Gehirn mit einer Vielzahl an ASANAS, die zunächst ungewohnt für den Übenden sind, das Gehirn zum Umdenken zwingen, uns an unsere Grenzen bringen und – mit Achtsamkeit und tiefer Atmung durchgeführt – die Selbstreflexion fördern. Wenn wir die Glieder unseres Körpers in unkonventionelle, ungewohnte Positionen im Verhältnis zu einem anderen Körperteil bringen, werden ungewohnte Signale in das Gehirn zurückgeschickt. Solche neuen Signale „rütteln das Gehirn wach“, was das Organ zu neuen Reaktionsmustern zwingt. Viele ASANAS führen zur Entwicklung von neuen Gleichgewichtserfahrungen, wie zum Beispiel Balancieren auf dem Kopf, den Händen, dem Steißbein, einem Bein, den Schultern usw. Immer, wenn durch eine Übung ein neues Gleichgewicht hergestellt und gemeistert wird, müssen neue Verbindungen aufgebaut werden. Andere Übungen wiederum harmonisieren die Zwiesprache zwischen rechter und linker Gehirnhälfte, so dass eine einseitige Dominanz zugunsten eines Gleichgewichtes abgebaut werden kann. ASANAS öffnen daher eine ganz neue Welt der Körper-Gehirn-Interaktionen. Sie sind Nahrung für das Gehirn, Nahrung für unseren Gedankenapparat.

 

Aktivierung der Hirnzellen

In dem Yoga-System von Dr. Swami Gitananda gibt es viele Techniken, die Hirnzellen zu aktivieren. Besonders wichtig ist es, die Hirnzellen mit einer ausreichenden Menge an Sauerstoff zu versorgen. Dafür ist ein tiefer Atem notwendig. Die Atmung in den oberen Lungengebieten – ADHYAM PRANAYAMA – die mit dem Hand-Mudra ADHI MUDRA durchgeführt wird, aktiviert die Gehirnzentren für die oberen Lungengebiete, welche auch das Gehirn mit pranischer Energie versorgen. Viele ASANAS sind hilfreich, um das Gehirn mit Sauerstoff zu versorgen, wie z. B. DHARMIKA ASANA, MEHRU ASANA, PADOTTANA  ASANA, PADAANGUSH sowie HASTAPADA  ASANA und der König der Asanas SHIRSHA ASANA. Ein Beispiel, wie das Gehirn direkt mit Yoga-Asanas aktiviert werden kann, ist die Verwendung von Fußpositionen wie VAJRA VEERA  ASANA, welche in Form von Fußreflexzonen-Therapie direkt Nervenzellen des Gehirns anregen oder GULPHA VAJRA  ASANA, das die Zirbeldrüse aktiviert. Sehr gut für die Aktivierung der Zirbeldrüse ist auch die yogische Ganzkörper-Aktivierungs-Kriya SURYA NAMASKAR, der Sonnengruß. Am besten ist es, diese Übung frühmorgens mit dem Gesicht zur aufgehenden Sonne zu machen und die vitalen Strahlen vom ganzen Körper absorbieren zu lassen, während man tief atmet und verschiedene Körperteile den Sonnenstrahlen aussetzt. Durch das regelmäßige Üben von SURYA NAMASKAR werden die geistige Aktivität des Gehirns und die Jugendlichkeit des Geistes gefördert. Eine andere wichtige Übung für die Aufrechterhaltung unserer geistigen Gesundheit ist BRAHMA MUDRA. In dieser Übung wird der Kopf mit der Einatmung in vier Richtungen bewegt und mit der Ausatmung, A-U-I-M intonierend, wieder in die Mitte zurückgebracht.

 

Mantras als Gehirnnahrung

Mantrische Töne aktivieren Gehirnzellen und liefern heilsame Vibrationen für das Gehirn. Durch Visualisierung können wir unsere Gedankenprozesse trainieren und unsere Vorstellungskraft erweitern. Mantras wie das Mantra aller Mantras PRANAVA AUM fördern die Einkehr nach innen und helfen uns, auf eine andere Bewusstseinsebene zu gelangen.

 

Reinigung des Gehirns

Für einen Yogi ist die Reinheit seines Lebensumfeldes wichtig. Diese Forderung sollte auch für das Gehirn gelten. Es gibt eine Reihe von Techniken, die uns dabei helfen, unser Gehirn sowohl auf der grobstofflichen als auch auf der feinstofflichen Ebene sauber zu halten. Ideale Techniken sind die Methoden der Wechselatmung,  wie diese von Dr. Swami Gitananda Giri gelehrt wurden. Er lehrte, dass die vitale pranische Energie mit der Einatmung durch SURYA NADI in den Körper eintritt. Die negative apanische Kraft verlässt den Körper durch die Nervenendigungen des CHANDRA NADI. Das Ziel der Wechselatmung ist es, diese beiden Energien ins Gleichgewicht zu bringen. Eine wichtige Methode der Gitananda-Schule ist LOMA-VILOMA PRANAYAMA (in einigen Schulen NADI SHUDDI genannt), das die Nadis (Nerven) reinigt und Energieflüsse aufbaut. Hier atmet man immer durch das rechte Nasenloch ein, hält die Atmung kurz ein, atmet durch das linke Nasenloch aus und hält danach die Atmung kurz aus. Ein SAVITRI PRANAYAMA-Rhythmus (z. B. 8:4:8:4) kann hierbei benutzt werden. VISHNU MUDRA hilft, die alternierende Nasenatmung zu kontrollieren und die Konzentration auf die Atembewegung zu fixieren.

Spannungen, die im Nervensystem abgelagert sind, können effektiv durch die Wechselatmungs-Techniken der Gitananda-Tradition NADI SHODDHANA und NADI SHUDDI gelöst werden. Bei NADI SHODDHANA handelt es sich um eine grobe Reinigung, NADI  SHUDDHI wiederum ist eine verfeinerte Methode, die erst nach der groben Reinigung angewendet werden sollte. Weitere wichtige Reinigungstechniken sind ANUNASIKA PRANAYAMA, die die Nasennebenhöhlen und alle Öffnungen im Schädel reinigt und KAPALA BHATI, der ‚Schädel-Reiniger‘, welcher dem Yogi eine reine Gehirnstruktur gibt und das Gedächtnis verbessert. Diese Techniken bereiten den Weg für eine höhere Gehirn-Geist-Aktivität des Yoga-Aspiranten vor.

 

Das Gehirn muss gefordert werden

Unser Gehirn bekommt in der Regel nur wenig oder kaum Beachtung, wenn es darum geht, uns gesund, flexibel und jung zu halten. Das Gehirn kann vielfach durch falsche Nutzung, Überstrapazieren und Unterforderung Schaden erleiden und als Organ schlaff, weich und funktionsuntüchtig werden. Gegen all diese Probleme bietet Yoga die beste Medizin, fordert und fördert das Gehirn. Dieser Beitrag gibt einen kleinen Einblick in die umfassende und tiefgründige Lehre von Dr. Swami Gitananda. Wenn unser Gehirn allerdings der Untätigkeit preisgegeben ist oder, wie Swami Gitananda dies ausgedrückt hat: „If you don’t use it you will lose it“, werden all das Wissen und die Techniken keinen Nutzen bringen. Von größter Bedeutung – nicht nur für einen Yogaübenden – ist daher eine Lebensweise, die unseren Geistesapparat jeden Tag in jeder nur erdenklichen Weise stimuliert, wachsen lässt, so dass es als ein brauchbares Instrument für unsere spirituelle Evolution dienen kann. 

 


Abb: © ktsdesign – Fotolia.com

 

Über den Autor

Avatar of Dr. Arja Miettinen-Baumann

(Yogacharini Vijaya) praktiziert seit 1994 Yoga. Sie wurde am International Centre of Yoga Education and Research (ICYER, Pondicherry, Indien) zur Lehrerin in der Gitananda-Tradition ausgebildet und unterrichtet Yoga seit 2007 in Berlin.

Vortrag und eine Demonstration auf dem Yoga-Festival zum Thema Yoga und Gehirngesundheit am 2. Juli 2010, 17 bis 18.30 Uhr

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