Die aus der Globalisierung entstandenen wirtschaftlichen Herausforderungen haben die westlichen Gesellschaften in eine Krise geführt, die weit über die ökonomischen und sozialen Fragen hinausgeht. Wenn in der westlichen Kultur wirtschaftliches Wachstum nur noch sehr eingeschränkt möglich ist, stellt sich für jeden Einzelnen in seiner Lebensplanung die Sinnfrage auf eine neue Art. Van de Weyers Buch „Zen und die globale Krise des Kapitalismus“ versucht, diese Sinnfrage zu beantworten und greift dazu auf die Zen-Weisheiten des alten Japan zurück – weniger ist mehr. Wenn wir nicht mehr sinnvoll in die Wirtschaft investieren können, müssen wir lernen, in unser Selbst zu investieren, um eine Zukunft zu gewinnen. Ein Plädoyer für eine neue Perspektive, die Spiritualität und Ökonomie verbindet.

Auszüge aus dem Buch „Zen und die globale Krise des Kapitalismus“ von Robert van de Weyer

Der Joker am östlichen Rand

Am rechten des Rand des Globus – wenn man ihn flach ausbreitet – finden wir einen wirtschaftlichen Akteur, der sich nach außen ziemlich eigenartig benimmt. Im ganzen zwanzigsten Jahrhundert und vor allem seit 1950 übernahm und kopierte Japan die Methoden der westlichen Industrie und erreichte dabei verblüffende Wachstumsraten. Anfang der achtziger Jahre schien Japan sogar die Vereinigten Staaten überholen zu können. Aber während die Wirtschaft Nordamerikas und Europas gegen Ende der achtziger Jahre immer weiter voranpreschte, kam Japan zum Stillstand und verharrt seither in Stagnation. Vielen westlichen Beobachtern der japanischen Wirtschaft ist dies aufgefallen, und die meisten vermuten, dass der Grund in irgendeinem besonderen Problem der japanischen Wirtschaft oder gar der japanischen Psyche liegt.
… Westliche Wirtschaftstheoretiker der Vergangenheit – und zwar vor allem John Maynard Keynes und Karl Marx – würden jedoch ohne Schwierigkeiten die Hauptursache des japanischen Dilemmas erkennen: den Geiz. Japanische Haushalte sparen gegenwärtig fast ein Drittel ihres verfügbaren Einkommens, während westliche Haushalte durchschnittlich weniger als ein Zehntel sparen.
Marx und Keynes erkannten beide, dass Geiz im Frühstadium der kapitalistischen Entwicklung entscheidend ist, um den Bau von Fabriken und den Kauf und Einsatz schwerer Maschinen zu ermöglichen. Der Soziologe Max Weber glaubte sogar, dass die protestantische Betonung der Sparsamkeit und des Geizes den Beginn der kapitalistischen Wirtschaften Europas unterstützte.
In den mittleren Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts war auch die japanische Sparsamkeit für den ungeheuren Erfolg Japans von entscheidender Bedeutung. Aber wie Keynes und Marx schon bemerkten, kommt es in der fortschreitenden und reifenden kapitalistischen Wirtschaft zu einem Punkt, an dem Sparsamkeit einzelner Menschen diese selbst reich macht, während Sparsamkeit, die von allen praktiziert wird, alle arm macht.

Die Rolle des Jokers ist es, töricht zu erscheinen und dennoch Weisheit zu lehren. Für die meisten Menschen im Westen ist die japanische Sparsamkeit eine unsinnige Herausforderung all der Werte, an denen sich ihre eigene Wirtschaftsmacht orientiert. Natürlich glauben wir hier im Westen, dass der einzige Zweck harter Arbeit und wirtschaftlichen Erfolges darin liegt, die Früchte dieser Anstrengung auch zu genießen. Aber sowohl Marx als auch Keynes neigten zu der Ansicht, dass die Menschen in der entwickelten kapitalistischen Wirtschaft wahrscheinlich sehr viel mehr produzieren werden als sie eigentlich konsumieren wollen. Was übrig bleibt, könnte also angespart werden.
… Und wir werden merken, dass Sparsamkeit klug und sinnvoll ist – so sehr, dass es den Haushalten westlicher Länder sogar zu empfehlen wäre, dem japanischen Beispiel irgendwann zu folgen.

Die Ökonomie des Sparens

Zen und die globale Krise des KapitalismusWenn die Leute reicher werden, sinkt ihr Verlangen nach zusätzlichen Gütern, so dass sie einen zunehmenden Teil ihres Einkommens als Ersparnis beiseite legen können, behauptete Jeremy von Bentham (engl. Sozialreformer, Anm. d. Red.) und zeigte zwar, weshalb Sparen bei einer Einkommenssteigerung leichter wird, aber er erklärte nicht, warum Menschen überhaupt sparen wollen.
… Die Industrialisierung trennte nicht nur den Akt des Sparens vom Akt des Investierens, sondern schwächte auch die ökonomische Beziehung zwischen den Generationen … Die Folge: Alte Leute müssen in den industriellen Gesellschaften großenteils oder vollständig für sich selbst sorgen. Deshalb müssen sie in den Jahren der Erwerbstätigkeit genügend Wohlstand ansammeln, um ihre materiellen Bedürfnisse am Lebensabend decken zu können. Dies impliziert, dass die Ersparnisse in der Nachfrage der Wirtschaft keinen permanenten Verlust darstellen. Die Leute verschieben lediglich ihren Konsum auf später. … Offenbar haben die Japaner das erkannt und sind deshalb richtig aufs Sparen versessen.
 
… Wenn die Leute sparen würden, indem sie dauerhafte Konsumgüter besserer Qualität kaufen, käme es nicht zu einer Minderung, sondern zu einer Veränderung der Nachfrage … Die Verbindung von Konsum und Sparen ist also eine außerordentlich effiziente Form des Sparens.

… Und wenn die Leute im Westen ganz bewusst beginnen würden, höchst robuste und ganz dauerhafte Konsumgüter nachzufragen, so würden sie auch die Quantität der produzierten Güter reduzieren – sie würden Quantität durch Qualität ersetzen. Auf diese Weise könnte dann der Druck auf unsere Umwelt vermindert werden.

Die meisten Menschen in der westlichen Welt haben einen Grad an Wohlstand erreicht, in dem Investitionen ins eigene Selbst die allerhöchste Rendite abwerfen.

… Wenn man Zeit mit spirituellen Aktivitäten wie Yoga oder Tai Chi verbringt, die langfristig Körper und Geist heilen und gesund halten können, so kann man dies auch als eine Form des Sparens betrachten: Man verausgabt Anstrengung in der Gegenwart, um in ferner Zukunft die Früchte zu ernten. Wenn sich wesentlich mehr Menschen mit solchen Aktivitäten befassen würden, dann würden sich auch religiöse Haltungen  verändern. Weltoffene und tolerante Formen der Religion könnten sich etablieren und so eine Alternative zu religiösem Fanatismus bilden. Eine ähnliche Art des Sparens wäre es, wenn es organisatorische Modelle gäbe, in denen man für alte oder kranke Menschen sorgen könnte, um dafür im Alter oder bei Krankheit selbst Pflege zu bekommen. Dies könnte auch der ewigen und ständig sich verschärfenden Krise im Gesundheitswesen abhelfen.

… Selbst kleine und nebensächliche Entscheidungen von Menschen können große Wirkungen erzeugen. Es sind einzelne Menschen, die sich entscheiden, in Zukunft Turnschuhe statt normalen Schuhen zu tragen. Die Folge ist, dass sich die gesamte Industrie neu positioniert. Es sind einzelne Menschen, die beschließen, dass sie im Auto bequemer vorwärts kommen als im Bus oder im Zug. Die Folge ist, dass in unserem Verkehrssystem eine Umschichtung stattfindet. … Die Entscheidung einzelner Haushalte über die Höhe der Ausgaben und Ersparnisse erscheint ganz klein und unwichtig. Aber auch Marx und Keynes erkannten, dass von dieser Entscheidung die gesamte Zukunft unseres ökonomischen Systems abhängt. Gegenwärtig wird die japanische Wirtschaft durch ein hartnäckig hohes Sparvolumen erschüttert. Wenn sich die japanische Sparsamkeit zum Westen hin ausbreitet, wird es ein Erdbeben in der Weltwirtschaft geben.

Zen und die globale Krise des Kapitalismus: Ins eigene Selbst investieren

Zen und die globale Krise des KapitalismusIm Buddhismus … ist die Transformation des eigenen Selbst der Schlüsselbegriff. Als sich der Buddhismus über China und dann weiter nach Japan ausbreitete, entstanden mehrere neue Sekten, die ihre jeweils eigenen theologischen Lehren verkündeten. Die mächtigste Form des Buddhismus in Ostasien war die Ch`an-Lehre, wie sie in China genannt wurde. In Japan wandelte sich dieser Name zu ”Zen”, und diese Richtung enthält so gut wie keine Form der Theologie. Die Essenz des Zen ist eine Form von Bewusstseinsbildung, die auf Erleuchtung abzielt. In diesem Zustand erfreut sich das Individuum tiefer und permanenter Heiterkeit.
So gesehen ist die Religion eine alternative Ökonomie. In unseren normalen ökonomischen Aktivitäten versuchen wir, unsere materielle Welt zu nutzen, um Güter zu produzieren und zu konsumieren, die unsere Wünsche und Bedürfnisse befriedigen. In unserer religiösen Ökonomie versuchen wir, uns an unsere Situation anzupassen, indem wir unsere Wünsche und Bedürfnisse klären und reduzieren. Denn dadurch erreichen wir ein höheres Niveau des Wohlbefindens auf der Basis von weniger Konsum. Deshalb ist die vom Zen empfohlene Form des Mental-Trainings eine Art von Investition. … Wir verzichten auf unser unmittelbares Vergnügen, um in der Zukunft größeres Glück zu erleben. Natürlich schließen sich materielle und religiöse Ökonomie gegenseitig nicht aus … aber Zen und ähnliche Religionen lehren, dass die Kunst, glücklich zu sein, darin besteht, die richtige Balance zu finden.

… Während die Kinder der Armen davon träumen, dass Reichtum ihnen Glück bringt, wissen die Kinder der Reichen aus Erfahrung, … dass der Genuss abnimmt, wenn zusätzliche Güter konsumiert werden. Deshalb neigen sie dazu, nach anderen Wegen zum Glück zu suchen. … In dem Maße, in dem immer mehr Menschen immer mehr Zeit auf Selbst-Transformation verwenden, tendieren sie dazu, ihre aufs Geldverdienen gerichtete Arbeitszeit zu reduzieren. Diese besondere Art des Sparens – die Investition ins eigene Selbst – reduziert sowohl Nachfrage als auch Angebot innerhalb der materiellen Ökonomie.

Es gibt aber auch Gründe zu sparen, um in der Zukunft mehr ausgeben zu können (z. B. um eine bessere Altersversorgung zu haben).

Mit freundlicher Abdruckgenehmigung der Ullstein Buchverlage GmbH

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„Zen und die globale Krise des Kapitalismus“ von Robert van de Weyer

 

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