Ein friedliches Miteinander ist möglich

Seit 2012 finden verschiedene GFK-Retreats im EcoMe-Zentrum am Toten Meer statt, darunter neuntägige Intensiv-Retreats und Wochenendworkshops für Frauen. Die Teilnehmenden sind Israelis, Palästinenser und Gäste aus anderen Ländern und aus allen Altersgruppen. Gemeinsam kommen für diese Zeit bis zu 100 Menschen zusammen, lernen und leben die Gewaltfreie Kommunikation und kreieren eine Realität, in der ein friedliches Miteinander möglich ist.

Der Ort der Workshops liegt in einem der wenigen Gebiete, zu dem sowohl Israelis als auch Westbank-Palästinenser freien Zugang haben. Das EcoMe Center nahe Jericho ist ein Zentrum für spirituelle, persönliche und ökologische Nachhaltigkeit, gegründet und getragen von Menschen aus Palästina und Israel. Unter einfachsten Bedingungen findet hier Begegnung statt. Natürlich sind diese Begegnungen nicht immer problemlos. Alle Menschen hier tragen den Schmerz, die Angst und das Misstrauen von Generationen in sich. Frieden hat hier noch niemand erlebt.

Richtet man den Blick in die politische Landschaft, ist es leicht, zu verzweifeln und den Mut zu verlieren. Hier bietet die Gewaltfreie Kommunikation einen Lichtblick. Ihr Begründer Marshall Rosenberg (Psychotherapeut und Schüler von Carl Rogers) entwickelte diese Form der Kommunikation, die die menschlichen Bedürfnisse in den Mittelpunkt des Dialogs stellt. Da wir alle die gleichen Bedürfnisse haben, bieten sie in einem Konflikt Zugang zu Verbindung und Verständigung und damit zu Lösungen, die alle Beteiligten berücksichtigen. So erkennen wir beispielsweise immer wieder, dass sowohl auf israelischer als auch auf palästinensischer Seite das Bedürfnis nach Sicherheit sehr stark ist.

Um in Kontakt mit unseren Bedürfnissen zu kommen, ist es wichtig, auch den Zugang zu unseren Gefühlen zu pflegen. Sie dienen uns als Hinweise und geben uns Aufschluss darüber, ob und wie stark unsere Bedürfnisse erfüllt sind. So weisen Gefühle wie Freude, Liebe, Zufriedenheit etc. auf erfüllte Bedürfnisse hin, Gefühle wie Angst, Trauer, Unsicherheit … deuten darauf hin, dass Bedürfnisse nicht erfüllt sind.

Gewaltfreie Kommunikation: Urteilsfreies Zuwenden

Sich urteilsfrei den Gefühlen und Bedürfnissen eines Menschen zuzuwenden und sie als dessen Lebensrealität anzuerkennen, ohne sie zu bewerten, bezeichnen wir als Empathie. Dies beschreibt die Grundhaltung, die der Gewaltfreien Kommunikation zugrunde liegt und mit der wir versuchen, uns selbst und anderen zuzuhören. Empathisch zuzuhören bedeutet jedoch nicht – wie oftmals missverstanden wird – die Handlungen des anderen fraglos hinzunehmen. Im Gegenteil: Neben dem empathischen Zuhören ermutigt die Gewaltfreie Kommunikation besonders den ehrlichen Selbstausdruck. Das Mitteilen unserer eigenen Gefühle und Bedürfnisse (anstatt unserer Urteile oder Meinungen) macht es wahrscheinlicher, dass wir wirklich gehört werden und dass wir eine echte Verbindung schaffen können.

So ermöglicht uns die Gewaltfreie Kommunikation, einander in unseren Gemeinsamkeiten zu erkennen und gleichzeitig unsere Unterschiede auf friedvolle Art zu leben.

Morgens und abends treffen sich alle TeilnehmerInnen des Trainings in der ganzen Gemeinschaft, um miteinander zu teilen, was sie gelernt und erfahren haben; tagsüber gibt es verschiedenste Workshops, in denen die Gewaltfreie Kommunikation gelernt, angewandt und vertieft wird. Kleingruppen, sogenannte „Homegroups“, treffen sich über die ganze Zeit hinweg täglich, um sich gegenseitig zu begleiten und zu unterstützen. Empathische Begleitung ist vonseiten des Teams rund um die Uhr verfügbar.

Mahmoud aus der Westbank kommt zum ersten Mal zu unseren Trainings, er ist voller Wut, Frust und auch Skepsis, was die Gewaltfreie Kommunikation angeht. Was das denn alles solle, sagt er – man müsse sich doch verteidigen können … In der ersten Workshopsession zum Thema Empathie ist er der erste, der Einfühlung bekommt. Trainer und Gruppe hören ihm vorbehaltlos zu, und er beginnt seinen ganzen Schmerz zu teilen, seine Ängste, seine Hoffnungen und Träume … Nach diesen 45 Minuten ist er komplett verändert. Es ist neu für ihn, dass man einander zuhört, ohne gleich die eigene Geschichte hineinzumischen und die Schuld – frage zu wälzen. Heilsam, einfach nur gehört und gesehen zu werden – als Mensch! Am Ende des Trainings sagt Mahmoud: „Dies waren die schönsten neun Tage meines Lebens!“

Seither nimmt er an zahlreichen Friedensaktivitäten teil, ist Yogalehrer geworden und schreibt an einem Buch darüber, wie er seine Wut in Kraft verwandelt.

Gemeinschaft leben

Ein wichtiger Teil des Trainings ist es, dass wir unseren Alltag miteinander teilen – gemeinsames Essen und Abwaschen, Abende am Feuer, Schlafen in großen Schlafräumen für Männer und Frauen – und einander teilhaben lassen an unseren religiösen und spirituellen Bräuchen und Ritualen. Wir erleben Gemeinschaft. Wenn auch nur auf Zeit, so gibt uns das doch eine Idee, ein Bild, wie friedliches Zusammenleben aussehen könnte. Und die Gemeinschaft spinnt sich weiter. Zahlreiche Projekte entstehen aus den Trainings: Sommercamps, Yogaausbildungen, Übungsgruppen, Online-Projekte und natürlich viele Freundschaften und Kooperationen über Grenzen hinweg.

Es kommen Menschen jeden Alters. Unter ihnen sind solche, die schon viel Erfahrung mit Dialog- und Begegnungsarbeit oder mit Gewaltfreier Kommunikation haben, aber auch solche, die sich hier zum ersten Mal mit einer Person der „anderen Seite“ unterhalten.

Die Gewaltfreie Kommunikation hilft hier, gewohnte Denk- und Kommunikationsmuster zu durchbrechen und zu lernen, auf eine andere Weise über den Konflikt sprechen zu können: die eigene Wahrheit voll auszudrücken auf eine Weise, die Verbindung und Verständnis schafft, anstatt Feindschaft zu manifestieren.

Während wir in einem solchen Workshop neue Möglichkeiten üben, über den Konflikt zu sprechen, ziehen immer wieder mit lautem Getöse Düsenflieger über unsere Köpfe, die hier in der Wüste ihre Probeflüge machen. Eine junge Palästinenserin beginnt zu erzählen, welche Angst und Trauer diese Geräusche bei ihr auslösen. Weinend teilt sie ihre Geschichte. Wir anderen hören ihr einfach zu, schenken ihr unsere Präsenz, hierzu muss nichts mehr gesagt werden. Eine ältere Frau, religiöse Jüdin aus Jerusalem, setzt sich neben sie und nimmt ihre Hand. Bis zu diesem Training hat sie sich noch nie mit einem Palästinenser unterhalten. Am Ende des Workshops sagt sie: „Nun ist es nicht mehr so…“ sie zeigt ihre Faust, „sondern so…“ und verschränkt ihre Finger mit denen der anderen Frau.

Wir erleben die heilsame Wirkung, wenn dieser Schmerz wirklich einmal tief gehört wird – vielleicht zum ersten Mal im Leben eines Menschen, dessen tagtägliche Realität davon geprägt ist. Wir erleben, wie Vertrauen entsteht, wenn es Raum für Konflikte gibt – und Konflikt sich von einer fortwährenden Gewaltspirale in eine Möglichkeit zur Begegnung wandelt. Wir sehen das Erstaunen in den Gesichtern, wenn etwas in ihnen leise anfängt sich zu fragen: „Dieser Mensch hier wird gerade zu meinem Freund. Kann er denn noch mein Feind sein? Und können dann seine Freunde und Verwandten meine Feinde sein?“ Solche Bilder brennen sich mir ins Herz, Geschichten, die eine andere Realität erahnen lassen…

Freundschaft über Grenzen hinweg

Ahmad, Palästinenser aus Jerusalem, will auf der Stelle wieder umkehren, als er hebräische Schriftzeichen sieht. Er vertritt die Überzeugung, dass jegliche Kooperation mit Israelis die Besatzung der Westbank normalisieren könne. Seine Kollegin überredet ihn, einen Tag zu bleiben. Ahmad gelangt in eine Kleingruppe mit zwei jungen israelischen Frauen, mit denen er sich anfreundet. Er bleibt. Nach dem Training wollen ihn seine neuen Freunde in Jerusalem treffen. Er zögert: Kann er, der immer gegen jeglichen Kontakt mit Israelis gekämpft hat, sich mit Israelis in der Stadt sehen lassen? Seine Freundschaft siegt. Fortan trifft er nicht nur seine neuen Freunde in der Stadt, sondern plant auch gemeinsame Trainings für israelische und palästinensische Jugendliche, in denen sie die Gewaltfreie Kommunikation lernen können.

Albert Einstein hat einmal gesagt: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Hier in unseren Trainings erleben wir am eigenen Leib, was das bedeutet. Nach diesen neun Tagen ist der Nahost-Konflikt nicht beendet, aber etwas ist anders. Hinter Identitäten und Identifikationen zeigt sich Menschlichkeit. Seit Generationen überlieferte Feindbilder bekommen einen feinen Knacks, durch den sich behutsam die zarte Pflanze der Verständigung schiebt.

Marshall Rosenberg zeigte uns die neue Denkweise, die wir brauchen, um Feindschaft zu verlassen und Vertrauen aufzubauen. Wenn wir bereit sind, einander wirklich in unseren universellen Bedürfnissen zu sehen, entsteht eine Verbundenheit und eine kreative Kraft, die bis dahin undenkbare Lösungen hervorbringen wird. Dies lässt uns hoffen, dass eines Tages, wenn genug Menschen sich dieser Denkweise öffnen, auch in Nahost politische Lösungen möglich sein werden, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können.

 

Eine Antwort

  1. Iris Depping
    Tragfähige Vision

    Danke für diesen Artikel! Diese Form der Kommunkation zwischen verfeindeten Staaten oder Bevölkerungsgruppen ist eine tragfähige Vision für eine moderne Gesellschaft. Es ist die nächst intelligentere Ebene, auf der das angestrebte Ziel „Weltfrieden“ in Reichweite rückt.

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