Jeder von uns wird immer wieder mit Situationen konfrontiert, die ihn überfordern könnten. Valérie Dätwyler und Götz Brase zeigen, wie wir achtsam mit solchen Situationen umgehen können und wie die gewaltfreie Kommunikation (GFK) bei der Bewältigung von Überforderungssituationen im Bereich unserer Beziehungen helfen kann.

Überforderung gehört leider zum Leben dazu. Wenn es eine Instanz geben würde, bei der man sich beschweren kann, dass das Leben zu schwierig, zu überfordernd ist, würden sich die meisten wahrscheinlich sofort dort melden. Wir gehören auch dazu. Auf der anderen Seite gibt es die Weisheit, dass an der Grenze zur Überforderung der Lerneffekt am größten ist und ich erfahren kann, wie ich achtsam mit Überforderung umgehe. Überforderung, was heißt das eigentlich? Es ist ein Gefühl oder eine Realität, dass eine Situation zu schwierig ist und die eigenen Ressourcen nicht ausreichen, um sie zu bewältigen. Dabei ist die eigene Einschätzung wichtig, ob das Problem nur durch Gefühle aufgebauscht wird und unlösbar erscheint oder ob es real existiert.

Man muss sich in der Folge entscheiden, ob es richtig ist, dranzubleiben und zu versuchen, die problematische Situation zu lösen, oder ob Trennung angesagt ist, zum Beispiel im Beruf oder in einer Beziehung. Die stimmige Bewertung ist darum so wichtig, weil man sowohl zu früh aussteigen und sich und dem anderen die Chance der Entwicklung nehmen kann als auch zu sehr dran bleiben, bis die eigenen Ressourcen verbraucht und ausgebrannt sind.

Unterstützend ist dabei, einen guten Zugang zur inneren Stimme zu haben, um zu erkennen, was einem das Leben, die universelle Energie sagen will. Es gilt auch zu schauen, dass die eigenen Ressourcen gut eingesetzt werden und achtsam damit umgegangen wird. Scott Peck, ein amerikanischer Psychotherapeut und Autor von „Der wunderbare Weg“ und „Gemeinschaftsbildung – der Weg zu authentischer Gemeinschaft“, pflegte seinen Klienten am Anfang seiner Therapie zu sagen: „Bei mir werden Sie nicht glücklicher, sondern fähiger, Probleme zu lösen.“ Mit anderen Worten, die Latte, wonach Situationen als Überforderung erlebt werden, kann durch Therapie und Übung nach oben verschoben werden. Leben heißt Probleme zu lösen. Jeden Tag wird man mit kleinen und großen Situationen konfrontiert. Mit der Zeit entwickeln sich Lebenserfahrung und die Fähigkeit, schwierigen Situationen standzuhalten.

Verschiedene Reaktionsebenen

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, auf eine schwierige Situation zu reagieren. Erstens: Sie ignorieren. Gemäß dem Schalenmodell (siehe Bild) ist das die äußerste Schicht. Man verdrängt, lenkt sich ab, tut so, als ob es das Problem nicht gibt. Wenn das nicht mehr möglich ist, wird die zweite Schicht aktiviert. Man wird ärgerlich und aggressiv gegenüber dem Auslöser, reagiert mit Vorwürfen und Beschuldigungen. Das ist kein achtsames Verhalten und wird entsprechend von der Umgebung quittiert, also ebenfalls mit Reaktionen aus der zweiten Schicht, wodurch Streit und Ärger vorprogrammiert sind. Irgendwann gelangt man in die dritte Schicht. Man ist nicht mehr beim anderen, sondern schaut bei sich selbst, fängt an zu fühlen, was die überfordernde Situation mit einem macht. Das sind dann erst meist apathische, depressive Gefühle oder Trauer. Gegenüber seinen Mitmenschen ist man aber offener und achtsamer.

Der andere kann einem dadurch zuhören und zur Unterstützung da sein. Bleibt man an diesen Gefühlen dran, verändern sie sich und Lösungen kommen in Sicht. Achtsam auf Überforderung reagieren heißt also, sich zu bemühen aus der dritten Schicht zu reagieren und nicht aus der ersten und zweiten. Im Grunde sind das auch die Inhalte der gewaltfreien Kommunikation. Scott Peck hat in diesem Zusammenhang den Begriff persönliche Abrüstung geprägt. Das heißt, die schwierigen Gefühle der dritten Schicht wie Apathie und Hoffnungslosigkeit anzunehmen, zu fühlen, sich nicht abzulenken bzw. in die erste und zweite Schicht zu flüchten. Wenn ich lange genug an diesen schwierigen Gefühlen dranbleibe, ergeben sich Lösungen. Dabei kann Beziehung/Freundschaft/Gemeinschaft sehr hilfreich sein.

Achtsamen Rahmen aufbauen

Sowohl im Beruf als im Privaten ist das Zwischenmenschliche meist das Problem – der Umgang mit den Gefühlen. Mit Fleiß, Lebenserfahrung und gesundem Menschenverstand kann man viele Situationen lösen. In Beziehungen sind die Möglichkeiten begrenzt, in denen uns der Verstand helfen kann. Es ist schwieriger, die Achtsamkeit aufrecht zu erhalten, man kann leichter in Gefühlen der Überforderung versinken. Aber auch da befreien wir uns aus Konfliktsituationen, indem wir versuchen, aus der dritten und vierten Schicht zu kommunizieren, also möglichst gewaltfrei, sodass sich die Situation nicht verschlimmert und Entspannung eintreten kann. Dazu gehört auch ein gewisses Knowhow. Was für einen Rahmen muss ich erschaffen, damit ich genügend Ressourcen habe, um mir die Überforderungssituation anschauen zu können? Wo liegen meine Stärken? Im Sprachlichen, Körperlichen, in Berührung, Musik, Tanz? Meist führt kein Weg um den sprachlichen Ausdruck herum, ist er doch etwas Zentrales in unserem Leben.

Das Schwierige daran ist, einen achtsamen Rahmen aufzubauen, in dem genügend Raum und Sicherheit vorhanden ist, um sich die Dinge anzuschauen und sich aus Überforderungssituationen herausarbeiten zu können. Michael Lukas Müller („Die Wahrheit beginnt zu zweit“) hat die Zwiegespräche entwickelt, in denen sich Paare einen achtsamen Rahmen aufbauen können – unabhängig von einem Therapeuten. Im Bereich von nicht geleiteten Gruppen (Scott Peck spricht von einer „group of all leaders“) sind die wichtigsten Rahmen das Council (Redestabkreise) und die Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck (Näheres auf www.gemeinschaftsbildung.com); hier können sich Teilnehmer in ihrer gegenseitigen Entwicklung unterstützen. Es lohnt sich, diese Methoden in einem Workshop kennen zu lernen.

Richtige Einschätzung

Glaubenssätze spielen eine gewisse Rolle, um Situationen richtig einzuschätzen. Sie können den Blick auf die Dinge einfärben und einen in einer Überforderungssituation festhängen lassen. Eine besonders schwierige ist die des Selbstmitleids. Es erfordert eine guten inneren Beobachter, um derartige Muster zu erkennen und sich davon nicht bestimmen zu lassen. Man kann sie nicht abstellen, aber das bewusste Wahrnehmen und Ausdrücken nimmt Ihnen die Kraft. In der Gemeinschaftsbildung spricht man von Sich-Leermachen, also dem Erkennen und Aussprechen von Dingen, sodass sie bewusster werden und nicht mehr so stark Einfluss nehmen können. Ein Sprichwort sagt: Es gibt keine ungelösten Probleme, es gibt nur Probleme, die noch nicht genügend angeschaut wurden. Zwar macht man es sich damit zu einfach, doch es hilft sicherlich, sich eine Situation so lange anzuschauen, bis Lösungen in Sicht kommen. Manchmal sind diese Prozesse allerdings sehr langwierig und es braucht viel Geduld, wie Rilke es in dem nachfolgenden Gedicht beschrieben hat.

Über die Geduld
(von Rainer Maria Rilke)
Man muss den Dingen
die eigene stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist austragen – und
dann gebären …

Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer kommen könnte.
Er kommt doch!

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos still und weit…
Man muss Geduld haben
mit dem Ungelösten im Herzen
und versuchen,
die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben
und wie Bücher, die in einer
sehr fremden Sprache geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht
allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.

 

Die Autoren

Götz Brase ist seit 15 Jahren Begleiter von Workshops zur Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck (das Erlernen, wie Gruppen sich selber leiten können als „group of all leaders“). Nach diversen Erfahrungen mit Gurus und entsprechenden Gruppen stieß er auf die Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck und hat die Methode in Deutschland bekannt gemacht. Er ist Mitbegründer des Gemeinschaftsprojektes Schloss Oberbrunn am Chiemsee (www.schloss-oberbrunn.eu)

Valèrie Dätwyler hat mehrjährige Erfahrung mit dem Begleiten des gemeinschaftsbildenden Prozesses nach Scott Peck und wohnt im Gemeinschaftsprojekt Schloss Oberbrunn, Nähe Chiemsee

Götz Brase und Valérie Dätwyler bieten Seminare zum Thema Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck an, in denen es darum geht, authentische Kommunikation und Eigenverantwortung in einer „group of all leaders“ zu üben. Die nächsten Workshoptermine: Ökodorf Siebenlinden 29.-31.3. und Berlin Kreuzberg 28.-30.4.2019
Mehr Infos unter Tel.: 08624-879 59 62 oder gemeinschaftsbildung@t-online.de www.gemeinschaftsbildung.com

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