Ich war 19 Jahre alt und hatte meine ersten Erfahrungen mit der sexuellen Vereinigung hinter mir. Doch durch das schnelle Rein-Raus blieben meine geliebten Orgasmen aus. Stattdessen war ich danach oft wund oder hatte Blasenentzündungen. „Das kann nicht alles ein!“
Tief innen war mir klar: Man müsste aus der körperlichen Liebe eine Kunst machen können.

Fast fünfzig Jahre später blicke ich auf Regina Heckert eine lange Odyssee zurück. Zum Glück hat sich vieles verändert. Trotzdem begleite ich immer noch unzählige Frauen (und auch Männer) bei ihrem Prozess des sexuellen Erwachens. Denn im individuellen Liebesbett ist jede Frau allein auf sich gestellt. Genau dort muss sie lernen, gut für sich zu sorgen. Das Dickicht der Erwartungen und Vorstellungen, wie Sex sein sollte, steckt tief in den Poren. Also ist es nach wie vor eher selten, dass eine Frau auf die Impulse ihres weiblichen Körpers horcht und ihnen folgt, anstatt es dem Mann recht machen zu wollen. Dabei schlummert genau in ihrem weiblichen Körper die Weisheit für ihr sexuelles Glück und das ihres Partners.

Für mache scheint es immer noch der leichtere Weg zu sein, sich am Mann zu orientieren. Die oft praktizierte Hauruck-Sexualität passt zudem perfekt in unsere schnelllebige Zeit. Denn sie lässt sich in Nullkommanix auf der To-do-Liste abhaken.

Beim Sex denke ich oft: Nein, bloß nicht wieder Kaninchen – diese monotonen rhythmischen Rein-raus-Bewegungen. Aber ich sage es nicht und hoffe, dass er schnell kommt, damit ich nicht wieder wund bin.“ (Michaela, 33 J.)

Ich habe überhaupt keine Lust auf schnellen Sex. Früher habe ich alles zugelassen. Ich hatte Angst, ihn zu verlieren, wenn ich nicht mitmache.“ (Silvia, 42 Jahre) 2

Es geht nicht darum, Männern Schuld an diesem weit verbreiteten Liebesdilemma zuzuweisen. Noch nicht alle Frauen haben gelernt, im Bett den Mund aufzumachen. Im neu aufkeimenden sexuellen Selbstbewusst- sein gibt es viel Luft nach oben. Sonst würde eine Frau heutzutage keinen Sex mehr zulassen, der ihr nicht gefällt und viel zu schnell vorbei ist. Was Kraftspender für jeden neuen Tag sein könnte, bleibt oft eine lästige Pflicht oder wird gleich ganz aus dem Leben verbannt.

 

In die sexuelle Führungsrolle schlüpfen

Drehen wir einmal die Welt ein paar Jahrzehnte zurück:Wie mündig konnten Frauen beim Sex sein? Erst seit 1997 ist die Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Und vorher? Der Blick in die Vergangenheit hilft mir immer mal wie der, zu verstehen, warum viele Frauen auch heute noch im Bett verstummen, anstatt in die sexuelle Führungsrolle zu schlüpfen und den Mann auf eine spannende Entdeckungsreise mitzunehmen.

Inzwischen ist eine Situation entstanden, in der die Unterdrückung des Weiblichen verinnerlicht wurde, selbst von der Mehrzahl der Frauen.“ (Eckhart Tolle)3

Zielorientiert, klar, entschlossen, direkt und schnell – das kennen wir alle. Es sind die männlichen Qualitäten, die wir brauchen, um unser Leben zu meistern. Oft sind sie begleitet von Stress, Zeit- und Leistungsdruck. Herrschen sie im Bett vor, dann sind wir z.B. auf den Orgasmus fixiert und steuern ihn – vielleicht sogar mit großer Anstrengung – an. Dabei vergessen wir die vielen Blumen am Wegesrand. Durch Überbetonung des Männlichen sind das Leben und die Sexualität aus dem Gleichgewicht gekommen. Die weiblichen Qualitäten, die mindestens genauso für unser Wohlbefinden nötig sind, fehlen in Frau und Mann und in der ganzen Welt. Sie werden dringend gebraucht, um unser kleines Leben und vielleicht auch die gesamte Welt zur Besinnung zu bringen. Dazu gehören Hingabe, Langsamkeit, Präsenz, Bewusstheit und die ehrliche Kommunikation miteinander. Wie kann ein leiser Ton gehört werden, wenn ständig Trompeten und Paukenschläge ertönen? Wir müssen anhalten mit dem Lärm da draußen und erst recht mit dem sinnlosen Lärm im Kopf. Erst wenn wir entschleunigen, kann die Verbindung zum eigenen Inneren, zum Anderen, zum Bauchgefühl erblühen. Das Ziel tritt dabei wie von selbst in den Hintergrund. Also können wir uns in einer Art Absichtslosigkeit begegnen: eine der größten Herausforderungen und gleichzeitig der größte Segen, besonders im sexuellen Beisammensein. Das Fühlen des Körpers, ja sogar der Energieströme im Inneren des Körpers wird möglich. Es öffnet sich das Hier und Jetzt.

 

Bitte ganz langsaaaaammm!

Um den Lusthimmel des weiblichen Weges zu entdecken, kannst du prinzipiell alles, was du beim Sex kennst, beibehalten und einfach nur viel langsamer und zärtlicher ausführen. Du tust viel weniger und kannst viel mehr spüren.

Bitte deine/n Partner/in, deinen gesamten Körper zu erkunden. Er kann mit stärkeren Berührungen beginnen und sie immer langsamer und schwächer werden lassen, wie bei einem Ton, der allmählich verklingt. Lausche in diesen entschwindenden Klang hinein, so als wolltest du ihn möglichst lange auskosten, bevor er verebbt. So findest du heraus, wie viel Berührung du brauchst, um das feine Strömen des inneren Lustkörpers zu entdecken.“ 4

Eine bewusste Sexualität ist die schönste und wirkungsvollste Meditation zu zweit. Der leicht verstärkte Atem hilft, aus dem Kopfkino auszusteigen. Eine ehrliche Kommunikation (Was fühle ich wirklich?) und Blickkontakt sind hilfreich. Je weniger du tust und je präsenter du dabei bist, desto mehr öffnet sich dir der feinstoffliche Liebeshimmel. So können z.B. das einfache Halten der Brüste oder des Lingam zu beseligenden Lustmeditationen werden.

 

i-Tüpfelchen der Liebeskunst

Der Entdeckerfreude sind keine Grenzen gesetzt. Stilles Halten oder langsames Kreisen mit Finger oder Hand sind von Kopf bis Fuß möglich. Klitoris- und G-Punkt- Meditationen oder die sanfte Öl-Bändchenmassage am Penis können zu kleinen I-Tüpfelchen der feinstofflichen Liebeskunst werden. In der Kopf-Füße-Position berühren Mann und Frau gegenseitig ihre Sex- zentren. Auch hier hilft verstärktes Atmen, die Aufmerksamkeit im Körper zu halten. Entspannung kann sich einstellen und manchmal ein zartes Lustströmen im ganzen Körper.

Aber was wird aus dem schnellen Rein-Raus, wenn die Langsamkeit im Liebesbett Einzug hält?

 

Zucchini-Experiment

Eine besonders interessierte Frauengruppe startete einmal das große Zucchini-Experiment. Vier Abgesandte besuchten den Wochenmarkt. Schließlich kamen sie mit einem prall gefüllten Einkaufskorb voller Zucchini zurück. Jetzt wurden die Exemplare fast eine Stunde lang in warmes bis heißes Wasser getaucht, bis sie die erforderliche Temperatur erreicht hatten und geschmeidiger geworden waren. Zusätzlich mit einem Kondom bestückt, verzog sich dann jede Frau in ihr stilles Kämmerlein. Anlass war die Frage: Wie sollte sich ein Penis nach der Pene- tration denn in mir bewegen, damit es mir gefällt? Alle waren sich einig, dass es schwierig werden könnte, das mit einem erregten Mann in aller Ruhe auszuprobieren. Etliche Männer bekämen sicherlich Angst, ihre Erektion zu verlieren. Für andere wäre es befremdlich, in ihrem üblichen Procedere unterbrochen zu werden. Welche Frau hätte den Mut, darum zu bitten? Es wurde nach Alternativen gesucht. Und so fiel die Wahl auf Zucchini. Es gab sie in allen Größen und Formen. Frauen probierten nun kleinere und kleinste Bewegungen aus, um zu entdecken, was ihnen wirklich Lust bereitete. Und siehe da: Keine der Frauen verfiel ins bekannte und schnelle Rein-Raus. Sie bevorzugten die stille und langsame Gegenwart des Besuches in ihrer Vagina. Kleine kreisförmige Bewegungen, Druck zur Seite hin, nach vorne oder nach hinten – so vieles war auf einmal möglich. Da gab es ein neues Universum zu entdecken und alle kamen mit roten Backen und glänzenden Augen zum anschließenden Austausch zusammen. Natürlich erheitern sich bis heute die Einkäuferinnen über das verdutzte Gesicht der Gemüsefrau am Marktstand, die sich darüber wunderte, warum auf einmal Größe und Form ihres Gemüses wichtig waren.“ 5

 

Neue Liebesqualität: Langsame Berührungen mit viel Zeit zum Hinspüren

Entdeckung der Langsamkeit

Entdeckung der Langsamkeit

©LW_BeFreeTantra

Bis ins Mark berühren

Präsenz und die Langsamkeit können bei der sexuellen Vereinigung bis ins Mark berühren. Der permanente Beckenkontakt sollte dabei mit leichtem Druck aufrechterhalten werden. Währenddessen kann der Penis minimale Bewegungen in alle Richtungen ausprobieren, ganz wie beim Zucchini-Experiment. Er kann sanft kreisen, sich sachte hin und her oder nach rechts und links schieben. Als kleine Nebenwirkung erhöht sich sogar die Chance auf einen vaginalen Orgasmus der Frau. Langsames Lieben bedeutet, wirklich präsent zu sein, und keinesfalls in eine Art schläfrige Müdigkeit abzudriften. Es ist offensichtlich, dass sich diese Art himmlischer Sexualität weder unter Zeit- noch unter Orgasmusdruck entfalten kann. Also ist in der Regel der späte Abend dafür nicht geeignet.

Aktivität und Ruhe kommen durch die neue Liebesqualität in Balance. Auch der sonstige Sex wird nach und nach achtsamer und bewusster. Ein betroffener Mann fragte mich neulich: „Bedeutet weibliche Lust, nur stundenlang um das Ohr der Frau zu kreisen und Orgasmus adé?“ Das klingt, als würde man etwas Wertvolles aufgeben und dafür nichts bekommen. In Wahrheit gibt das Loslassen der Orgasmusfixierung der wirklichen Lust der Frau erst eine Chance – und auch der weiblichen Seite im Mann. Der Orgasmus wird manchmal kommen, manchmal nicht. Meistens jedoch beschenkt uns die langsame Liebeskunst mit längeren orgiastischen Zuständen und einer tiefen Verbundenheit mit uns selbst und dem anderen.

Ich selbst plädiere für eine friedliche Koexistenz von alt und neu. Meiner Meinung nach ist langsamer Sex noch nicht rundum menschlichkeitstauglich. Drei Schritte vor, zwei zurück: So wird zum Beispiel bei einer Geburt das Kind auf die Welt gebracht. Und so darf sich auch Schritt für Schritt Bewusstheit und Langsamkeit – und damit sexuelles Glück für Mann UND Frau – in unserem Leben und Lieben entfalten.

 

Zitate: 1,2,4,5 aus Regina Heckert, Frauen im Kommen – Der weibliche Weg zu sexuellem Glück
3 aus Eckhart Tolle, Eine neue Erde, S.167, Goldmann 2005

 

Regina Heckert

Regina Heckert

leitet seit 35 Jahren die BeFree-Tantraschule als Expertin für weibliche Sexualität und spirituelle Lehrerin.

Sie ist Buchautorin von „Frauen im Kommen – Der weibliche Weg zu sexuellem Glück“ (Verlag Kamphausen Media 2023)

Mehr infos und Kontakt: Tel.: 06344 – 954 160

kontakt@befree-tantra.de

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