Wenn die besten Therapien nicht helfen und alles nur noch schlimmer wird…

Es war die beste Therapie-Session seit langem, es fühlte sich wirklich an wie der Durchbruch – und am nächsten Tag war alles schlimmer denn je…“ Wenn das Gegenteil von dem passiert, was erwartbar gewesen wäre, nennt man das paradox. Wir kennen das als Medikamenten- Reaktion. Zum Beispiel von Schlafmitteln, auf die manche mit noch schlimmerer Schlaflosigkeit reagieren. Oder von Panikattacken als Reaktion auf die Gabe von Beruhigungsmitteln. Wer an ADHS erkrankt ist, kann ein Lied davon singen – paradoxes Reagieren auf Medikamente kommt bei ADHS gehäuft vor.

Das gleiche Phänomen gibt es im therapeutischen Feld – nach Körperarbeit wie nach psychotherapeutischen Sitzungen. Eigentlich ist es phantastisch gelaufen, tief, heilsam, besser denn je. Und spätestens am nächsten Tag sind die Symptome schlimmer als vorher. Das ist unendlich frustrierend…

Aber verwunderlich ist das paradoxe Reagieren auf gute Heil-Impulse gar nicht. „Was auch immer ich für mich gut finde, die ententscheidende Frage ist, wie mein Nervensystem es findet“, hat Dr. Urs Rentsch gesagt, einer meiner Lehrer in Somatic Experiencing, der Traumatherapie nach Peter Levine. Das hat mich sehr berührt, dass mein Nervensystem seine eigene Wahrheit hat, die sehr anders sein kann, als mein Ich-Erleben es meint, wahrnimmt oder einschätzt.

Das vegetative Nervensystem besteht aus zwei Teilen, dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Der Sympathikus sorgt für erhöhte Leistungsbereitschaft, für Anstieg des Blutdrucks, der Herzfrequenz, der Atemfrequenz, für Pupillenerweiterung, für Anspannung der Muskulatur und verringerte Durchblutung zum Beispiel der Verdauungsorgane (die man ja im Fall eines Kampfes oder einer Flucht nicht braucht). Das alles macht Sinn, und ist zum Beispiel in den verschiedensten Stress- und Notfallsituationen sehr wichtig. Der Parasympathikus hingegen sorgt im gesunden Zustand für die Gegenregulation: Er läutet eine Entspannung der Muskulatur ein, Herz- und Atemfrequenz nehmen ab, Ruhe und Erholung stellen sich wieder ein. Im Idealfall arbeiten die beiden Gegenspieler Hand in Hand und sorgen

für einen dynamischen Flow von Aktivität und Entspannung, wie es die jeweils aktuelle Situation erforderlich macht.

 

Keine funktionierende Stress-Regulation

Wenn Menschen aber schwerwiegende traumatische Erfahrungen gemacht haben, funktioniert das so nicht mehr. Die Selbstverständlichkeit in der Regulation von Aktivität und Entspannung geht verloren. Das gilt für jede traumatisch gewesene Erfahrung – so lange, bis sie integriert werden kann. Diesen Zustand von „Nervensystem auf 180“, auch wenn die eigentliche Bedrohung oder Gefahr lange vorüber ist, nennt man Aktivierung.

Bei sehr frühem Trauma – insbesondere bei Traumatischem während Schwangerschaft, Geburt oder früher Bindungszeit (bis etwa 3 Monate nach der Geburt) – trifft oft Hochtraumatisches auf ein unreifes Nervensystem. Das kindliche Nervensystem ist zu dieser Zeit noch nicht voll ausgereift und noch in der Entwicklung. Die eigene Gegenregulation auf Stressiges oder Traumatisches und Wiederherstellung des Gleichgewichts durch den Parasympathikus ist noch nicht möglich. Wir nehmen in dieser Lebenszeit den Stress gänzlich auf, können ihn aber nicht regulieren oder verarbeiten. Das, was daraus entsteht, nennt man Globale Hohe Aktivierung. In diesem Zustand ist das gesamte Nervensystem massiv stimuliert und erregt, das Selbstregulationssystem überw.ltigt – und das wirkt sich auf alle Körperbereiche und Funktionen aus. Globale Hohe Aktivierung wird, wie gesagt, vor allem durch Trauma rund um Schwangerschaft und Geburt ausgelöst, kann aber auch unter anderem in Folge von Operationen im Säugngsalter, Äthernarkosen oder der Erfahrung von Ersticken oder Ertrinken auftreten.

 

Immer unter Strom

Globale Hohe Aktivierung macht sich oft stark bemerkbar– bei den Betroffenen selbst, wie auch für das Umfeld. Wer immer wie unter Strom steht, ist nicht mehr effektiv, kann sich schwer konzentrieren, kommt nicht zur Ruhe, kann sich schwer mit Neuem beschäftigen. Das erzeugt einen hohen Leidensdruck.

Dieser unerträgliche Zustand kann aber auch sehr gut kompensiert und darum versteckt sein. Extremsport, aus sich selbst das Letzte herausholen wie bei Workaholics, mit dieser extrem hohen Energie immer weiter hinaus wollen, können mögliche Kompensationen sein. Die funktionieren vielleicht eine Weile lang, manchmal sogar ein ganzes Leben. Aber der Preis ist hoch und heißt Dissoziation. Präsenz sowie Verkörperung, die Fähigkeit, im Jetzt fühlend im Körper zu sein, gehen verloren. Die durch Aktionismus kompensierte Globale Hohe Aktivierung ist wie ein Tanzen auf einem Hochseil, wie ein ständiges Jonglieren am Abgrund. Kommt im Leben irgendetwas Stressiges hinzu – wie eine Trennung, ein Todesfall oder eine Kündigung –, fällt das Kartenhaus in sich zusammen. Burnout, Depression, Suizidalität und chronische Krankheiten nehmen ihren Lauf.

Eindrucksvolles Beispiel einer solchen Geschichte ist der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. Er wurde als erstes Kind seiner Eltern am 27. Januar 1859 im Kronprinzenpalais Unter den Linden in Berlin als Thronerbe der Hohenzollerndynastie geboren. Leider stellte sich unter der Geburt heraus, dass das Kind nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Becken zuerst in den Geburtskanal eingetreten war, und zwar in einer Weise, die für die Geburt sehr schwierig war. Ein hochrangiger Geburtshelfer wurde hinzugezogen, der dem kleinen Jungen mit massiven geburtshilflichen Manövern auf die Welt half, weil dieser schon unter der Geburt kaum noch Lebenszeichen zeigte und zu sterben drohte. Dabei wurde ein Nervenplexus im Schulterbereich so verletzt, dass der kleine Wilhelm seinen linken Arm nie bewegen konnte und dieser auch verkrüppelte. Diesen Geburtsschaden versuchte man zudem durch preußische Strenge auszumerzen. So wurde der Junge nicht nur schwer traumatisiert geboren, sondern später auch in seinem Leid und seiner Not nicht gesehen und stattdessen mit besonderer Härte erzogen. Es heißt, dass sich seine Mutter emotional von ihm abgewendet hat, weil sie mit seinem „Makel“ nicht umgehen konnte. All dieses hat, so die Einschätzung Sigmund Freuds höchstpersönlich, genau jene Eigenschaften Wilhelms geformt, die ihn so wenig teamfähig gemacht haben: seine maßlose Selbstherrlichkeit und Überschätzung der eigenen Fähigkeiten, sein bizarrer, oft sehr verletzender, sarkastischer Humor. Er konnte nicht mit sich und mit den Menschen um ihn herum in Kontakt sein, wie man heute sagen würde. Wer weiß, wie folgenschwer das für die deutsche Geschichte war.

(Quelle: Thomas Meißner – Der prominente Patient. Krankheiten berühmter Persönlichkeiten, S. 365-67, Springer-Verlag 2019)

 

Einfach alles zu viel

Und bei eben dieser Globalen Hohen Aktivierung kann es leicht passieren, dass eigentlich gute, vielleicht sogar fantastische Interventionen, körpertherapeutische Behandlungen oder auch psychotherapeutische Sitzungen genau das Gegenteil bewirken: Hinterher ist alles viel schlimmer. Das Nervensystem hatte in diesen Fällen eben keine Regulationskapazitäten mehr, und dann ist es gleich, ob ein Impuls gut oder schlecht ist, er ist einfach zu viel, denn das Nervensystem kann nicht mehr reagieren, und dadurch nimmt letztlich der Stress zu. Alles wird dadurch schlimmer…. Ich habe das unter anderem im Begleiten einer jungen Mutter erlebt, die während der ersten Monate des Stillens ihres ersten Kindes in einen unerträglichen Zustand geraten war. Der Kleine hatte bald nach der Geburt Neurodermitis. Seine Mama versuchte alles, um möglicherweise auslösende Inhaltsstoffe der Muttermilch zu beseitigen. Sie machte radikale Diäten, lebte zeitweise nur noch von weniger als fünf Nahrungsmitteln, magerte ab, stand immens unter Spannung. Sie bekam dann selbst wie schon als Kind wieder einen juckenden Ausschlag an ihren Händen, die so aufrissen und bluteten, dass sie ihr Baby kaum noch halten konnte. Alle noch so sinnvoll erscheinenden Maßnahmen – weitere Ernährungsumstellung, Darmsanierung, Salben und Bäder, selbst Kortison- Creme – halfen nicht, alles wurde noch extremer und ihre Verzweiflung nahm immer mehr zu. In mehreren Sitzungen haben wir miteinander zu ihren frühen Themen mit der eigenen Mutter hingespürt, die sehr schwer waren. Sie erlebte in Flashbacks ihre eigene Vernachlässigung als Säugling, die Todesangst, ihre Angst zu verhungern, auch massive Wut. Sie konnte all das gut integrieren und fühlte sich sehr gut mit der traumatherapeutischen Arbeit. Die Hautsymptome aber blieben gleich oder wurden nur wenige Tage nach den Stunden wieder schlimmer – wie auch die Verzweiflung. Bei einer letzten Sitzung arbeiten wir mit dem, was die Hände „wollen“, folgten dem Bewegungsimpuls, der in ihrem körperlichen Ausdruck spürbar war. Es war eine sehr ergreifende Arbeit, die zu den Wurzeln ihres Unterdrückens ihrer eigenen, vermeintlich nicht „salonfähigen“ Gefühle führte. Sie schrieb mir ungefähr vier Wochen später: „Als ich im Oktober aus Ihrer Praxis raus ins Freie getreten bin, war mein erster Gedanke: „Ich bin geheilt. Ich beschloss noch im Auto auf dem Weg nach Hause, einen Tag lang alles zu essen, worauf ich Hunger habe. Ich genoss diesen Tag absolut angstfrei und aß mit großer Freude Mürbeteigpl.tzchen, Frischkäsebrezen, Fisch mit Kartoffeln und bunten Salat. Am Folgetag war mein Ausschlag weg – und er ist nie wiedergekommen. Ich habe mein normales Gewicht wieder, und so viel Lebensqualität und -freude zurückgewonnen, dass ich es selbst manchmal kaum glauben kann.“

Ausweglos ist Globale Hohe Aktivierung nicht. Ein solcher Zustand braucht einfach sehr viel Geduld bei den Betroffenen wie bei den Therapeuten, gleich ob körper- oder psychotherapeutisch gearbeitet wird. Es ist ein Weg der extrem kleinen Schritte. Langsam, in Minischritten, lernt das hoch aktivierte Nervensystem, dass Regulation möglich ist. Macht neue Erfahrungen von Sicherheit, Getragensein, Sekunden ohne Angst. Dazu braucht es Begleiter_innen, die sich mit der Dynamik von Global Hoher Aktivierung und ggf. mit der Dynamik von frühem Trauma sehr gut auskennen. Dann, in vielen kleinen Schritten, wird Heilung möglich. Denn die entscheidende Frage ist eben, wie es meinem Nervensystem geht mit dem, was passiert. Und das möchte Entspannung und guten Flow. Wie ich übrigens auch: Ich möchte mich nicht gedrängt, überfordert und im Not-Tunnelblick mit Ich-muss-Zustand fühlen…

 

Anja Engelsing Traumatherapeutin

Dr. med. Anja Maria Engelsing

ist pflanzenkundige Frauenärztin und Traumatherapeutin (Somatic Experiencing, Integrale Somatische Psychologie) mit Schwerpunkt Trauma rund um Schwangerschaft und Geburt.

Aktuelle Veranstaltung:

Frühe Prägung –lebenslang?

Geburts- und Schwangerschaftstrauma heilen.

Intensivwochenende 9./10.3.2024

im Aquariana,

Am Tempelhofer Berg 7D,

Berlin-Kreuzberg

 

Praxis für Traumatherapie:

Mittenwalder Straße 20,

10961 Berlin-Kreuzberg

 

Mehr Infos und Kontakt:

anja.engelsing@gmx.de

www.wege-zum-heilsein.de/veranstaltungen

www.instagram.com/anjaengelsing

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Eine Antwort

  1. Raimar Ocken
    Wenn die Diagnostik falsch ist, misslingt auch die Therapie

    Es gibt keine „die besten Therapien“. Es gibt auch keine Therapie, die einer bestimmten Person immer hilft. Wir sind alle verschieden (divers), somit gilt es, bei einem Erkrankten die richtige Therapie zum aktuellen Problem zum rechten Zeitpunkt einzusetzen.
    Wenn eine Therapie nicht hilft, dann kann das verschiedene Gründe haben:
    • Der Sinn der Erkrankung wurde nicht erkannt.
    • Der Erkrankte will oder kann seinen „Krankheitsgewinn“ nicht aufgeben.
    • Die soziale Mitwelt des Erkrankten, benötigt den Kranken krank.
    • Der Erkrankte folgt negativen Glaubenssätzen.

    Antworten

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