Seile können ein wunderbares Medium sein, um mit ihrer Hilfe die unterschiedlichen Qualitäten und Grundvoraussetzungen von Beziehungen zu erforschen. Dorothée Jansen berichtet von der japanischen Kunst des Fesselns und der Hingabe, Weite, Leichtigkeit und Freiheit, die im „Gefangensein“ mit Seilen gefunden werden können.

von Dorothée Jansen

 

 

Potsdam 2024. Ein großes Netz wird geknüpft. Es reicht bis zur Decke, durch zwei Räume hindurch. Die Seile sind fest, so dass das komplexe Gebilde die Menschen zu tragen in der Lage ist, die es beklettern. Einige von ihnen sind dazu in der Lage. Manche jedoch können sich nur vom Rollstuhl aus mit dem Geflecht verbinden. Ein Seil wird an das große Netz geknüpft und um den Leib des Rollstuhlfahrers gewickelt. Jetzt gehört er auch dazu. Alle wollen sie eine Verbindung zu diesem großen Geflecht. Sie wollen eingebunden sein in das große Netzwerk der Menschheit. Für sie haben die Seile nicht nur spielerischen Wert, sondern auch eine symbolische Bedeutung.

Es sind zwölf Teilnehmer, die seit vier Jahren an einem Projekt teilnehmen, in dem es um Sexualität und Liebe geht. Sie sind teils körperlich, teils geistig behindert. Aber was heißt das schon: behindert? Für viele von ihnen bedeutet es, dass es schwer ist, sich Räume für Intimität zu erobern. Da ist meist jemand da, der Obacht gibt, der das Zimmer kontrolliert. Oft bedeutet es, nicht als sinnliches, erotisches Wesen ernst genommen, oft nur ungern oder gar widerwillig angesehen zu werden. Das fördert nicht das Selbstbewusstsein. Sie aber wollen gesehen werden, wollen sich zeigen – das wird schnell deutlich.

Ich bin gefragt worden, ob ich die Gruppe ein Wochenende lang in die japanische Kunst des Fesselns einführe. Eine spannende Herausforderung, die ich gerne annehme. Zur therapeutischen Arbeit mit Seilen bin ich bereits in meiner tanztherapeutischen Ausbildung gekommen. Anfänglich dienten mir die Seile dazu, Bereiche innerhalb eines Raumes abzugrenzen. Da konnte es dann eine Ruhezone, einen Bereich der Kontaktaufnahme oder einen des spielerischen Kämpfens geben. Verschiedene Erfahrungsräume. Seile dienten hierbei als Begrenzungen, als Raumteiler. Was war noch möglich mit diesen Seilen? Ich begann zu experimentieren, zu improvisieren.

 

Beziehungsarbeit mit Seilen

Potsdam 2008. Schnell erkannte ich, dass Seile ein wunderbares Medium sein können, um mit ihrer Hilfe die unterschiedlichen Qualitäten und Grundvoraussetzungen von Beziehungen zu erforschen. Ich ließ die Patienten in der psychosomatischen Klinik, in der ich tätig war, tauziehen. Ein dickes Seil wurde zwischen ihnen ausgebreitet. Es verband sie miteinander. Sie hielten sich an diesem fest. Sie zogen an einem Strang, wenn auch in unterschiedliche Rich- tungen. Keine Seltenheit in Beziehungsgeschehen.

Mal taten sie das zu zweit, mal als ganze Gruppe. Manch einer ließ sofort los und fand das eine blöde Übung. Ein anderer legte sich ins Zeug, ging in die Knie und mobilisierte – für seinen depressiven Zustand – ungeahnte Kräfte. Hände schwitzten, Haut wurde rot, der Atem intensivierte sich. Es wurde gezogen, Beine beugten sich, um die Kraft aus dem Boden hinzuzunehmen. Jede Pore des Körpers schrie: Hier will ich hin. Das ist mein Ziel. Dafür bin ich bereit, mich einzusetzen.

Anregende Fragen zur Reflexion beendeten mein Angebot: Mit wie viel Power bringst du dich in eine Beziehung ein? Willst du immer gewinnen? Kannst du auch mal verlieren? Wie fühlt sich das an, Beziehungsgeschehen so körperlich zu erfahren? Bist du eher diejenige, die alles mit Worten ausficht? Darf es Spaß machen, Kräfte aneinander zu messen, oder ist dir früh jeder Wettbewerb verboten worden? Für was willst du dich einsetzen?

Das Forschen ging weiter. Die Teil- nehmer wurden angeregt, sich zu zweit zusammenzutun und mit den Seilen zu erkunden, welche Arten von Beziehungen es gibt. Da gab es Verbindungen, in denen einer den anderen an der langen Leine hielt. In weiteren Konstellationen gab es jemanden, der immer wieder losließ. Wie fühlt sich das an, wenn man dann alleine das Seil in den Händen hält? Manche Beziehung war einengend, eine andere verwickelt. Da gab es Herzensbeziehungen, die die Brustkörbe verbanden. In anderen konnte gut miteinander gehandelt werden. Mal banden sich die Teilnehmer die Seile um die Hände, dann um den Kopf. Einige verband nur ein einziges Seil, andere gleich vier. Wie verschieden Beziehungen sein können, konnte plötzlich optisch sichtbar und begreifbar werden.

 

Gefangen in mir

Wenn Sie Ihre eigene derzeitige Befindlichkeit mittels dieser Seile darstellen würden, wie sähe das aus? Diese Frage stellte ich im Anschluss gerne den Gruppenmitgliedern. „Ich fühle mich gefangen in mir, isoliert, eingesperrt, als wäre ich in einem Kokon“ waren nicht selten die Wor- te, die dann folgten. Ich ermöglichte diesen Teilnehmern daraufhin die konkrete Erfahrung, dieses imaginierte Bild mittels eines Partners umzusetzen.

Die sich gefangen Fühlenden nahmen meist eine Embryonalhaltung ein. Eine Partnerin wickelte sie daraufhin in Seile. Schicht um Schicht. Eine Lage folgte der nächsten, umgab sie wie eine schützende Hülle. Nicht selten konnte die Eingewickelte bestätigen: Ja, genau so fühlt sich das in mir an. Damit erhielt ihre innere Wahrnehmung einen äußeren Ausdruck und wurde kommunizierbar. Sie wurde darüber wahrnehmbar. Das alleine verbesserte oft schon das Selbstwertgefühl. Die Eingewickelte konnte paradoxerweise aber auch wahrnehmen: Diese Seile geben Halt. Sie stabilisieren mich. Im Umkehrschluss ergab sich daraus die Frage: Geben mir also auch mein Rückzug, meine Isolation Halt?

 

® Stefan Keller- pixabay

Ich habe geflucht, ich habe gejammert. Und habe es gleichzeitig genossen, dass jemand mir zugewandt war…

 

Am spannendsten war meist der Moment, in dem die Eingewickelten von den Seilen befreit wurden. Nicht selten wussten sie auf einmal, was sie tun mussten, um aus ihrer Isolation herauszukommen. Sie erkannten, welche Beziehung verändert oder gar beendet werden muss. In sich verspürten sie eine neue Kraft und mögliche Selbstwirksamkeit. Der durch die Seile ermöglichte somatische Prozess der Befreiung hatte ih- nen einen Vorgeschmack von Freiheit gegeben und ihr Selbstwertgefühl verbessert. Nachdem ich also bereits mit Seilen im therapeutischen Kontext experimentiert und meine Erfahrungen gesammelt hatte, erfuhr ich von der japanischen Fesselkunst.

 

Bondage, Shibari, Kinbaku

Unter dem Begriff des Bondage ist die japanische Fesselkunst hierzulande mittlerweile etwas bekannter geworden. Meist jedoch werden derartige Praktiken als etwas abgewertet, das eine seltsame queere Szene in irgendwelchen dunklen Etablissements praktiziert. Stehen die nicht alle auf Sado- Maso? Sind die nicht alle pervers? Im Internet zur Verfügung stehende Bilder stoßen oft eher ab, als dass sie Interesse wecken, denn selten erzählen diese Bilder etwas von dem inneren Erleben desjenigen, der sich in den Seilen be ndet. Von der Hingabe, von der Weite, der Leichtigkeit und der Freiheit, die gerade in den Seilen gefunden werden können.

Ich selbst habe nie zu denjenigen gehört, die leicht Vertrauen in andere Menschen fassen können. Das hat seine Gründe. Mich fesseln zu lassen, dabei sogar in der Luft zu hängen und nicht selbständig hinunter zu können, löste in meiner Vorstellung zunächst Panik aus, als ich mich der japanischen Fesselkunst näherte. Es war für mich ein großes Ereignis, meinem ehemaligen Partner zu erlauben, mich nicht nur zu fesseln, so dass ich meine Arme und Bei- ne nicht mehr frei bewegen kann, sondern mich sogar aufzuhängen.

 

Totale Zuwendung

Wir inszenierten das als Rollenspiel mit klaren Regeln. Zu dem Zeitpunkt waren wir beide in großer Liebe miteinander verbunden. Das wusste ich. Das half. Wir vereinbarten, dass ich jederzeit würde STOPP sagen dürfen, und ich bat darum, schimpfen zu dürfen. So laut und so wild, wie ich wollte und konnte. Das habe ich dann getan. Ich habe geflucht, ich habe gejammert. Und habe es gleichzeitig genossen, dass jemand mir zugewandt war, mich begleitete, auch durch das Klagen und Schimpfen hindurch. Ich konnte die Präsenz meines Partners spüren, seine Aufmerksamkeit bei jedem Knoten, den er setzte. Wie ging mein Atem? Wie war meine Körperspannung? Er war ganz bei der Wahrnehmung meines Leibes. Das ermöglichte mir schließlich, entspannt durch die Luft zu schweben und lauthals und beglückt zu lachen. Ein transformierendes Erlebnis.

Die Begriffe, die im Zusammenhang der Seilarbeit kursieren, sind sehr unterschiedlich, ebenso die verwendeten Praktiken. Bondage meint eine im Westen verbreitete Praxis des Experimentierens an der Grenze von Schmerz und Lust. Shibari im engeren Sinne versteht sich als Kunstform. Künstler wie Garth Knight schaffen ästhetisch performative Gebilde, die von der Schönheit der Verbindung von Mensch und Seil erzählen. Da geht es um den schönen Knoten, um das elegant geschwungene Seil. Shibari – die KUNST des Fesselns. Aus der japanischen Kultur kommend gibt es auch die Praxis des Kinbaku. Gemeint ist hierbei die therapeutische Verwendung von Seilen, um emotionale Zustände zu bewirken.

 

Den eigenen Wert in den Seilen erleben

Kinbaku wird in der Regel zu zweit praktiziert. Es gibt eine klare Rollenverteilung: Derjenige, der bindet, und derjenige, der gebunden wird. Beide sind sowohl aktiv als auch passiv in ihren Rollen. Der Bindende – häufig Rigger genannt – macht ein aktives Angebot von Seilbindungen und damit von Körperhaltungen und -positionen. Seine Aufgabe ist es, achtsam – also eher passiv – die Reaktionen bei dem Gegenüber zu beobachten und ggf. sogar nachzufragen: Ist ein Knoten zu fest, eine Körperposition zu anstrengend? Wie geht es dem Gefesselten? Der erlebt einerseits, was an ihm vollführt wird (passiv), ist aber gleichermaßen aufgefordert, genau bei sich wahrzunehmen, was die Seile in ihm auslösen, und es aktiv mitzuteilen. Ein intensives, sehr stark aufeinander bezogenes Miteinander entsteht. Eine echte, wahrhaftige, präsente Beziehung. Das zu erfahren kann mehr als heilsam sein, denn es lässt – gerade als Gefesselter – erfahren: Da ist jemand, der mich wahrnimmt. Da ist jemand, der genau meinen Körper beobachtet und erforscht. Da ist jemand, der sich auf mich bezieht, der sich mit mir verbindet, der mich hält. Für die 12 Teilnehmer des Theaterprojektes war das eine unglaublich selbstwert- fördernde Erfahrung.

 

Dr. phil. Dorothée Jansen

betreibt in Potsdam eine Praxis für Psychotherapie (HPG).

Sie leitet Tanz- Retreats in der Natur. Außerdem bietet sie Kurse in Shibari sowie Butoh an.

Ort: Kunst- und Atelierhaus Rechenzentrum, Dortustraße 46, 14467 Potsdam

Mehr Infos unter Tel.: 0163 – 284 48 83

oder dorotheejansen@gmx.de

www.dorothee-jansen.de

 

 

 

 

 

 

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