Von einem Butoh Tanzretreat in Italien berichtet Dorothée Jansen

Ligurien, Park der Tausend Seen. Wir befinden uns auf 1.200m Höhe. Ein Naturschutzgebiet. Mit mir haben sich 40 weitere Tänzer und Performer aus der ganzen Welt auf den Weg gemacht, um zwei Wochen in der Natur zu tanzen. Wir werden in Zelten schlafen, uns in Wildbächen waschen. Auf offenem Feuer werden wir bekocht werden. Keine Seife, kein Shampoo, keine Spülmittel. Das mussten wir versprechen. Um uns die Berge. Einige von ihnen mit Buchen bewachsen. In der Mitte ein See. Zu diesem fließen Gebirgsbäche, die über Steine und Äste hüpfen. Das Wasser ist angenehm kühl bei den über 30 Grad, die es sonst zu dieser Jahreszeit auf der offenen Fläche hat. Juli in Italien. Wildpferde begrüßen uns. Sie laufen frei herum. Wann war ich in meinem Leben schon einmal von Wildpferden umgeben? Meine Nüstern weiten sich. Etwas Wildes in mir erwacht.

Die meisten der Tänzer sind um die 30 Jahre alt. Ich bin mit Abstand die Älteste. Dass wir in der Lage sind, täglich 7-12 Stunden zu trainieren, mussten wir im Vorfeld dem Leiter der Veranstaltung bescheinigen. Ich musste einmal kräftig schlucken, als ich mein Ja setzte. Dorothée, du traust dich was. Bist du sicher, dass du das schaffst? Schon die Anreise war ein Hindernisrennen. Aus dem Flugzeug, in dem ich bereits saß, musste ich aussteigen. Es war defekt. Ein Versuch zu trampen endete bei Leipzig. Schließlich bringt mich ein Flixbus zum ersehnten Ort. Ich will bei diesem Retreat dabei sein. Ich will tanzen. In der Natur. Butoh. In den 80er-Jahren war dieser japanische Ausdruckstanz in Berlin verbreitet, heute widmen sich ihm nur noch wenige. Denke ich. Und werde eines Besseren belehrt.

Butoh – der japanische Ausdruckstanz

Der Japaner, der das Retreat leitet – Atsushi Takenouchi – , wird von zwei Musikern begleitet, die jeden Tag für uns spielen. Zimbeln, Klangschalen, Glockenspiele, Handpans, Shruty-Boxen, diverse Flöten. Immer wieder neue Instrumente holen die beiden aus ihrem Gepäck und legen Tag für Tag einen mystischen Klangteppich um uns und die Landschaft. Ihre Töne nehmen unsere Bewegungen auf, aber auch diejenigen der Gräser, Steine, Bäche um uns herum. Sie tragen mich und bringen mich zu einem magischen Ort. Es ist ein Ort, in dem die Zeit langsamer fließt. Es ist ein Raum, in dem ich durch die Zeit reisen kann. Ich fliege und gleite.

Ich tanze mit Bäumen, werde zur Blume, tanze im Wasser, werde zum Stein. Was erinnert ein Stein von all dem, was er bereits erlebt hat? Wie kann ich das in Bewegung umsetzen? Erinnerungen tanzen. Auch meine Haut erinnert sich und führt mich zu Orten des Schmerzes, der Traurigkeit, aber auch der großen Ekstase. Das Geheimnis des Butoh-Tanzes ist die Langsamkeit sowie der Tanz mit der Haut. Sich vorzustellen, dass die Haut transparent ist, alles in mich und durch mich hindurchfließt, so dass ich eins werde mit allem, was mich umgibt, mit dieser Imagination arbeiten wir täglich.

Schon nach einem Tag liebe ich das Buchenlaub in meinen langen Haaren, den Staub auf meiner Haut, fühle die Erde, bin Erde. Ich tanze eine Spinne, die in Ekstase ihre Netze spinnt, mit ihren langen Beinen ihr Leben feiert und die Verbindung zum Boden. Noch nie habe ich mich der Welt der Insekten so nahe gefühlt.

Die intensivste Erfahrung wird mein Abschlusstanz. Ich tanze nackt. Das alleine verlangt Mut. Mein Körper ist der einer gealterten Frau, die rechte Brust fehlt nach einer Krebs-Operation. Mich so verletzt und verletzlich zeigen – eine echte Herausforderung. Ich tanze meine eigene Häutung, öffne mit einem magischen Messer die Vorderseite meines Körpers und ziehe mir die Haut ab. Tue ich es wirklich, ist es nur ein Spiel? Der Schmerz ist real. Ich schneide mit dem magischen Messer die Rinde eines Baumes auf, löse diese vom Baum und schlüpfe in sie hinein. Ich trage die Rinde wie einen Mantel, eine zweite Haut. Unter die Haut eines Baumes kriechen, wie ein Baum fühlen, Baum sein. Es ist eine ekstatische Erfahrung, die unter die Haut geht. Unter meine eigene als auch die meiner Zuschauer. Sie sind ergriffen und ich freue mich, dass ich in meinem Alter und mit diesem Körper Menschen so sehr ergreifen kann.

Schon auf der Rückfahrt weiß ich, dass diese Zeit in den Bergen Liguriens eine Tür in mir geöffnet hat. Ich weiß noch nicht, wohin sie führt. Die nächsten Tage werden es zeigen, dessen bin ich mir sicher. In jedem Falle möchte ich wieder mehr tanzen. Und ich möchte auch wieder als Tanztherapeutin arbeiten. Anderen Menschen Wege zu sich und zur Verbindung mit der Natur durch Tanz vermitteln. Das will ich und das weiß ich. Aber da wartet noch etwas anderes. Das fühle ich sehr deutlich.

Mit einem Mal erinnere ich mich: Im September 2017 war ich in Mexiko. Tornados tobten über die Karibik, in Mexiko-City gab es heftige Erdbeben, Häuser stürzten ein, Menschen kamen ums Leben. Die Erde zittert, hat Angst, so kam es mir damals vor. Das berührte mich. Ich zitterte mit ihr. In einer der vielen Schwitzhütten, die ich besuchte, versprach ich der Erde, dass ich alles in meinen Kräften Stehende tun werde, um sie wieder schlafen und träumen zu machen.

Tanzen, denke ich jetzt – 2023. Ich werde tanzen. Ich werde um die Erde reisen und an ausgewählten Wasserplätzen im Wasser, am Wasser und für die Wertschätzung der Wasser tanzen. Als ältere Frau, mit nur einer Brust, verletzt, verwundet – wie die Wasser dieser Erde. Und am Ende soll dabei ein Film für das Kino entstehen. Ein spirituell-ökologisch angelegter Film, der von der möglichen tiefen Verbundenheit zwischen Mensch und Natur erzählt. Kunstvolle Bilder mit Musik im Hintergrund. Ich denke an „Koyaanisqatsi“ und mein Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie. Ja, ich bin diplomierte Spielfilmregisseurin, habe bereits Filmprojekte realisiert. Und dennoch, das ist ewig her. Ich kontaktiere Filmförderer, Kameraleute, spreche mit Seglern, die schon einmal alleine die Welt umsegelt haben. Denn für das Wasser tanzen, braucht eine ökologische, emissionsfreie Annäherung an die verschiedenen Wasserorte, entscheide ich.

Südsee, auf und an den Inseln tanzen, die es bald durch die Klimaerwärmung nicht mehr geben wird, weil sich der Meeresspiegel beständig erhöht, das wäre das Highlight. Voll krass, denke ich morgens in meinem Bett. Südsee!!!! Ist das nicht ein bisschen fett? Schon habe ich Mareike Guhr kontaktiert und mit ihr vereinbart, dass ich im August nächsten Jahres gemeinsam mit ihr das Tuamotu-Archipel besegeln und betanzen werde. Ich reise also in die Südsee. Dass du dich das traust, Dorothée!!!! So weit weg. Dann auch noch segeln. Du warst das letzte Mal vor mindestens 15 Jahren auf einem Segelboot. Und dann die Filmerei. Du weißt gar nicht mehr, wie das Filmbusiness tickt, welche technischen Neuheiten es gibt. Reicht es nicht, eine psychotherapeutische Praxis zu betreiben und Bücher zu schreiben?

Nein, es reicht nicht. Wenn es reichen würde, hätte ich derzeit nicht einen so mächtigen Impuls, es zu tun, mache ich mir selber Mut. Ich vertraue und traue mich. Ja, es ruft mich. Ein starker Zug, der mich vor Lebendigkeit vibrieren lässt. Mein Glück und meine Ekstase möchte ich mit anderen teilen. Retreats in der Natur. An schönen Wasserorten hier in Deutschland. Ja, das will ich in die Welt bringen. Die Wasser werden sich freuen. Die Mondin wird tanzen. Und die Erde beginnt, wieder zu träumen.

Über den Autor

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Promotion über Trauerbegleitung, Tiefenpsychologin, systemische
Therapeutin, spirituelle Seelenbegleiterin, betreibt in Kreuzberg im Aquariana ihre Praxis The healing buddha,

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