Die Falle der Unvollkommenheit 31. Oktober 2008 Therapie 2 Kommentare Ständig und vom Kindesalter an erzählen uns Eltern, Werbung und auch Religionen und Therapeuten, was an uns nicht richtig ist, was wir verändern müssen und was wir noch brauchen. Die Folge: Unser Leben ist eine ewige Suche nach Verbesserung unserer selbst und des Lebens. Rennen wir aber nicht vielleicht einer Fata Morgana hinterher? Und wer sind wir, wenn wir aufhören, an uns herumzubasteln? Über die Falle der Unvollkommenheit. Nicht die Qualität eines Produktes bürgt heutzutage für den Erfolg eines Unternehmens, sondern ein gutes Marketing. Mit einer ausgefeilten Vermarktungsstrategie und einer perfekten Werbekampagne lässt sich alles an den Kunden bringen. Menschen kaufen alles, wenn sie nur daran glauben, dass sie es brauchen. Das Gesetz von Nachfrage und Angebot hat immer schon seine Geltung. Seit Jahrtausenden glaubt die Menschheit, dass sie Religion braucht, und kauft das meiste, was man ihr anpreist. Das Marketingkonzept ist so genial wie einfach: Du bist Sünder, und wir haben die Lösung. Du bist unvollkommen, wir zeigen dir den Weg zur Vollendung. Tief in unserem Wertesystem ist die Überzeugung verwurzelt, dass ich als Mensch grundsätzlich nicht in Ordnung bin und mich verändern muss. Dies ist kollektives Gemeingut. Je nach Kultur und Religion findet diese Grundüberzeugung unterschiedliche Ausprägungen. Das macht den Weg frei für Heilsverkäufer und Erleuchtungshändler. Das Bedürfnis ist geweckt, die Nachfrage ist da, und das Angebot findet reichlich Absatz. Auch wenn die traditionellen Religionen allmählich Marktanteile verlieren, ist inzwischen durch die explodierende New-Age-Kultur für jeden Heilsuchenden etwas dabei. Brauchen wir Heilung? Eine andere Abteilung, die ohne Transzendenz auszukommen versucht, eröffnet mit dem Beginn der Psychotherapie. Der Grundgedanke ist der gleiche: Der Mensch ist nicht nur körperlich krank, sondern auch auf einer subtileren Ebene gestört: psychisch. Er wird zerteilt, analysiert und therapiert. Wenn Widerstände auftauchen, sind sie nur der Beweis für die Hypothese, dass die Psyche des Menschen der Heilung bedarf. Der Markt ist bunt. In den Regalen stehen meterweise Lehrbücher, Methodensammlungen und Selbsthilfeliteratur für den Konsumenten bereit. Die Grenzen zwischen spritueller Lebenshilfe und Psychotherapie sind fließend geworden. Meditiert wird überall und gekauft wird fast alles. Betrachtet man aber die Zufriedenheit der Menschen, die sich von den Versprechungen der Anbieter überzeugen ließen, stellt man mit Erstaunen fest, dass die Rate derer, die von sich behaupten, das gefunden zu haben, was sie suchten, sehr gering ist. Unabhängig davon, ob es sich um eine religiöse Praxis, einen spirituellen Weisheitsweg oder um eine therapeutische Methode handelt – niemand bekommt anscheinend das, wonach er sucht. Das hält zwar den Markt in Bewegung, lässt aber Zweifel aufkommen. Hält das Produkt vielleicht nicht, was die Werbung verspricht? Oder sollte etwa die Grundannahme, auf der das gesamte Verkaufssystem basiert, der Fantasie entsprungen sein? Was wäre, wenn das vermeintliche Bedürfnis nach Heilung, Erlösung oder Erleuchtung lediglich auf einem Mythos basierte? Was wäre, wenn das Angebot der Religionen, Weisheitsschulen und Therapien nicht im Entferntesten etwas mit der Realität des Menschen zu tun hätte? Sollte das herauskommen, hätte der Markt ein Problem. Ein Spiel ohne Gewinner Wir würden erkennen, dass wir Mitspieler eines Jahrtausende alten Spiels geworden sind, bei dem es nie einen Gewinner geben wird. Wir würden einer Dynamik gewahr, die mit der Evolution des menschlichen Bewussteins in Gang gesetzt wurde und die jeder in seiner eigenen Existenz beobachten kann. Die menschliche Erfahrung wird nur dadurch ermöglicht, dass sich das Bewusstsein in Form des denkenden Verstandes selbstständig macht. Denken heißt, sich selber aus der Einheit mit dem Ganzen herauszudefinieren und als eigenständiges Wesen zu begreifen, getrennt vom Rest der Welt. Das Ich entsteht und mit ihm die Möglichkeit, zu vergleichen, sich an die Vergangenheit zu erinnern und die Zukunft zu planen. Daraus erwächst eine Spaltung. Das individuelle, konditionierte Ich erlebt sich einerseits als getrennt und handelt danach. Andererseits ist das innere Wissen um die unversehrte, zeitlose innere Einheit erhalten geblieben und durchströmt wie ein fortwährendes Pulsieren den Moment. Konditionierung und Freiheit Die Persönlichkeit (Ego) hat keinen Zugang zu dieser Dimension. Sie ist ein Fahrzeug, notwendig, um sich in dieser Welt der Erscheinungen zu bewegen, selber nichts anderes als eine flüchtige Erscheinung. Bei der Entstehung einer Persönlichkeit mit dem Beginn der Zeugung durchläuft die Inkarnation des Bewusstseins jedes Mal eine vollständige Evolution. Es entstehen Fähigkeiten, Begabungen und ein Potenzial an Kreativität, mit dem wir in der Lage sind, die Welt zu gestalten. Zugleich bilden sich in der individuellen Geschichte eines Menschen dessen Charakter, seine emotionalen Reaktionsmechanismen, seine Verhaltensmuster und seine Denkschablonen, mit denen er die Welt an seine Grundüberzeugungen anpasst. Was dem Menschen die Möglichkeit beschert, eine persönliche Erfahrung zu machen, ist zugleich die Limitierung seiner Erfahrung. Seine Konditionierung bestimmt, wie er die Welt sieht, was für ihn möglich ist und wo die Grenzen des Machbaren beginnen. Wir erleben uns mitten in diesem Spannungsfeld von Freiheit und Beschränkung: Wir sind freie Wesen und zugleich leben wir als Körper-Geist-Konstrukt, das den Gesetzen der Materie und des Verstandes unterworfen ist. Ich bin falsch – Die Falle der Unvollkommenheit Die Erfahrung der persönlichen Begrenzung und die vermeintliche Unfähigkeit, im konkreten Lebensalltag dem „inneren“ Wesen gerecht zu werden, hat kulturgeschichtlich eine folgenreiche Konsequenz: Der Mensch glaubt, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Er sieht sich als unvollkommen und macht sich selber für seine Unfähigkeit verantwortlich, seinen „göttlichen“ Ursprung zu verwirklichen. Der „Sündenfall“ erzählt eindrucksvoll diese Geschichte. Wir tragen diese Grundprägung in uns wie einen Virus auf der Festplatte. Zugleich scheint das Leben die Annahme täglich zu bestätigen, dass wir Mängelwesen sind und einer grundlegenden Rundum-Erneuerung bedürfen. Die meisten Menschen sind nicht glücklich, fühlen sich unfrei und strengen sich an, etwas zu erreichen, von dem sie kaum wissen, was es ist. Das legt die Frage nahe: Gibt es denn einen Weg aus dem Dilemma? Die Religionen, Kulte und therapeutischen Schulen bieten eine Fülle von Lösungswegen an. Doch die meisten basieren auf einer grundlegenden Fehlinterpretation der Situation: Der Konflikt, der gelöst werden soll, entbehrt jeder Grundlage, er ist hausgemacht. Der Aspekt des Bewusstseins, den wir Persönlichkeit nennen, ist nicht falsch oder unvollkommen. Auf dieser Ebene sind wir lediglich nicht in der Lage, die Einheit zu erleben, die wir im Innersten sind. Jede religiöse Lehre, therapeutische Methode oder spirituelle Praxis, die eine Möglichkeit verspricht, innerhalb der Persönlichkeit jenen Frieden zu erfahren, entspringt – ebenso wie der Ursprung des Problems – dem mentalen Aspekt des Bewusstseins. Der Verstand schafft das Problem, der Verstand liefert die Lösung. Der Verkäufer und der Kunde sind ein und dieselbe Person. Das Heilmittel: Präsenz Dennoch bleibt das Wissen, dass unser Leben erfüllter sein könnte. Es bleibt die Erfahrung, dass es möglich ist, in einem Fluss wacher Aufmerksamkeit zu sein, der eine völlig andere Lebensqualität darstellt als unser „normaler“ Trancezustand. Die Mystiker sind immer wieder ausgestiegen aus der vereinbarten Normierung und haben durch ihre eigene Erfahrung darauf hingewiesen, dass niemand erst eine Folge von Seminaren, Übungen und Glaubensbekenntnissen durchlaufen muss, um zu erkennen, wer er ist. Der Schlüssel dazu ist einfach. Innerhalb der Dynamik des menschlichen Bewusstseins gibt es einen weiteren Aspekt: Präsenz. Die Gegenwärtigkeit im Moment lässt alle Schleier fallen. Wir sehen die Person mit ihren Dramen und Wundern ebenso klar wie die Essenz dessen, wer wir selber sind. Die Identifikation löst sich auf, und daraus entsteht ein Raum, eine Freiheit, bedingungslos Ja zu dem zu sagen, was jetzt ist. Um dahin zu kommen, gibt es keinen „Weg“. Keine Methode ist fähig, die Entscheidung zu ersetzen, exakt der Mensch zu sein, der ich jetzt bin. Es bedeutet, nicht mehr nach Erlösung zu suchen und auf Heilung zu hoffen. Denn derjenige, der sucht, ist nicht in der Lage zu finden. Aber wer bin ich, wenn ich aufhöre, an mir herumzubasteln? Was geschieht, wenn ich den kindlichen Traumata, den Geschichten der Vergangenheit und den spirituellen Erfahrungen keine Aufmerksamkeit mehr schenke? Das ist das Experiment und das Abenteuer: innezuhalten, wach in jedem Moment dessen gewahr zu sein, was geschieht, ohne etwas anderes zu erwarten als das, was ist. Nur so kann ich überprüfen, ob die hier dargestellte Hypothese lediglich eine weitere Heilsversprechung ist oder ob sie mich der Wahrheit näher bringt. Therapie, Lebensberatung und spirituelle Begleitung müssten umdenken und den Menschen wieder als den betrachten, der er ist: vollkommen und makellos. Veränderung, die dann geschieht, folgt organisch einer inneren Intelligenz und führt dazu, dass das Licht des Bewusstseins durch die Strukturen der Persönlichkeit strahlen kann. Foto oben: ©Claus_Mikosch-fotolia.com 2 Responses Dorotea 22. November 2010 Super! Wenn ich selbst schriebe, wäre dieser Artikel dabei rausgekommen in den letzten Wochen. Danke für die Mühe und viele aufmerksame Leser wünscht: Dorotea Antworten Franz Josef Neffe 10. Mai 2010 Ja, als Kind kommt von klein auf alles VON OBEN HERAB auf dich: Gutes wie Böses, Ersehntes wie Befürchtetes, Gewolltes wie Abgelehntes. Ich habe das in einem Ich-kann-Schule-Experiment mit einen BRETT gezeigt: Was auf dieser Fläche zu Dir herab rutscht, kannst Du anschauen und prüfen. Wenn Du es wieder loswerden willst, musst Du es die Fläche wieder hinaufschieben und oben halten, bis es jemand zurücknimmt – oder Dir die Arme erlahmen; dann rutscht alles wieder auf Dich herab. Und nun stell Dir einmal vor: ich mache mich als Erwachsener kleiner als Du und reiche es Dir VON UNTEN HINAUF. Du nimmst es in die Hand, schaust es an und entscheidest, ob Du es behältzst oder nicht. Wenn Du es loswerden willst, lässt Du es einfach los, dann rutscht es von Dir weg nach unten und die Sache ist für Dich erledigt. Dieses VON UNTEN HINAUF ist SUG-GESTION: eine Geste (gestio) von unten (sub/sug) hinauf. Ich grüße freundlich. Franz Josef Neffe Antworten Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar Antwort abbrechenDeine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.KommentarName* E-Mail* Meinen Namen, meine E-Mail-Adresse und meine Website in diesem Browser für die nächste Kommentierung speichern. Überschrift E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.Auch möglich: Abo ohne Kommentar. Durch Deinen Klick auf "SENDEN" bestätigst Du Dein Einverständnis mit unseren aktuellen Kommentarregeln.
Dorotea 22. November 2010 Super! Wenn ich selbst schriebe, wäre dieser Artikel dabei rausgekommen in den letzten Wochen. Danke für die Mühe und viele aufmerksame Leser wünscht: Dorotea Antworten
Franz Josef Neffe 10. Mai 2010 Ja, als Kind kommt von klein auf alles VON OBEN HERAB auf dich: Gutes wie Böses, Ersehntes wie Befürchtetes, Gewolltes wie Abgelehntes. Ich habe das in einem Ich-kann-Schule-Experiment mit einen BRETT gezeigt: Was auf dieser Fläche zu Dir herab rutscht, kannst Du anschauen und prüfen. Wenn Du es wieder loswerden willst, musst Du es die Fläche wieder hinaufschieben und oben halten, bis es jemand zurücknimmt – oder Dir die Arme erlahmen; dann rutscht alles wieder auf Dich herab. Und nun stell Dir einmal vor: ich mache mich als Erwachsener kleiner als Du und reiche es Dir VON UNTEN HINAUF. Du nimmst es in die Hand, schaust es an und entscheidest, ob Du es behältzst oder nicht. Wenn Du es loswerden willst, lässt Du es einfach los, dann rutscht es von Dir weg nach unten und die Sache ist für Dich erledigt. Dieses VON UNTEN HINAUF ist SUG-GESTION: eine Geste (gestio) von unten (sub/sug) hinauf. Ich grüße freundlich. Franz Josef Neffe Antworten