Gott, Guru, Hingabe: Die Beziehung zwischen dem Guru, dem ­spirituellen Meister, und seinen Schülern ist eine spirituelle Beziehung, die auf tiefem Vertrauen und Hingabe beruht. Sie kann spirituellen ­Fortschritt ermöglichen, aber auch missbraucht werden. Was sind die konstruktiven und positiven Aspekte einer Beziehung zu einem Guru?

 

Der Begriff des Guru ist in spirituellen Kreisen weit bekannt und wohl eines der kontroversesten Prinzipien überhaupt. Für viele ist damit Unterwerfung und Hörigkeit verbunden. Im modernen Zeitalter der Selbstbestimmung und individuellen Autonomie findet eine Beziehungsstruktur, die auf Hingabe und Unterordnung beruht, wenig Anklang. Nicht ganz zu Unrecht vermutet man, dass der Schüler seinen eigenen Willen und seinen gesunden Menschenverstand an den Guru abgibt und damit seine persönliche Souveränität und sein Unterscheidungsvermögen untergräbt. Dies kann pathologische Züge annehmen. Um der eigenen Verantwortung zu entfliehen und die eigene Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, zu überspielen, gibt man sich in einer Art sentimentalem Rausch einem glorifizierten, in den Himmel gehobenen, verehrten Meister hin. Man gibt seinen Verstand an der Eingangstür ab und folgt nur noch blind den Anweisungen des spirituellen Meisters. Soviel zu der dysfunktionalen Form und zu den Vorbehalten von Menschen, die von der Beziehung zum spirituellen Meister nichts halten bzw. nichts wissen.

Wir bewegen uns jedoch in einem spirituellen Feld, und vielleicht ist es sinnvoll, sich einmal über die positiven Aspekte einer solchen Beziehung bewusst zu werden. Nicht umsonst gibt es seit Jahrtausenden dieses Prinzip des spirituellen Meisters, des Gurus.

Das Wort Guru kommt aus dem Sanskrit und gehört in die vedische Tradition des alten Indien. Das Wort bedeutet „schwer, gewichtig“ und bezieht sich auf das Gewicht der Worte des Gurus. In der ursprünglichen Form hatte der Guru einen so genannten Ashram, in dem die Schüler mit dem Meister zusammenlebten und in allen Bereichen des Lebens unterwiesen wurden. Dazu gehörten sowohl Dinge der täglichen Lebensführung wie Gesundheit, Ernährung und ethisches Verhalten als auch die spirituelle Ausbildung an sich, d.h. die Fragen nach der Wahrheit, nach Gott und den ewigen Prinzipien des Lebens.

 

Das Rad nicht neu erfinden

Welche Gründe gibt es, bei einem spirituellen Meister Zuflucht zu nehmen und sich seinen Unterweisungen anzuvertrauen? Zunächst ist es evident, dass jemand, der eine jahrzehntelange  Ausbildung und Praxis in einem bestimmten Wissensgebiet hat, eine erfahrene Autorität ist, von der man lernen kann. Jeder Mensch, der Klavierspielen lernen möchte, nimmt sich einen Lehrer. Es wäre sinnlos, ohne jegliches Wissen allein über Versuch und Irrtum das Klavierspielen lernen zu wollen. Theoretisch wäre es möglich, alle Tastenkombinationen durchzuspielen und dabei schließlich auch eine Symphonie von Beethoven zu spielen. Praktisch ist dies jedoch fast unmöglich. In gleicher Weise gibt es auch im spirituellen Wissen eine jahrtausendealte Tradition, die über viele Generationen und Legionen von Menschen, die eine Meisterschaft erreicht haben, weitergereicht wurde und die essentielle Lehre und die vollständige Kombination der Wissens­inhalte enthält. Es ist nicht notwendig und auch nicht sinnvoll, dass jeder Mensch das Rad neu erfindet. Unsere gesamte Kultur, unser gesamtes Wissen und unsere Zivilisation, steht auf den Schultern unserer Vorväter und -mütter. Wir befinden uns in einer Wissens-Kontinuität, die bis in die Vorzeit zurückreicht.

 

Direkte Übertragung

Über die kognitive oder intellektuelle Ebene der Wissensvermittlung hinaus finden wir im Bereich der Spiritualität darüber hinaus auch eine Art der Ganzheit, die nicht nur intellektuelles Wissen be­inhaltet, sondern Körper, Geist und Seele als Ganzes erfasst. Um lediglich Wissen aufzunehmen, würde es reichen, Bücher zu lesen. Es geht in der Spiritualität ­jedoch auch um eine Übertragung von energetischen und spirituellen Aspekten. Sehr wesentlich ist das Hören und Fühlen in der unmittelbaren Beziehung mit dem Gegenüber, der selbst ein Mensch in all seinen Facetten und in seiner vollständigen Lebensenergie ist. Der Guru, der spirituelle Meister, ist immer ein ­lebender Meister, denn die Übertragung der eigentlichen Weisheit läuft nicht über das Bewusstsein oder gar lediglich das Denken, sondern über eine intuitive und gefühlte Erfahrung. Es entsteht eine energetische Verbindung. Diese Verbindung funktioniert nur dann, wenn dabei eine Erfahrung von Vertrauen und daraus hervorgehend und weitergehend auch eine Erfahrung von Liebe gemacht wird. Der Guru ist für den Schüler wie ein Vater, eine Mutter, ein wohlmeinender Freund und ein Geliebter. Es handelt sich dabei nicht um eine materielle, sondern um eine spirituelle Beziehung. Im ursprünglichen Verständnis ist die Beziehung zum Guru ewig, da sie nicht in den Bereich der zeitweiligen, relativen, durch Raum und Zeit bedingten materiellen Sphäre gehört, sondern in den Bereich der ewigen und absoluten Kategorien jenseits von Raum und Zeit, die die spirituelle Dimension ausmachen. Als Menschen haben wir eine materielle Seite, die durch Raum und Zeit begrenzt ist und aus dem Ego motiviert wird. Wir haben aber auch eine spirituelle Seite, die unser wahres Wesen, unser wahres Selbst darstellt, wie es im Einklang mit der Wahrheit und der göttlichen Ordnung ewig existiert. Die Aufgabe des Gurus ist es, uns nach Hause zu Gott zurückzubringen und uns in unsere ewige Wahrheit als spirituelle Wesen zu führen.  Sobald die Seele bereit ist, wird sich eine Verbindung zum Guru manifestieren.

 

Schwierige Balance

Die Beziehung zu dieser spirituellen Seele selbst ist bereits Teil der Unterweisung. Das Wesen des Gurus ist bedingungslose Liebe und ozeanische Barmherzigkeit. Ein echter, verwirklichter spiritueller Meister ist ein Erwachter oder Erleuchteter, der durch sein Beispiel lehrt. Unsere Seele und unser Herz fühlen sich wie von selbst zu einer solchen Person hingezogen, eben weil sie alle anziehenden Eigenschaften einer verwirklichten Seele hat. Eine solche Person hat ihr egoistisches Identitätsgefühl transzendiert, ruht in innerem Frieden in sich selbst, ist jedem gleich gesinnt und befindet sich in andauernder spiritueller Ekstase. Eine solche Person besitzt Wissen und Liebe und kann diese an uns weitergeben. Die Situation des Gurus ist äußerst delikat. Einerseits muss er seinen Schülern die Möglichkeit geben, festes Vertrauen und eine stabile Beziehung zu ihm zu entwickeln, wozu Hingabe und eine tiefe Verehrung gehören. Andererseits muss er für sich selbst sehr auf der Hut sein, dass diese Bewunderung seiner Schüler nicht sein eigenes Ego zum Anwachsen bringt. Sobald der Meister Ego entwickelt, fällt er von seiner spirituellen Stufe herunter. Um seine eigene spirituelle Stufe jenseits des Egos (Ruhm, Anerkennung, Reichtum etc.) zu halten, muss er eigentlich jeden Hauch von Verehrung  oder Bereicherung vermeiden. Gleichzeitig muss er seinen Schülern die Möglichkeit geben, ihm ihre Liebe und ihren Respekt zu ­zeigen. Dies ist eine schwierige Balance, die, wie die Erfahrung zeigt, leider allzu oft schief geht. Viele Adepten helfen sich damit, dass sie gar keine Schüler annehmen, um nicht in den Strudel des Egos hineingezogen zu werden. Andere spirituelle Praktiker hingegen genießen es sehr, von ihren Schülerinnen und Schülern verehrt zu werden, und treten dabei in die Falle des Egos. Sie genießen die Macht und den Reichtum, den die Position mit sich bringen kann. Hier beginnt der Missbrauch. Sie fallen von ihrer spirituellen Stufe herunter, wollen jedoch ihre Privilegien nicht aufgeben und beginnen, die Umwelt zu täuschen.

 

Aus dem Ego heraustreten

Viele Menschen haben aus dieser Möglichkeit des Missbrauchs die Konsequenz gezogen, die Meister-Schüler-Beziehung ganz in Abrede zu stellen. Damit geht ­jedoch auch das konstruktive spirituelle Prinzip der Sache verloren und eine tiefe Qualität der spirituellen Erfahrung kann nicht mehr erlebt werden. Die tiefste Qualität dürfte in der Erfahrung der bedingungslosen Liebe und der Übertragung der spirituellen Verzückung (Trance, Ekstase) bestehen. Eine bestimmte Ebene der spirituellen Erfahrung kann ohne spirituellen Meister nicht erreicht werden. Spirituelles Erwachen ist eine Transzendierung des Egos. Die Hingabe ist das spirituelle Prinzip, mit dem das Ego transzendiert wird. Gerade im Abgeben meines eigenen Willens und meiner eigenen intellektuellen Kalkulation kann ich aus meinem Egokreis heraustreten. Ich brauche eine Hilfe von außen, die mich aus der Kiste meines Egos befreit. Die Mittel meines Egos sind nicht geeignet, mein Ego zu überwinden. Wie man sich denken kann, ist das Abgeben meines eigenen Willens an eine andere Person – Hingabe – eine höchst sensible Sache. Ich muss diesem Menschen rückhaltlos vertrauen und sicher sein, dass es sich bei ihm tatsächlich um einen reinen, egofreien Menschen handelt. Insofern ist es angebracht, die Entscheidung, sich einem Guru anzuvertrauen, sehr wohl mit dem Intellekt zu prüfen. Hat man schließlich diese Entscheidung getroffen, kann der spirituelle Fortschritt über Vertrauen und Hingabe erreicht werden. Es ist nicht möglich, in normal weltlich-materiellen Beziehungen ein solches Vertrauen und solche Hingabe erfolgreich zu praktizieren. Materielle Beziehungen beruhen auf materiellen Motiven – das Ich will immer haben – und werden deshalb ausbeuterisch. Die Beziehung zum spirituellen Meister muss von der spirituellen Qualität getragen werden, nur dann ist sie förderlich und konstruktiv. Wir sind als Lebewesen so strukturiert, dass wir eine solche Beziehung ersehnen und auch brauchen. Wir brauchen liebevolle Beziehungen und wir haben einen Wunsch uns hinzugeben. In dieser Hingabe erfahren wir erst das vollständige Spektrum unserer Seele wie auch der spirituellen Realität der Liebe. Die ursprüngliche Adresse dieser Hingabe ist Göttin-Gott. Der spirituelle Meister ist der verwirklichte Diener Gottes, der uns zeigt, wie wir diese Hingabe verwirklichen können, auch durch seine hingebungsvolle Beziehung zu seinem eigenen spirituellen Meister. Er ist Mittler und Medium und der demütige Diener von allen. Er ist niemals selbst das letzte Ziel unserer Hingabe. Da er aber ein lebender Mensch ist, können wir diese Hingabe an ihm leichter üben und gleichzeitig auch echter und realer erfahren. Er wird entsprechend reagieren und unsere Beziehung zu ihm wird zu- oder abnehmen, je nachdem, wie echt und ehrlich sie ist. Es ist seine grundlose Barmherzigkeit, die unsere natürliche und ewige Beziehung zu Göttin-Gott wieder erwecken kann.

 


Bild 1: Ein echter ­spiritueller Meister ist eine natürliche ­Autorität, die auf Menschen anziehend wirkt. Hier Bhaktivedanta ­Narayana Maharaja (1921-2010) im Kreis seiner ­Schüler.
Bild 2: Ein lebender echter spiritueller Meister ist Sadhu Maharaja (*1943) aus Indien. Er entstammt der Königsfamilie von Bihar und gab allen Reichtum und Status für das Leben eines gottgeweihten Wandermönchs auf.

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