Ist die letztendliche Wirklichkeit, Gott, eine Person, oder ist sie unpersönlich? Ist sie eine wahrnehmbare Existenz oder einfach leerer Urgrund, Nichts? Darüber – und natürlich über den Weg dorthin – disputieren vor allem in Indien weise Menschen und Gottessucher seit Jahrtausenden – teilweise mit enormer Heftigkeit. Mit welchen Argumenten untermauern beide Seiten ihre jeweilige Philosophie? Sein oder Nicht-Sein – eine Gottesfrage.

In den letzten Jahren wird im Westen zunehmend die Lehre des Advaita aus Indien bekannt, die als letztes spirituelles Ziel die Auflösung des illusionären Ichs in das eigenschaftslose Brahman postuliert. Daneben gibt es aber auch noch einen Weg zur Erleuchtung, Bhakti genannt, bei dem das Ziel nicht die Auflösung des Ichs, sondern eine persönliche Beziehung zu Gott ist. Auf beiden Wegen sind nach indischer Philosophie verschiedene Grade von Erleuchtung möglich, die völlige Befreiung aus dem Kreislauf von Geburten und Tod (samsara).
Der Weg des Bhakti ist durch die Verehrung Gottes gekennzeichnet, durch das Hören von Heiligen, das Sprechen über Gott, das Singen (Mantrenchanten, Gott lobpreisen, danken…), sich an Gott erinnern, dienen, die Bildgestalten im Tempel verehren, beten (möglichst motivlos) und sich letztendlich Gott völlig hingeben.
Zum Weg des Advaita gehört dagegen eine radikale Verneinung der wahrnehmbaren Welt und alles Sinnlichen dazu. Ramana Maharshi beispielsweise meditierte sehr lange ununterbrochen über die Frage „wer bin ich?“ und ließ sich auch durch sein abfaulendes Bein nicht davon abbringen.

 

Der personale Gott

Die Bhakti-Philosophie besagt, dass es einen personalen, liebevollen Gott gibt, der sich erst einmal in viele männliche und weibliche Formen erweitert und dann besonders mächtige Lebewesen wie Engel und Halbgötter geschaffen hat. Dann schuf er winzige Seelen, die sich von ihm abwenden oder ihm zuwenden können. Das sind wir. Wir sind Teile oder Kinder Gottes, qualitativ eins mit Gott, aber niemals Gott selber. Daher ist bei Bhakti die Grundvoraussetzung eine dienende Haltung gegenüber dem Ganzen nach dem Motto: „Mir geht es am besten, wenn ich meine wesensgemäße Position (mein Dharma) erfülle“ – vergleichbar mit der Funktion einer gesunden Zelle im Körper.
Die Advaita-Philosophie besagt dagegen, dass alle Namen und Formen (auch die Gottes), alles Persönliche und Individuelle, alles Gute und Böse eine Illusion sind. Es gibt nur eins, wir sind alle eins, „ich bin Gott“.

Aus der Sicht der Bhaktas ist das eine lieblose Haltung gegenüber Gott. Sie berufen sich auf die Schriften, in denen steht, dass das Brahmajioti, in welches die Unpersönlichkeitsanhänger nach dem Tode eingehen, lediglich die körperliche Ausstrahlung Gottes ist und dass einem der wirkliche Nektar, die liebevolle Beziehung zu Gott, entgeht, wenn man damit verschmilzt. Auch ergibt das Vorhandensein unserer Welt keinen Sinn, wenn es keinen Gott gibt. Warum sollte das unpersönliche, undifferenzierte Brahman eine Welt mit Vielfalt, Persönlichkeiten und Eigenschaften hervorbringen? Wenn es eigentlich keine Person, keine Individualität gibt, sondern nur das Eine, wieso präsentiert sich dieses Eine dann als die Illusion von Vielfalt und von Freud und Leid? Die Antwort des Advaita darauf: „Darauf gibt es keine Antwort. Die Frage kann nur jemand stellen, der glaubt, dass es irgendwie einen Sinn geben müsste. Den gibt es aber nicht. Alles ist sinnlos, leer.“

Bhakti: Naive Spiritualität?

advaita-krshna2.tifDie Vorstellung der Bhaktas von einem Sinn ist, dass Gott individuelle Seelen geschaffen hat, die sich von Ihm abwenden können. Für sie ist unsere materielle Welt da, damit sie sich Gott wieder zuwenden können, wodurch sie schließlich in die spirituelle Welt zurückkehren. Aus der Sicht des Advaita ist Bhakti eine naive Vorstufe zur spirituellen Erkenntnis des Brahman.

Die Verkörperung von Gott sind für die Bhaktas Radha und Krishna, Ausdruck ekstatischer göttlicher Liebe. Sie sind ihren Anhängern, die sie verehren, unendlich zugetan. Der Weg und das Ziel von Bhakti ist Bhakti: bedingungslose Liebe. Die Bhaktas interessieren sich nicht für irgendwelche astralen Welten. Sie kommen nach ihrer Vorstellung in ihrem individuellen spirituellen Körper in das Reich Gottes, wo sie eine glückselige, individuelle Beziehung zu Ihm/Ihr haben.

Der Weg und das Ziel des Advaita ist dagegen das Ablegen alles Persönlichen, bis nichts mehr da ist und das individuelle Sein eins mit allem Sein geworden ist. Ein Zustand jenseits von Sein und Nicht-Sein.

Advaita und Bhakti: die Synthese

advaita-radha-krshna.tifObwohl beide Positionen auf den ersten Blick sehr gegensätzlich erscheinen, kann man sie auch als sich gegenseitig ergänzende Sichtweisen verstehen: Advaita ohne Bhakti ist nur die Negation einer diesseitigen Wirklichkeit, was noch nicht auf Absolutheit hinweist. Die Verehrung Gottes ohne Advaita bleibt dagegen in der Verehrung materieller Vorstellungen hängen.
Auch die Einheitserfahrung lässt sich von zwei Seiten beleuchten: einerseits die unpersönliche, völlige, endgültige und irreversible Aufhebung der Individualität, die Verschmelzung mit dem Brahman. Das ist die Erfahrung von Frieden. Andererseits die Einheit, wenn zwei spirituelle Wesen (Gott und die Seele) ewiglich konfliktlos in einem Austausch stehen. Da keinerlei Spannung mehr besteht, ist das die Erfahrung von Liebe.
Vielleicht kann man es so sehen: Wenn man glaubt, eine Wahl treffen zu müssen zwischen Advaita und Bhakti, befindet man sich bereits in der Dualität, die nie alles zu umfassen vermag. Die spirituelle Wirklichkeit kann beide Aspekte miteinander auf eine Weise verbinden, die als Hinweis auf eine ganz andere Wirklichkeit verstanden werden kann. Innerhalb der Vielfalt dieser Welt gibt es jedoch keine Koexistenz zwischen sich widersprechenden Gegensätzlichkeiten. Es gibt allerdings eine höhere Wirklichkeit, auf der die Gegensätze in einer umfassenden Einheit zusammenfallen (coincidentia oppositorum). Koexistenz, die sich aber nicht einfach gegenseitig auflöst, sondern bereichert. Das ist die harmonisierende Qualität der absoluten Realität.

Höhere Harmonie

Versteht man die unterschiedlichen Standpunkte auf diese Weise, erkennt man, dass in der Gegensätzlichkeit der verschiedenen Aussagen in den heiligen Schriften nur auf eine höhere Harmonie hingewiesen wird. Diese Ganzheit ist für den Verstand nicht zu fassen. Wenn man das Heilige mit den eigenen Vorstellungen überlagert, resultiert nicht die Wahrheit daraus, sondern die eigene Vorstellung von der Wahrheit. Die eigene relative Erfahrung des Absoluten darf nicht verabsolutiert werden, denn das wäre die Stagnation der inneren Entwicklung.
Was eigentlich mit Advaita-Erfahrung gemeint ist, ist Vielheit ohne Konflikt, Einheit in der Zweiheit. Die absolute Wahrheit ist advaya, nicht dual, nicht zweihaft. Das bedeutet, dass es in ihr keine Dualität gibt, dass sie eins ist. Unio und communio – Einheit und Beziehung. Eine Einheit, die auch die Vielheit in sich integrieren kann, in der die Gegensätzlichkeiten sich ergänzen.
Die höchste absolute Wahrheit hat transzendente Form, Eigenschaften und Charakter. Da sie nichts zu tun braucht – da alles nur von ihrer iccha Sakti, ihrer Wunsch-Kraft, geschieht – spielt sie. Dieses dramatische Liebesspiel des letztendlichen Bewusstseins nennt man lila. Die heiligen Schriften beschreiben dies, um uns die Faszination der Wirklichkeit zu vermitteln.

Als Krishnas Mutter in den Mund ihres Sohnes schaut, erblickt sie in ihm Millionen von Universen, die gesamte Schöpfung. Aus der Sicht von Bhakti zeigt sich hier die wahre Bedeutung von Advaita, „nicht dual“. Die höchste Wahrheit ist eine Person und in ihr existiert keine Dualität. Es gibt in ihr keinen Unterschied zwischen Innen und Außen. Von ihr gehen alle Universen aus, und zur gleichen Zeit sind sie auch in ihr. (Bhagavad Gita 9.4) Innen und Außen sind gleich. Ein Wesen ohne Dualität.

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