Ich frage mich, ob Vergebung wirklich so funktioniert, wie wir uns das vorstellen: dass wir nämlich einem anderen Menschen vergeben, der uns irgendetwas angetan hat. Meine eigene Erfahrung jedenfalls ist, dass nicht ich vergebe, sondern dass Vergebung einfach aus mir heraus geschieht, wenn ich bereit und reif dafür bin. Zum Beispiel lag ich jahrzehntelang in innerem Clinch mit meinem Vater, der starb, als ich zwölf Jahre alt war. Als ich damals nach Hause kam und unser Nachbar, der meiner völlig neben sich stehenden Mutter Halt gab, mir von seinem Tod berichtete, fühlte ich einfach nur Erleichterung. Ich war zu dieser Zeit an einem Punkt angekommen, an dem ich mir sagte: Wenn mich mein Vater noch einmal schlägt, dann schlage ich zurück. Durch seinen Tod war es einfach so, dass etwas, was mich bedrohte, endlich weggefallen war. Ich hatte auch Schuldgefühle, weil ich keinen Schmerz fühlte – schließlich war ja gerade mein Vater gestorben –, aber die Erleichterung überwog. Ich beschäftigte mich später viel mit meinem Vater und verstand, warum er so cholerisch und gewalttätig war (er war selbst von seinem Vater einfach grundlos immer wieder verprügelt worden) und konnte ein Stück von meinem Hass loslassen. Weitere Jahre später sah ich in einer Meditation, dass mein Vater darüber hinaus seinen Job als Familienoberhaupt – in den Grenzen, in denen ihm das möglich war – vollkommen erfüllt hatte:

Er hatte für mich und meine Mutter finanziell gesorgt und nach seinem ersten Herzinfarkt eine so hohe Lebensversicherung abgeschlossen, dass wir das Haus, in dem wir wohnten, nicht verloren. Die Bilder in dieser Meditation waren so eindrücklich und von Gefühlen der Verbindung und Liebe begleitet, dass etwas in mir in Frieden kam. Wenn ich heute an meinen Vater denke, kann ich ihn problemlos in den Arm nehmen. Da ist noch etwas Schmerz, dass ich ihn nur so kurz erlebt habe, aber ich weiß, dass es richtig war, wie es war, und er keine Chance hatte, aus seiner eigenen inneren Hölle auszubrechen, sodass die Liebe zwischen uns wohl nie wirklich hätte fließen können. Für mich heißt darum Vergebung, in einen Zustand des Einverstandenseins zu gelangen, in dem der alte Hader sich dann einfach verabschieden darf…

Jörg Engelsing

Unterstütze SEIN

Vielen Dank an alle, die den Journalismus des SEIN bisher unterstützt haben.
Die Unterstützung unserer Leser trägt dazu bei, dass wir unsere redaktionelle Unabhängigkeit behalten und unsere eigene Meinung weiter äußern können. Wir sind sicher, dass unsere redaktionelle Arbeit und unsere Themenvielfalt und Tiefe den gesellschaftlichen Wandel beflügeln. Wir brauchen Deine Unterstützung, um weiterhin guten, kreativen "Lösungs-Journalismus" zu liefern und unsere Offenheit zu wahren. Jeder Leserbeitrag, ob groß oder klein, ist wertvoll. Wenn Du unsere Arbeit wertschätzt, unterstütze SEIN noch heute - es dauert nur wenige Minuten. Vielen Dank.
SEIN unterstützen





Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*