Eine bunte Mischung aus 10.000 Menschen aller Altersstufen mit selbstgemalten Transparenten folgte dem Aufruf der weltweiten „Occupy-Bewegung“ in Berlin. Occupy Berlin: Ein Erfahrungsbericht.

 

Occupy Berlin: Vielfalt und Gemeinsamkeit

Da zum offiziellen Beginn der Versammlung erst etwa 150 Menschen versammelt waren, startete der Demonstrationszug mit der für Berlin obligatorischen Verspätung von 1,5 Stunden. Mit Bob Marleys Freiheitshymne aus den Boxen begann die ausgelassen und friedlich tanzende Menge, der sich mittlerweile einige Tausend angeschlossen hatten, ihren Wunsch nach Veränderung und Wandel zu verkünden.

Von Anfang an beeindruckte die Vielfalt der verschiedenen Aussagen und das breite Spektrum kreativen Potentials – spürt man sonst bei Demonstrationen oft eine aggressive, angespannte Grundstimmung in Verbindung mit den herkömmlichen linken Parolen, so überwog an diesem sonnigen Samstagmittag das Gefühl von Gemeinsamkeit und Zusammensein. Weit über die Begrenzungen trennender politischer Ansichten oder weltanschaulicher und religiöser Differenzen hinaus, begaben sich die Menschen gemeinsam auf die Straße. Junge demonstrierten neben Älteren, auffallend wenige schienen aus der linken Szene zu kommen, nicht wenige waren möglicherweise zum ersten Mal auf einer solchen Veranstaltung, getrieben von der Neugier und dem Wunsch nach Veränderung.

Aufbruchstimmung

Occupy BerlinMan fühlte eine Aufbruchstimmung, ein neues Gefühl von übergreifender Verbindung ohne die üblichen Widerstands- und Klassenkampfparolen, die Sehnsucht nach Menschlichkeit, Frieden, etwas ganz Neuem, Großen. All das stand auch im Vordergrund der vielen Beiträge, die über das „open microphone“ – übernommen von der „occupy wallstreet“-Bewegung aus den USA – die Menge erreichten.

Die Menschen sehnen sich nach einem Systemwechsel. Sie sehnen sich aus tiefsten Herzen, nach Verbrüderung, einem Wandel in Frieden, einem Hinterfragen all der Verhaltens-, Lebens-, Konsum- und Denkmuster, die überholt sind und für uns nicht länger selbstverständlich sein dürfen. Sie motivierten in eindringlichen Worten ihre Mitmenschen zu einem umfassenden Umdenken – dazu den Teller in Frage zu stellen, anstatt nur über den Rand hinaus zu blicken, eine Erweiterung unseres Bewusstseins zuzulassen, eine Ablösung des Alten durch etwas völlig Neues.

Ohne das Herz geht es nicht mehr

Tief bewegt war ich durch überraschend viele Beiträge von zumeist sehr jungen Menschen, die längst begriffen haben, dass ein Wandel nicht durch politischen Widerstand und Gewalt erzeugt werden kann, sondern bei jedem Einzelnen beginnt, in jeder einzelnen Entscheidung, die wir jeden Tag treffen.

Ein junger Mann drückte es wie folgt aus: „Ich bin ein Mensch. Ich habe nichts anderes außer mein Herz. Dort sitzt die unbegrenzte Macht für Veränderung. Nur mit Liebe werden wir die Dinge wandeln, die wir sooft mit allen Mitteln zuvor erfolglos bekämpft haben.“

Die Grundstimmung der Verbundenheit und des Miteinanders wurde ebenso verstärkt durch die Methode des Wiederholens jeden einzelnen Satzes der jeweiligen Redner durch die Gruppe, damit alle die Möglichkeit haben, zu verstehen, was gesagt wurde. Auch wenn das in Berlin aufgrund der Verstärkung durch Mikrofon gar nicht nötig gewesen wäre, bildete es doch einen wichtigen Pfeiler für die Gruppendynamik. Es hat mich beeindruckt, wie viele Menschen sich auf diese völlig neuen Herangehensweisen einlassen können. Wie viele sich neuen Wegen öffnen, ohne Führungsgarde oder einen klar definierten Forderungskatalog, in dem vollen Bewusstsein, nur einen Schritt nach dem nächsten gehen zu wollen, ohne konkrete Planungsmechanismen, die absolute Entscheidungsgewalt in der Hand von allen.

Zwei Ansätze, zwei Realitäten

Gleichzeitig mit dieser friedlichen Versammlung vor dem Kanzleramt, gab es auch eine kleinere Gruppe von Menschen vor dem Reichstag, zumeist aus der linken Szene, die mit den üblichen Sprechchören die anwesende Polizei provozierte. So konnte ich den Kontrast zwischen Alt und Neu fast greifbar fühlen. Sprang doch die dadurch aggressiv angeheizte Stimmung ziemlich schnell auf die Wachhabenden über und es dauerte nicht lange, bis eine entsprechende Reaktion erfolgte – der Platz vor dem Reichstag wurde durch die Uniformträger geräumt. Spannend, zu erleben, wie gerade hier das Gesetz von Anziehung funktioniert – Widerstand provoziert eben nur seinesgleichen.

Umso angenehmer berührten mich die friedlich innovativen Schwingungen und das neuen Wesen dieser doch sehr kleinen Revolution ein paar Meter weiter. Eine Weile habe ich den Beiträgen der vielen verschiedenen, bunt gemischten Rednern gelauscht. Oft sehr kreativ, mit Gedichten und kleinen Songs machten sie den Tausenden Gleichgesinnten eines klar: Wie sehr die Zeit es fordert, dass der bisherige Kampf gegen das bestehende System in Form von Widerstand oder gar Gewalt abgelöst wird von einem „Weg des Herzens“, wie es ein 84-jähriger Demonstrationsteilnehmer in seinem Beitrag nannte. Wie er sagte, hat er sechzig Jahre seines Lebens dem Kampf gegen Unterdrückung und Kapitalismus für Frieden und Menschlichkeit geopfert – um nun anzuerkennen, dass der Weg des Widerstandes, dieses „gegen etwas sein“, niemals von Erfolg gekrönt sein wird. Selbst tief bewegt, von dem, was er an diesem Tag erlebte, appellierte er an die neue Generation, die Liebe zu ihrer Triebkraft zu machen.

Ein ganz kleiner Anfang, und doch wurde ich Zeuge, dass sich etwas tut, in den Köpfen und vor allem in den Herzen der Menschen.

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Bilder

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Wir gehen voran: Some rights reserved by JamesReaFotos

 

Eine Antwort

  1. WellenbeobachterHH

    Danke für den Bericht aus Berlin! Auch in Hamburg war ordentlich was los:

    http://www.hh-violette.de/2011/10/occupy-hamburg-–-wir-sind-99-oder-warum-es-sich-lohnen-konnte-aufzustehen/

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