„98 Prozent aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur noch zwei Prozent“ – so die Schlussfolgerung des Films ­Alphabet. Unser eigenes beschnittenes Potenzial geben wir durch die Form der Erziehung und Bildung an unsere Kinder weiter. Doch die Lage ist nicht hoffnungslos. Workshops für Mutter, Vater und Kind, in denen Nähe, Wachstum und Spaß im Vordergrund stehen – statt Hierarchie, Zielerreichung und Beurteilung –, öffnen die ursprünglichen Räume unserer Kreativität und Lebensfreude.

 

Papa sitzt still am Boden. Sonst keinesfalls zurückhaltend oder ausdrucksschwach, schaut er nun minutenlang vom weißen Blatt Papier auf das Loch in der Luft und wieder zurück, sichtbar in sich selbst forschend. Dann führt er unsicher den Pinsel Richtung Farbpalette, setzt etwas ruckend zum Sprung über den oft erwähnten eigenen Schatten an, taucht den Pinsel ins Pink und wagt den ersten Strich. In Pink!

Die achtjährige Tochter sitzt ihm schräg gegenüber und emanzipiert sich gerade von den selbst aufoktroyierten Lotosblüten, die sie bisher fotogleich nachgemalt hat. Statt dessen entscheidet sie sich für was Neues: Sie lässt eben diese Lotosblüten mit wild wuchernden Lianen durchwachsen, bei deren Anblick man sich sofort mit Tarzan, Affen und so manchem urteilenden Hirngespinst spielerisch von Baum zu Baum schwingen will.

Mama, die sonst zuverlässige Anlaufstelle für „Wie geht das?“-Fragen, schaut genauso ratlos aus wie sonst ihr elfjähriger Sohn beim Blick auf die Mathe-Aufgaben. Sie hat eine Einladung erhalten. Sie ist eingeladen, sich frei der eigenen Lust folgend und ohne sonstige Vorgabe zur Musik zu bewegen.

„Komm Mama, das kannst du“, ­ermuntert sie der bewegungsfreudige Sohn. Er springt durch den Raum und übt hiphoppig anmutende Vornüberbeugen. Die Mutter versucht es, flüchtet sich zunächst in Teenager-Kichern und hangelt sich dann immer mutiger von Schritt zu Schritt. Dastehen, ohne das Geländer einer definierten Vorgabe, nur mit dem eigenen Körper, und diesen bewegen sollen oder besser dürfen, wie auch immer es geschehen will – das ist eine Herausforderung.

 

Schritte ohne Ziel

Die Eltern-Kind-Paare sind zu Gast in einem Raum ohne Urteile und Hierarchien. Hier wird gemalt, getanzt, getönt, ohne dass es eine konkrete Vorgabe oder präzise Anleitung gibt. Ohne Gut, Falsch, Richtig. Ohne jemanden, der weiß, was der nächste Schritt wäre. Ohne Ziel. Es ist ein Entfaltungs-Raum, ein besonderer Lern-Raum, ein Lebens-Raum. Hier gibt es nur sehr wenige Regeln, alle mit dem Ziel, dieses Frei-Sein von Urteil und Hierarchie zu schützen. Es handelt sich um einen äußeren Frei-Raum, in diesem Fall in Gestalt eines kreativen Familien-Urlaubs-Seminars. In dieser Oase darf sich langsam hervorwagen, was den Erwachsenen meist vor langer Zeit und teilweise auch schon ihren Kindern abgewöhnt wurde – ausgeredet, auserzogen, manchmal sogar ausbestraft.

Alle kleinen Kinder haben diesen inneren Raum der Inspiration in sich und weilen gern und lange darin. Später, in der Schule und oft auch in den Familien, werden sie immer wieder und teilweise massiv hinausgeschickt aus diesen Oasen der Kreativität und Ausdrucksfreude – so lange, bis sie irgendwann gar nicht mehr versuchen, dort hinzugehen. Bis sie diesen natürlichen Impuls von Lebendigkeit so oft unterdrückt haben, dass sie ihn kaum noch spüren. Bis sie verstanden haben, dass es im Leben wohl um etwas anderes gehen muss, als in diesem inneren Raum zu forschen, zu entdecken und das Entdeckte zu entfalten und auszudrücken.
Dabei geschieht das „Hinaus­geschickt-Werden“ gar nicht unbedingt durch Strafe, sondern oft durch Zeit- und Raummangel, durch normierte Erwartungen und auch durch wohl­meinendes Lob. Lob für das, was in Standards – wie Zeugnissen, Abschlüssen, Prüfungen – als gut, ­erstrebenswert und richtig definiert wird. 

 

Tun als Spiel

Der Film „Alphabet“ von Erwin Wagenhofer zeigte im letzten Herbst in eindrücklicher Weise den Zusammenhang von kreativen Entfaltungsmöglichkeiten und angstfreiem Ausdruck, unkonventionellem Denken und Genie. Er weist auf eine unermessliche, tagtägliche Verschwendung hin: die von menschlichem Potenzial. Zugespitzt formuliert der Film das Ergebnis einschlägiger Forschungen so: „98 Prozent aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur noch zwei Prozent.“
Der Forscher Arno Stern, einer der Protagonisten des Films, hat in den 50er Jahren in Paris den „Malort“ gegründet. Es ist ein Raum, in dem der Malende jenseits von Verbesserung, Urteil, Kommentar, Deutung und Betrachtung sein malendes Tun als Spiel erleben darf. Nach Stern brauchen Kinder nicht viel mehr als die Möglichkeit zu malen, zu tanzen, zu musizieren, um zu ihrem Wesen gemäßen, entfalteten Menschen zu werden. Sein Sohn André besuchte nie die Schule. Heute leitet er sein eigenes Institut und die Bewegung zur „Ökologie des Lernens“. 

Natürlich ist Nachahmung eine wichtige Form des Lernens in einem gesellschaftlichen, komplexen Gefüge. Kinder lernen von ihren Eltern, sowieso und immer. Das ist gut so. Aber wer wird unsere gesellschaftspolitischen, globalen,  ökologischen Probleme lösen? Die Nachahmer, die leistungsorientierten Erfüller bestehender Normen oder die kreativen Denker, die Querköpfe, die Erfinder von Unmöglichkeiten?

„Nicht auswendig gelerntes, sondern selbständig erworbenes Wissen und Können ist das, worauf es für die Gestalter des 21. Jahrhunderts ankommt“, so der renommierte Hirnforscher Gerald Hüther. Er fordert deshalb vehement eine neue Lernkultur, weil „nur mit Begeisterung nachhaltig gelernt werden kann. … Lernen muss, befreit von hierarchischem Belehren, zu einem kreativen Austausch unter Lernenden werden.“

 

Kreativität freilegen

Neben dem nachahmenden Lernen gibt es also anderes. Und dieses Andere gilt es wieder zu entdecken, zu fördern, Räume dafür zu schaffen. Äußere Hüllen, in denen es sicher genug ist, die inneren Räume der individuellen Kreativität vom Schutt der Ergebnisorientierung, der Erwartungen, des Urteils freizulegen und wieder zu blühenden Auen unserer Lebendigkeit werden zu lassen.

Wie wäre es, zusammen mit unseren Kindern das Abenteuer von kreativer Begeisterung, Freiheit und dem Glück des individuellen Gestaltens zu erleben? Wenn Kinder und Eltern gleichzeitig sich und einander über den kreativen Ausdruck entdecken und erforschen dürften, als Lernende auf Augenhöhe, ohne Hierarchien?

Schon ein Samstag, der statt der Shoppingtour einmal diesem ganz anderen Vorhaben gewidmet wird, ist inspirierend und beglückend. Wer etwas tiefer eintauchen will, der nimmt sich ein paar Ferien-Tage Zeit und etwas All-Inclusive-Entspannung hinzu für dieses gemeinsame Kinder-Eltern-Erleben, bei dem alle im gleichen Boot sitzen und sich schaukeln lassen von der eigenen und der gemeinsamen Bewegung. Einer Bewegung aus dem Nichtwissen, die natürliches, organisches Wachstum kreiert.

Diese Bewegung macht weder vor dem Kind noch vor dem Erwachsenen Halt, erfasst den einen hier, den anderen dort, inspiriert sich gegenseitig und breitet sich wellenförmig aus, so dass das Unmögliche gemalt und das Unendliche getanzt werden kann. Die geteilte Erfahrung, gemeinsam im selben Raum und gleichzeitig jeder für sich die kreativen Flügel auszubreiten und sich selbst dabei neu zu entdecken, das schafft Nähe und echte Begegnung. Es entsteht ein familiäres Lern-Feld ohne Ziel, Ergebnis oder Beurteilung, dafür aber mit überquellender Vitalität, mit Entdeckergeist und geteiltem und deshalb umso größerem Spaß.


Abb: © Serhiy Kobyakov – Fotolia.com

Abb 2: © drubig-photo – Fotolia.com

Schnuppertage in Berlin:
„Tarzan und Lotos“ am 1.2. und 1.3.2014, 10 bis 17 Uhr im Literaturhaus Lettrétage, Kreuzberg

„Körper, Lebendigkeit und Farbenrausch“ am 2.2. und 2.3.2014, 10-17 Uhr im Literaturhaus ­Lettrétage, Kreuzberg

Workshops:
Als Tarzan das Pink und Lotos den HipHop traf: Kreativ-Ferien-Seminar am norditalienischen Lago d’Orta vom 21.-24.4.2014.
Mit Anja Louisa Schmidt (www.lifemoves.de) und Corinna Wittke (www.elefantasie.de)

Körper, Lebendigkeit und Farbenrausch:
Kreatives Urlaubsseminar für Erwachsene am Lago d’Orta vom 25.-30.4.2014

Info und Kontakt unter Tel.: 0175-204 83 23 oder post@lifemoves.de
Weitere Kurse und Workshops auf
www.lifemoves.de

Über den Autor

Avatar of Anja Louisa Schmidt

ist Autorin, Tänzerin und Seminarleiterin für schöpferischen Ausdruck. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

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