Wie man eine Revolution startet (2): Die Vollversammlung 11. Oktober 2011 Politik 2 Kommentare In den Camps in Spanien und den USA wurde eine Technik zur demokratischen Entscheidungsfindung verfeinert, die sich als ebenso effektiv wie inspirierend erwiesen hat: Die Vollversammlung. Alle wichtigen Entscheidungen sowohl in Madrid als auch in den USA werden in diesen Versammlungen getroffen. In diesen Versammlungen wird nicht gewählt, sondern es wird Konsens hergestellt. Jeder Teilnehmer hat dabei ein absolutes Veto-Recht, es werden nur Entscheidungen getroffen, die alle tragen können. Wie funktioniert eine solche Versammlung? Kollektives Denken Die Vollversammlung in Madrid hat einen Text über die Vollversammlung veröffentlicht, der mit folgenden Sätzen beginnt: „Nach unserem Verständnis ist das kollektive Denken diametral entgegengesetzt zu der Art des Denkens, die durch das gegenwärtige System propagiert wird. Dies macht es zunächst schwer, sich daran zu gewöhnen und es anzuwenden. Wenn eine Entscheidung zu treffen ist, so ist die normale Reaktion von zwei Menschen mit unterschiedlichen Meinungen, konfrontativ zu werden. Jede/r von ihnen verteidigt seine/ihre Meinung mit dem Ziel, den Gegner zu überzeugen, bis die eigene Meinung gewonnen hat oder allenfalls ein Kompromiss erreicht wurde. Das Ziel des kollektiven Denkens auf der anderen Seite, ist zu konstruieren. Das heißt, zwei Menschen mit unterschiedlichen Ideen arbeiten zusammen, um etwas Neues aufzubauen. Es ist daher keine Frage von „meine Idee oder deine“, sondern zugrunde liegt die Vorstellung, dass zwei Ideen zusammen etwas Neues erschaffen, etwas, das keiner von beiden vorher hätte planen können. Das kollektive Denken wird geboren, wenn wir verstehen, dass alle Meinungen – unsere eigenen Meinungen wie auch fremde – bei der Erzeugung von Konsens berücksichtigt werden müssen und dass eine Idee, wenn sie einmal indirekt konstruiert wurde, uns verwandeln kann.“ Was ist Konsens? Konsens ist die Entscheidung einer Gruppe, zu der es keine direkten Gegenstimmen gibt und die von allen mit getragen wird. Im Idealfall sind alle Standpunkte und Anliegen berücksichtigt, dies mag im Einzelfall aber nicht immer völlig zutreffen. Eine Entscheidung gilt als akzeptiert, wenn alle Teilnehmer einwilligen die Entscheidung mit zu tragen und persönlich für sie einzustehen. Direkter Konsens bestehet, wenn alle Teilnehmer einem Vorschlag direkt zustimmen können. Indirekter Konsens wird hergestellt, indem verschiedene Standpunkte zu einem Vorschlag diskutiert werden, der keinen direkten Konsens erreichen konnte. Alle Teilnehmer haben absolutes Veto-Recht gegen alle Entscheidungen. Es soll nach Möglichkeit nicht gewählt werden, da beim Wählen immer ein Teil der Wähler nicht berücksichtigt wird und die Mehrheit stets alle Entscheidungen trifft, wobei Minderheiten vernachlässigt werden. Mehrheitswahl wird als ein wichtiges Mittel der Unterdrückung begriffen und soll in Vollversammlungen nach Möglichkeit nicht stattfinden. Die Entscheidungen sollen von allen getragen und unterstützt werden. In New York ist man dazu übergegangen, nach mehrmaligem Überarbeiten eines Vorschlags, der immer an einem oder wenigen Vetos scheitert, eine Wahl mit 9/10tel-Mehrheit einzuführen. Der Grund ist, dass bestimmte Gruppierungen versuchen könnten, die Entscheidungsfindung zu blockieren. Eine 9/10tel-Mehrheit wurde von der Vollversammlung als eine Hürde angesehen, die hoch genug ist, so dass eine Wahl der Unfähigkeit zu handeln vorzuziehen ist. Wie es funktioniert Die Vollversammlungen in Madrid und New York unterscheiden sich leicht, hier wird immer der komplexere Vorschlag berücksichtigt. Generell sollte dies als ein Baukasten angesehen werden, der nach den Anforderungen modifiziert werden kann. Eine Vollversammlung ist also ein Treffen, mit dem Ziel, einen Konsens zu erzeugen, der das gemeinsame Interesse der Gruppe ausdrückt. Sie dient der Information, Reflexion und der Entscheidungsfindung. Außerhalb dieser Vollversammlung existieren Arbeitsgruppen zu bestimmten Themen, welche die Entscheidungen der Vollversammlung ausführen und ihrerseits Vorschläge erarbeiten, welche dann in der Vollversammlung vorgestellt werden. Die Arbeitsgruppen sind angehalten, Entscheidungen nach Möglichkeit selbst zu treffen. Alle Entscheidungen, die alle betreffen oder potenziell kontrovers sind, sind jedoch der Vollversammlung vorbehalten. Wie in den Gruppen, so gibt es auch in der Vollversammlung keine Anführer und alle Teilnehmer haben die gleiche Stimme. Sehr wohl gibt es aber verschiedene rotierende Teams, die mit bestimmten organisatorischen Aufgaben betraut sind. Jede Versammlung hat eine Agenda von Dingen die anstehen, so wie eine Zeit, in der sonstige Dinge angesprochen werden können. Der Ablauf ist dabei immer ähnlich. Ein Sprecher kann einen Vorschlag machen, wo bei er sich darauf konzentriert, kurz und bündig darzustellen: Was wird vorgeschlagen? Warum wird es vorgeschlagen? Und, sollte der Vorschlag von der Versammlung angenommen werden: Wie kann er umgesetzt werden? Die Teilnehmer signalisieren ihre Meinung zum Vorschlag durch eine Reihe von allgemeinen Handzeichen, die zu Beginn des Meetings erläutert werden. Wird ein Vorschlag angenommen, wird er entweder an die entsprechende Arbeitsgruppe zur Umsetzung weitergegeben, oder es wird, falls nötig, eine neue gegründet. Alle Teilnehmer haben ein volles Veto-Recht. Nach jedem Vorschlag fragt der Moderator: „Gibt es Gegenstimmen?“ Wenn ja, wird eine Liste mit Rednern erstellt. Alle Personen mit Veto werden angehört, eine Debatte mit Für- und Gegenpositionen entsteht. Kann nach allen Sprechern immer noch kein Konsens hergestellt werden, bilden sich zufällige kleine Gruppen unter den Teilnehmern, dort, wo diese gerade sitzen, die beraten, wie ein Konsens zustande kommen könnte. Die Vorschläge können in einer erneuten Sprecher-Runde vorgetragen werden. Erreicht ein Vorschlag nach diesen zwei Runden noch immer keine Zustimmung, so wird die Arbeitsgruppe oder Person gebeten, mit einer Arbeitsgruppe einen neuen Vorschlag zu erarbeiten, der alle Standpunkte berücksichtigt. In der nächsten Versammlung wird dann erneut abgestimmt. Die Handzeichen Generell wird in den Vollversammlungen niemals dazwischengerufen. Stattdessen werden Handzeichen gebraucht, um dem Sprecher und dem Moderator zu signalisieren, wie wir darüber denken. Der Sprecher kann immer ausreden, sollte jedoch Teilnehmer zu Wort kommen lassen, wenn diese entsprechende Signale geben. Zustimmung/Applaus – Die Hände werden neben dem Kopf gehalten, die Fingern vollführen schlängelnde Bewegungen. „Ich fühle mich gut mit dem Vorschlag. Ich stimme zu.“ Ablehnung – Wie oben, nur das die Hände nach unten gehalten werden. „Ich bin nicht einer Meinung. Ich fühle das nicht. Aber nicht so stark, als dass ich ein Veto einlegen würde.“ Weiß nicht – Die Hände vor den Körper, Naja-Geste. „Ich find’s nicht grade großartig, habe aber auch nicht wirklich was dagegen.“ Veto/Block – Arme vorm Körper verschränkt. Hände zu Fäusten. „Ich habe ein starkes Problem mit dem Gesagten. Ich kann diese Entscheidung nicht mit tragen.“ Zeit/ Hatten wir schon! – Hände oder Unterarme werden vor dem Körper gerollt (‚Auswecheln‘-Zeichen vom Sport) „Das hatten wir schon. Wir haben es kapiert, machs kurz. Du brauchst zu lange. Komm auf den Punkt.“ Information fehlt/ist falsch! – Ausgetreckter Zeigefinger wird gehoben. „Diese Information ist falsch. Ich habe eine wichtige Zusatzinfo.“ Dieses Zeichen wird nicht bei Einwänden oder Fragen benutzt, sondern nur, wenn man über zusätzliche Informationen verfügt, die dem Sprecher offenbar fehlen. Prozess beachten! – Aus den Fingern geformtes Dreieck über dem Kopf. „Der Ablauf wird vom Sprecher nicht beachtet. Bitte auf das Thema und den Ablauf zurückkommen. Zeit einhalten“ Bei Konsens-Entscheidungen wird auf die Energie der Gruppe geachtet, die durch die Handzeichen sichtbar wird. Auch wenn es keine Vetos gibt, ist eine beispielsweise eine Entscheidung, die mit einer Mischung aus Zustimmung und Ablehnung zustande kommt, nicht wünschenswert. Die Teams Die folgenden Vorschläge sind für sehr große Versammlungen, bei kleineren können manche Positionen ganz weggelassen oder weniger stark besetzt werden. Logistik-Team Dieses Team sorgt für das Equipment (Wasser, Schreibkram etc.). Sie malt bei großen Versammlungen mit Kreide Bereiche für Sprecher, Teilnehmer und Moderator auf, sowie Gänge, durch welche man sich während der Versammlung bewegen kann. Sie kümmern sich um Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Sprechzeit-Team Zwei bis vier Personen, die unter den Teilnehmern in den Gängen stehen. Sie sind gut gekennzeichnet. Sie notieren die Namen der Teilnehmer, die zu sprechen wünschen. Dabei wird vermerkt: 1) Bezieht sich das, was du sagen möchtest auf die aktuelle Diskussion? 2) Ist es eine direkte Antwort auf einen Vorredner? 3) Ist es eine Gegenposition (ein Block)? Handelt es sich um einen Themenfremden Beitrag, so wird der Sprecher für später vorgemerkt. Passt der Beitrag besser in eine der Arbeitsgruppen, so wird der Teilnehmer darauf hingewiesen, sie zunächst dort vorzutragen. Dieses Team gibt die Redewünsche weiter an die Sprechzeit-Koordinatoren. Sprechzeit-Koordinatoren Sie sammeln die Redewünsche des Sprechzeit-Teams und versuchen eine sinnvolle Reihenfolge herzustellen. Sie arbeiten auch als eine Art Filter. Haben etwa mehrere Sprecher dasselbe Anliegen, so wird versucht, zu vermitteln, um einen Sprecher zu finden, der das Thema gebündelt vorträgt. Sie geben die Liste an das Vermittlungs-Team. Vermittlungs-Team Drei Menschen, die mit dem Moderator zusammenarbeiten. Sie sind die Einzigen, die direkt mit dem Moderator sprechen, damit dieser nicht überhäuft wird und seine Konzentration behalten kann. Sie sind rund um den Moderations-Bereich aufgestellt und vermitteln zwischen den Teams und dem Moderator, erinnern den Moderator an Zeit und Ablauf, achten auf wichtige Handzeichen der Teilnehmer und weisen den Moderator darauf hin. Moderatoren-Team Der Moderator erklärt zu Beginn Ablauf und Thema der Versammlung, erklärt Konsens und die Handzeichen. Während der Versammlung ruft er die Sprecher auf, fasst Für- und Gegenpositionen zusammen und formuliert Positionen, die als Konsens festgehalten werden. Er weißt den Sprecher ggf. auf wichtige Handzeichen der Teilnehmer hin. Er hat außerdem die Aufgabe, eine offene und ruhige Atmosphäre zu bewahren und ggf. an den Sinn und das Ziel der Versammlung zu erinnern. Die Moderatoren rotieren. Protokoll-Team Fasst wesentliche Positionen sowie alle Konsens-Entscheidungen im Wortlaut schriftlich zusammen. Ihre Zusammenfassung wird zum Ende der Versammlung vorgetragen. Im Falle von Konsens-Entscheidungen kann das Protokoll-Team verlangen, dass die Entscheidung Satz für Satz wiederholt und jedem Satz einzeln zugestimmt wird. Beispiel für einen Ablauf 1. Begrüßung. Erklärung der Teams. Erklärung von Konsens und Handzeichen 2. Arbeitsgruppen-Berichte: Die Arbeitsgruppen berichten, wenn sie möchten, kurz von ihren Aktionen seit der letzten Versammlung, was sie noch benötigen und als nächstes tun werden. 3. Bekanntmachungen: Teilnehmer können wichtige Informationen bekanntmachen. Keine Reden an dieser Stelle, nur Informationen. 4. Themenrunden: Hier werden Vorschläge vorgetragen und Entscheidungen getroffen. Vorschläge werden angehört. Dann folgen Verbesserungsvorschläge. Dann Einwände. Der Vorschlag wird eventuell modifiziert zum Konsens freigegeben. Sollten Vetos bestehen, werden diese angehört, es folgen zwei Runden zur Berücksichtigung der Vetos. Gelingt kein Konsens, wird der Vorschlag überarbeitet. 5. Zusammenfassung und Ende der Versammlung 6. Offenes Forum/ Soap Box: Die „Bühne ist frei“ für alle, die sprechen möchten, ohne dabei einen Vorschlag zu machen über den abgestimmt werden muss. Die Teilnehmer können gehen oder bleiben. Video: Die Vollversammlung in New York erklärt (engl.) Mehr Artikel zum Thema Wie man eine Revolution startet (1): Das Camp Soziokratie – Die Magie des Kreises Dreamcatching: Träume fangen in Auroville 2 Responses Marion 24. Oktober 2011 Geniale Vorgehensweise, die mich sehr stark an die Prinzipien einer Mediation erinnert, die auf den Prinzipien der Gewaltfreien bzw. einfühlsamen Kommunikation beruht. http://www.inspiriert-sein.de/wie-loest-man-konflikte Ich glaube, das ist ein Weg für die Zukunft! Antworten Martin Bartonitz 14. Oktober 2011 Das ist ein sehr wichtiger Artikel, zeigt er doch auf, worin sich neben den Demonstrationen gerade im Denken der kulturelle Wandel vollzieht. Ich habe den Artikel heute in meinem aktuellsten Post mit besprochen: http://www.saperionblog.com/lang/de/bpm-es-vollzieht-sich-ein-kultureller-wander-ecm-und-social-business-eine-wunderbare-freundschaft-xcml/5183 Antworten Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar Antwort abbrechenDeine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.KommentarName* E-Mail* Meinen Namen, meine E-Mail-Adresse und meine Website in diesem Browser für die nächste Kommentierung speichern. Überschrift E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.Auch möglich: Abo ohne Kommentar. Durch Deinen Klick auf "SENDEN" bestätigst Du Dein Einverständnis mit unseren aktuellen Kommentarregeln.
Marion 24. Oktober 2011 Geniale Vorgehensweise, die mich sehr stark an die Prinzipien einer Mediation erinnert, die auf den Prinzipien der Gewaltfreien bzw. einfühlsamen Kommunikation beruht. http://www.inspiriert-sein.de/wie-loest-man-konflikte Ich glaube, das ist ein Weg für die Zukunft! Antworten
Martin Bartonitz 14. Oktober 2011 Das ist ein sehr wichtiger Artikel, zeigt er doch auf, worin sich neben den Demonstrationen gerade im Denken der kulturelle Wandel vollzieht. Ich habe den Artikel heute in meinem aktuellsten Post mit besprochen: http://www.saperionblog.com/lang/de/bpm-es-vollzieht-sich-ein-kultureller-wander-ecm-und-social-business-eine-wunderbare-freundschaft-xcml/5183 Antworten