Come Together 10. November 2011 Zusammenleben 1 Kommentar Come Together: Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile. Wo immer sich Menschen mit gleicher Ausrichtung zusammenfinden, entsteht etwas grundsätzlich Neues, Überraschendes, Spannendes, was einem Einzelnen nicht möglich gewesen wäre. Ist Gruppenbewusstsein, bewusst genutzte kollektive Intelligenz, der nächste – und notwendige – Schritt auf der Leiter menschlicher Evolution? Seit einiger Zeit formt sich hinter den Kulissen einer Öffentlichkeit, die von Krieg, Korruption, Sozialabbau und Finanzkrisen geprägt ist, eine (noch) leise, aber unwiderstehliche Entwicklung, die von einem anderen Geist getragen ist: einem Geist der Kooperation, des Zusammenschlusses und der Vernetzung. Fast könnte man sie übersehen bei all dem lauten Spektakel von alltäglichen Sorgen und misslingender Politik. Aber sie ist spürbar da. Und in ihr leuchtet ein Phänomen auf, über das weltweit immer häufiger aus den verschiedensten Zusammenhängen berichtet wird: kollektive Intelligenz. Ich möchte an zwei Beispielen deutlich machen, was ich meine: Ein eigener Organismus In vielen Gruppen, die ich in den letzten Jahren geleitet oder an denen ich teilgenommen habe, habe ich Folgendes beobachtet: Nach einer Phase von Intensivierung und Klärung in den Kontakten und von Ausrichtung auf eine gemeinsame Absicht entwickeln die Menschen ein Gefühl für die Gruppe als Ganzes. Die persönliche Wichtigkeit der Einzelnen tritt in den Hintergrund, und die eigentliche Qualität ihres Wesens tritt hervor. Die Menschen besinnen sich darauf, was sie gut und gerne tun, und steuern es zum Ganzen bei. Die Gruppe wird nach und nach zu einem Organismus, der sich selbst organisiert und auf natürliche Weise für sich selbst sorgt. Wenn eine Arbeit getan werden muss, gibt es auch jemanden, der sie gerne übernimmt. Braucht eine Person Hilfe, gibt es jemanden, der für sie da ist. Es kommt immer häufiger vor, dass mehrere gleichzeitig dieselben Gedanken denken, oder dass nachts gleiche Symbole in den Träumen auftauchen. Es wächst – fast nebenbei – ein gemeinsames Bewusstsein, eine Gruppenintelligenz. Sie ist weit komplexer als die Intelligenz der Einzelnen und aktiviert Kompetenzen und Einsichten in der Gruppe, welche die Beteiligten für sich nie für möglich gehalten hätten. Mehr Glück durch Gruppenbewusstsein 2002 trat die Elbe über die Ufer und überschwemmte ganze Dörfer, halbe Städte und riesige Landflächen. Die Berichte im Fernsehen waren dramatisch, das ganze Land fieberte mit. Ich war damals für zwei Tage Helfer im überfluteten Gebiet, um Essen zu kochen für die zahlreichen freiwilligen Helfer. Es war ein erstaunliches Erlebnis: Hunderte von Menschen waren in vollem, fast pausenlosem Einsatz. Ich sah erschöpfte, aber beseelte und gut gelaunte Menschen. Jeder gab an seiner Stelle sein Bestes. Behörden und Bevölkerung arbeiteten Hand in Hand. Menschen in Not wurden von anderen versorgt. Es kamen Helfer und Spenden aus ganz Deutschland. Trotz Bedrohung und schwierigen menschlichen Situationen war es für die meisten eine bewegende Erfahrung von einer nie erlebten Solidarität. Es war klar: Was hier geschah, war nicht das Werk von einem Organisationskomitee oder einem Krisenstab. Es war ein Zusammenspiel von Kräften, das Einzelne so niemals hätten organisieren oder planen können. Die Kraft einer riesigen Gemeinschaft ließ ein kreatives und äußerst leistungsfähiges Ganzes entstehen, eingestellt auf die Bedürfnisse der Situation – ein intelligentes, mitfühlendes Kollektiv. Emergenz Was wir hier erfahren und was dem aufmerksamen Zeitgenossen an unterschiedlichen Stellen seines Lebens begegnet (z. B. in einem genialen Fußballspiel, einem gelungenen Brainstorming, einem gut eingespielten Arbeitsteam etc.), nennt die Wissenschaft „Emergenz“: Das Auftauchen von völlig neuen Qualitäten in einem System, die nicht aus den Eigenschaften seiner Teile erklärbar sind, jedoch eindeutig aus deren Zusammenwirken hervorgehen. Wir finden Emergenz in allen Bereichen des Lebens. Die Evolution spielt damit seit Jahrmillionen. Elemente verbinden sich zu Substanzen mit neuen Eigenschaften, die in keinem der Elemente vorhanden waren. Moleküle schließen sich zusammen und bringen so eine Qualität hervor, die sie selbst nicht hatten: Leben. Die Einzeller bilden zusammen irgendwann komplexere Lebewesen. Die Kreativität dieses Spiels kennt keine Grenzen. Emergente Qualitäten sind auch die wundersamen Fähigkeiten von Ameisenkolonien und Bienenschwärmen, genauso wie die einzigartigen Leistungen unseres Gehirns. Auch die Zeugung eines Kindes ist ein Schöpfungsvorgang dieser Art. Was uns bisweilen als normal erscheint in unserem Alltag, entlockt uns ehrfürchtiges Staunen, wenn wir uns davon berühren lassen. Schöpferische Intelligenz Die Qualität der Emergenz wohnt unserem Dasein inne und ist Teil unserer biologischen, geistigen und sozialen Möglichkeiten. Was aber braucht es, um sie nicht nur zufällig zu erleben, sondern bewusst in unser Leben einzuladen? Welche Art von Zusammenschluss unter Menschen kann diese brillante schöpferische Intelligenz wachrufen? Die Fragen sind zu komplex, um sie befriedigend auf einer Seite zu beantworten. Aber ich hoffe, im Folgenden einige Denkanstöße zu geben: Es braucht einen gemeinsamen Fokus, eine Ausrichtung, die für alle Beteiligten klar ist, und die Bereitschaft, das gemeinsame Anliegen mit hohem Einsatz und selbstverantwortlich zu fördern. Wenn sich ein System intensiv und vielschichtig mit sich selbst vernetzt, steigt die Wahrscheinlichkeit von emergenten Prozessen. Das heißt, je vielfältiger und wesentlicher die Menschen in einer Gruppe oder einem Team in ständigem Austausch stehen, desto leichter kann kollektive Intelligenz entstehen. Transparente Kommunikation ist die Basis für bewusste kollektive Vorgänge. Dazu gehört, dass die Teilnehmer der Gruppe den anderen Teilnehmern klare Informationen geben und von ihnen ebenso klare Informationen erhalten. Wenn Menschen sagen, was sie denken, und zeigen, was sie fühlen, entsteht Transparenz. Die Gruppe kann sich gewissermaßen selbst sehen durch die klaren Rückkoppelungen der Teilnehmer. Dadurch richtet sie sich aus, gewinnt an Kreativität und Energie. Wenn die Rückkoppelungen hingegen zweideutig bzw. unehrlich sind – zum Beispiel aus Höflichkeit oder Angst zu sagen, es geht mir gut, wenn es mir schlecht geht – entwickelt sich Irritation in der Gruppe. Sie entsteht durch versteckte Ebenen in unserer Kommunikation, sei es Angst, Konkurrenz, Schmerz, Ärger oder ähnliches. Das Gruppen-System bekommt dann Doppelinformationen. Wenn das an vielen Stellen des Zusammenlebens oder -arbeitens passiert, bilden sich blinde Flecken. Ein Teil der Systemenergie verselbständigt sich. So kommen Gruppenereignisse zustande, bei denen am Schluss etwas ganz anderes heraus kommt, als man eigentlich wollte. (Wie konnte das nur passieren? Das haben wir nicht gewollt. Im Faschismus z.B. war die direkte Rückkoppelung durch Angst gänzlich blockiert). Die Fähigkeit, ein intelligentes Kollektiv zu bilden, entscheidet sich ganz wesentlich an der Offenheit und Ehrlichkeit in den Einzelkontakten! Einfühlung: Die Bereitschaft, uns in andere Gruppenmitglieder und auch ins Ganze einzufühlen, hilft, die Vorgänge hinter den Kulissen/Masken zu erfassen. Es macht die Kommunikation wesentlicher und schafft Verbundenheit. Es geht weniger Energie in Konflikt und Reibung und mehr in die gegenseitige Unterstützung. Die nächste Stufe: Kooperation Fragen wie Klimawandel und zunehmende Ressourcenknappheit fordern uns auf, unsere zerstreuten und zerstrittenen individuellen Kräfte zusammenzuschließen. Sie zeigen uns die Unzulänglichkeit der individuellen Strategien auf. Es sieht so aus, als ob uns die Evolution auf einer nächsten Stufe haben möchte, einer Stufe höherer Vereinigung und Gemeinschaftlichkeit. Welches Potential könnte freiwerden, wenn uns der „Sprung“ in die kollektive Intelligenz nicht nur wie bisher in kleineren Gruppen, sondern auch in großen Organisationen, in regionalen Netzwerken, und vielleicht sogar auf globaler Ebene gelingen würde? Das Internet ist – auf der technischen Ebene – ein Vorbote dieser Entwicklung. Was es jetzt noch braucht, sind Menschen, die das Zeitalter der Konkurrenz hinter sich lassen und bereit sind, die nächste Entwicklungsstufe einzuleiten, indem sie sich mit Leib und Seele und einem wachen Geist auf radikale und intime Kooperation einlassen. Abb.: © Nikolai Sorokin – Fotolia.com Abb. 2: © Tritooth – Fotolia.com – Gemeinsam stark: Nur mit vereinten Kräften können wir den globalen Herausforderungen effektiv begegnen. Eine Antwort Ursula Gruber 12. März 2014 Ja, dieser Artikel ist sehr wertvoll!!!! Antworten Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar Antwort abbrechenDeine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.KommentarName* E-Mail* Meinen Namen, meine E-Mail-Adresse und meine Website in diesem Browser für die nächste Kommentierung speichern. Überschrift E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.Auch möglich: Abo ohne Kommentar. Durch Deinen Klick auf "SENDEN" bestätigst Du Dein Einverständnis mit unseren aktuellen Kommentarregeln.