An einem klaren, sprudelnden Fluss, nahe der Quelle, in den gelben Bergen sitzt ein Mann. Menschen kommen mit ihren Trinkbechern in der Hand auf der Suche nach Wasser zu ihm. Er verkauft ihnen Wasser, frisch aus dem Fluss geschöpft. Sie sehen den Fluss und sehen ihn doch nicht. Natürlich könnten sie selbst soviel Wasser schöpfen, wie sie wollen. Es ist mehr als genug für alle da. Doch sie fragen: »Wie?« – »Wie soll ich schöpfen?« – »Kann man das denn überhaupt?«
Und so schöpft er Wasser für sie. Manchen schenkt er es, doch viele sind nur bereit, es zu trinken, wenn es mindestens so teuer ist wie Champagner.

Eine Gemeinde entsteht

Die Leute beginnen ihn zu verehren, weil doch all das gute Wasser von ihm kommt. Sie nennen ihn den »Großen Wasserschöpfer« oder sprechen auch nur von »Ihm«. Und merkwürdig – je mehr Wasser sie von »Ihm« bekommen, umso unmöglicher erscheint es ihnen, die eigene Hand in den Fluss einzutauchen. Viele, viele Menschen haben sich inzwischen um ihn versammelt, um die Kunst des Wasserschöpfens zu lernen. Eine Gemeinde entsteht. Verbunden durch ihren Durst und ihre Liebe und Dankbarkeit gegenüber dem Wasserschöpfer, beginnen sie sich auch gegenseitig besser zu verstehen und zu lieben. Allmählich entwickeln sie Vertrauen in die Gewissheit, Wasser zum Trinken zu haben, werden fröhlicher und zuversichtlicher als andere Menschen und lachen auch manchmal über deren durstgequälte Gesichter. Nicht böse ist ihr Lachen – sie lachen nur, weil es so absurd ist, Durst zu haben, obwohl es doch den »Großen Wasserschöpfer« gibt.
Unserem Wasserschöpfer aber, den mittlerweile alle Welt als den »Großen Wasserschöpfer« kennt, gelingt es einfach nicht, die Leute zum Selberschöpfen zu bewegen. Wenn er sagt: »Seht mal, Leute, ihr braucht doch nur die Hand ins Wasser zu halten, zu schöpfen und zu trinken!« lachen sie. Manche sind ungläubig; andere, erfahrenere Wassersucher lächeln still und wissend.
»Es ist wirklich ganz einfach«, sagt der Wassermann, »hier, schaut doch nur!« Doch ihr Lachen und Lächeln, ob verlegen, still wissend, ungläubig, staunend, begeistert, oder auch höhnisch und bitter, ist lauter. Keiner hört, was er sagt.

Was für eine Erfahrung!

Unser Wassermann versucht nun ein neues Mittel. Er packt einige seiner Leute und stößt sie kurzerhand in den Fluss, so dass sie untertauchen und Wasser schlucken müssen. »Jetzt müssten sie doch eigentlich…«, denkt er vergnügt. Die Leute steigen wieder aus dem Fluss, schütteln das Wasser ab und legen sich zum Trocknen in die Sonne. Andere Wassersucher versammeln sich um die Durchnässten, als sie mit geschlossenen Augen da liegen und schauen sie erwartungsvoll an, falten ihre Hände. Ob die vielleicht…? Doch die Durchnässten öffnen ihre Augen wieder und sagen tief bewegt: »Was für eine Erfahrung! Unser Großer Wasserschöpfer ist doch wirklich das größte Glück, das uns passieren konnte. Bei so einem Wasserschöpfer leben zu dürfen – einem, der bestimmt nur alle paar tausend Jahre geboren wird mit dieser Gabe, einen direkt unterzutauchen! Wir müssen wirklich die auserwählten Menschen dieser Erde sein!« Und sie reihen sich wieder, wie jeden Abend, jetzt aber mit speziellen goldenen Bechern, in die Schlange der Wassersuchenden ein, die von unserem Wassermann ihr täglich Wasser begehren. Natürlich ist längst ein genau ausgeklügeltes Ritual entstanden, wie man sich verhält und kleidet, wenn man dem »Großen Wasserschöpfer« begegnet. Auch gibt es Privilegien für besonders inbrünstige Wassersucher und Sicherheitsvorkehrungen, die bei so vielen Menschen unerlässlich sind. Im Laufe der Jahre ist eine kleine Wasserstadt entstanden mit vielen Wasserwürstchenbuden, speziellen Wassertanzlokalen, jährlichen Wasserballspielen und dergleichen mehr. Auch gibt es ganz neue Wassertherapien und -kuren, sowie Einführungskurse in den »Wasserismus«, die von erfahrenen Wassersuchern durchgeführt werden. Am beliebtesten sind Kurse bei solchen Wassersuchern, die selbst schon einmal ins Wasser gefallen, oder besser noch: gestoßen worden sind.

Die authentische »Erfeuchtung«

Doch leider gibt es auch hier, wie immer in diesem eigenartigen Leben der Menschen auf der Erde, Streitereien. Dabei geht es nicht etwa nur ums Wasser oder die Nähe zum »Großen Wasserschöpfer«, sondern vor allem ums Prinzip.
Einige meinen nämlich, andere seien vom reinen Wasser abgekommen. Diese ihrerseits werfen den Gegenspielern Verwässerung vor. Ganz besonders strittig ist das authentische Erlebnis der »Erfeuchtung«, welches allein unserem Wassermann und seinen historischen Vorläufern zugestanden wird. Es soll in Bezug auf Wasser fast wie Ertrinken sein, munkelt man. Aber danach ist man nie mehr durstig und kann an andere Wassersucher Wasser ausschenken, wenn man möchte.
Nach einigen Jahren ist unser Wassermann es leid, den Leuten ständig zu zeigen, wie man Wasser schöpft. Was soll er denn noch versuchen? Sie kapieren es einfach nicht! Und so beginnt er, Witze übers Wasserlassen zu reißen, fährt mit einem Rennboot auf dem Fluss herum und spritzt die Leute mit seiner neuen Wasserpistole nass. Alle haben viel Spaß. Wie alles anfing, damals am Fluss, ist längst vergessen, und über das große »Wassermannzeitalter«, in dem es nur noch feucht-fröhlich zugehen soll, macht man sich keine Sorgen mehr. Die kleine Wasserstadt in der Wüste reicht ja schließlich auch schon.
Doch wie das Leben so spielt, kommt es zu Verwicklungen und Streit mit der wasserarmen Umgebung. Fanatismus und Rechtgläubigkeit waren in der Wasserbewegung schon so weit gediehen, dass sie es mit den Nicht-Wasserianern, wie sie alle anderen Menschen nannten, schon längst aufnehmen konnten. Es gab ein großes Hin und Her mit Brunnenvergiftung, Schlammschlachten, wasserrechtlichen Verfahren und ähnlichem mehr, das dann zur Schließung der Wasserstadt und zur Vertreibung des Wassermanns führte.

Ein Mensch mit Fehlern und Schwächen

Dabei sahen viele Wassersucher zum ersten Mal, dass ihr »Großer Wasserschöpfer« auch nur ein Mensch ist mit Fehlern und Schwächen, nur dass er eben Wasser schöpfen kann. Das hatte der auch nie bestritten, aber natürlich genoss er das Spiel! Und dass Wasserschöpfen aus einem überhaupt nichts Besonderes oder Anbetungswürdiges macht, das sahen manche auch. Unser Wassermann hatte das allerdings stets selbst gesagt, sie hatten es nur nicht gehört. Ihm war es längst gleichgültig geworden – schließlich war ja genug Wasser da und kleinlich war er damit auch nie gewesen. Was sollte er schließlich tun? Einfach sagen, wie es ist mit dem Wasserschöpfen? Das hatte er immer wieder getan. Niemand hörte es. Die Sache geheimnisvoll machen, eine Wassersuchbewegung gründen, brachte auch keinen zum Selberschöpfen. Mit Tricks und Schocks, wie überraschenden eiskalten Wassergüssen und ähnlichem mehr, hatte er es auch oft probiert und damit nur den Glauben an den »Großen Wasserschöpfer« gefestigt. Sogar mit seinem endgültigen Ertrinken hatte er wiederholt und fruchtlos gedroht. Es nützte alles nichts. Sie wollten ihr Wasser nur von ihm.

Video schauen ist fast so gut wie Wassertrinken

Also änderte er seinen Namen von »Großer Wasserschöpfer« in »Lieber Wasserfreund«, kehrte an seinen ursprünglichen Platz am Fluß zurück und begann seufzend damit, wieder täglich Wasser auszuschenken. Das ganze Spiel begann wieder von vorn. Unser Wassermann änderte noch dies und jenes an der Zeremonie des Wasserschöpfens und wechselte auch noch einmal seinen Namen. Er nannte sich jetzt schlicht und einfach »Wasser«.
Schließlich aber stieg er in sein Boot, das immer am Fluss lag und segelte einfach davon. Die Wassersucher aber ließen sich selbst davon nicht entmutigen. Sie installierten an der Stelle, wo unser Wassermann immer gesessen hatte, einen goldenen Wasserhahn.Vor dem sitzen sie nun täglich und hören andächtig das Wasser rauschen. Und abends treffen sich alle in wasserdichter Kleidung, um gemeinsam ganz laut „Wasser“ zu rufen. Im Anschluss daran schauen sie sich auf einer Videoaufzeichnung an, wie der Wassermann immer Wasser zu schöpfen pflegte. Wenn man den Videofilm nur lange genug anschaut, sagen sie, ist es fast so gut wie Wassertrinken.
Und wenn sie nicht verdurstet oder ertrunken sind, so tun sie das noch heute.

Über den Autor

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Entnommen aus: „Die Erleuchtungsfalle von Klaus Horn;
in leicht veränderter Fassung abgedruckt im neuen Connection Sonderheft „Advaita, Satsang, Erwachen – Wer bin ich wirklich?“ (connection Medien GmbH, Hauptstr. 5, 84494 Niedertaufkirchen, Tel. 08639 9834-0).

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