Alice hat es nicht weit ins Wunderland. Ein enges Erdloch in einer Wiese, den Kopf neugierig hineingesteckt, und schon wird hinuntergepurzelt in eine Märchenwelt, in der noch alles möglich ist. Wie sinnig: Alice fällt buchstäblich hinein in diese Welt.

Das Wunderland ist eine Landschaft der Seele, und das offene Herz der Schlüssel, der die Türen in die Märchenwelten zu öffnen vermag. – Es sind die Kinder, die noch diese “wunderbare” Fähigkeit besitzen, zu glauben, was sie sehen und was sie hören. Der bloße Glaube an die Unendlichkeit der Welt und an die Unerschöpflichkeit des Lebens ist der Quell, der die Erscheinungen der Welt in ununterbrochenem Fluß aus sich selbst hervorbringt. Der gläubigen kindlichen Vorstellungskraft ist das Unerhörteste, Unglaublichste gerade recht, und gerade so “real” wie die nächste Mahlzeit. Wo die scheinbar unüberwindliche Kluft zwischen Innen und Außen, die uns als Wahrnehmende vom Wahrgenommenen trennt, noch nicht existiert, können die Dinge der Welt noch als “wahr” genommen werden. In diesem Zustand eines natürlichen Bei-sich-selbst-Seins pocht der Pulsschlag der Welt noch im eigenen Herzen, und der Magnetismus zwischen Ich und Erscheinungswelt funktioniert noch. Gebannt und fasziniert durch die sie umgebenden Erscheinungen, sind die Kinder “auf Du” mit den Dingen, an denen sie in selbstverständlicher Vertrautheit hängen: “Nur die Kinder drücken ihre Nasen an den Schaufensterscheiben platt!” (Saint-Exupéry, “Der kleine Prinz”).

Don Juan Matus, legendärer Meister und Lehrer von Carlos Castaneda, hat für dieses Phänomen der Offenheit kindlicher Wahrnehmung eine geradezu wissenschaftliche, wahrnehmungstheoretische Erklärung: er beschreibt den Wahrnehmungskörper des Menschen als Lichtkugel, auf der sich ein intensiv leuchtender Punkt befindet, den Don Juan als “Montagepunkt” bezeichnet. Dieser Punkt erhellt die den Menschen umgebenden Wirklichkeiten (“Energiefelder”) und “montiert” so die Wahrnehmung des Menschen. Der Montagepunkt ist im Prinzip beweglich. Wechselt er seine gewohnte Position an der Oberfläche des menschlichen Wahrnehmungskörpers, so wechselt die Welt mit, und der Mensch befindet sich in einer “anderen Wirklichkeit”. –
So ist eine Veränderung der Position des Montagepunktes alles andere als ein alltägliches Erlebnis. Bei den meisten erwachsenen Menschen ist er denn auch offenbar wohl fixiert und scheint wenig Neigung entwickeln zu wollen, sich aus seiner festgefahrenen Position herauszubewegen.

Geprägt durch die Macht des Alltags, durch Gewohnheiten, die sich festsetzen und unseren Tagesablauf diktieren, durch eine scheinbar unüberwindliche autobiographische Problemstruktur, durch die ermüdende Wiederkehr des schnöden Immergleichen, ist unser Montagepunkt sicher fixiert. Die Unerbittlichkeit und scheinbare Unüberwindlichkeit der Gesetze unseres Alltags -wir wissen halt leider meistens schon, “was uns erwartet”- macht, daß wir am Ende an diesen Alltag glauben, daß wir glauben, daß die Welt so ist, wie wir sie täglich wahrzunehmen nicht mehr umhinkönnen, und so geben wir unserem Alltag die Macht, sich gegen die wunderbaren Möglichkeiten unserer Wahrnehmung durchzusetzen.
Wir sind festgefahren, und mit uns und in uns unser “Montagepunkt”.

Bei Kindern verhält es sich – und immer noch folgen wir darin den Lehren Don Juans – mit der traurigen Fixiertheit des Montagepunktes grundsätzlich anders: bei ihnen ist er beweglich, freigesetzt. Ihnen stehen die Pforten der Wahrnehmung weit offen. Die “anderen Wirklichkeiten” sind für Kinder das Alltägliche. In arglosem Spaziergang wandern sie durch wechselnde Welten, ohne noch auch nur zu ahnen, daß diese wunderbare Fähigkeit eines Tages verlorengehen kann. Und oft genügt ein kurzer Blick in Kinderaugen, die fasziniert und gebannt die Erscheinungen ihrer Umgebung betrachten, und die -gleich wohin sie ihren Blick wenden- aus dem Staunen nicht mehr herauszukommen scheinen, um uns an die Unerschöpflichkeit der menschenmöglichen Weltwahrnehmung zu gemahnen.

Nicht nur für MOMO steht die Tür offen, dahin zu gehen, “wo die Zeit herkommt.”
“ Wer nicht wird wie sie…!” heißt es an anderer Stelle aus berufenstem Munde, und der begnadete Wahrnehmungszustand der Kinder heißt dort, ins Religiöse umformuliert und in gebotener Feierlichkeit: “Ihnen gehört das Himmelreich.”

Viele von uns wollen zurück in diese verlorenen Paradiese. Sie wollen sich mit der eng gewordenen Welt nicht abfinden. Und auf der Suche nach dem Kind in uns nehmen wir so manche Anstrengung auf uns: unter Zuhilfenahme “bewußtseinserweiternder” Medikamente, in hechelnder Atembeschleunigung, in hingebungsvoll inszenierten Gefühls- ausbrüchen wollen wir den “Durchbruch” schaffen, zurück in die Zeit der großen Gefühle. Und doch erweisen sich die Pforten als eng, durch die die Kinder so leichten Schrittes hindurchgehen dürfen.  Dabei brauchen sie nicht einmal etwas dafür zu tun, sie geben sich keine Mühe, es ist nicht ihr Verdienst, sie kämpfen nicht dafür, sie befinden sich einfach in diesem weltoffenen Zustand, sie sind einfach  schon da. (“Ich suche nicht, ich finde.” – Picasso)

Und trotzdem, übertönt vom lärmenden Alltag, fast unsichtbar hinter der scheinbar wirklichen Fassade der uns umgebenden geschäftigen Welt, sind sie da, auch für uns, die Pforten in unendliche Welten, und sie werden immer offenstehen, so wie das Kind in uns nie verlorengehen kann. Und immer wieder suchen wir in weiter Ferne, was doch in nächster Nähe ist. Man darf sie nicht einrennen wollen, diese Türen, denn sie gehen nach innen auf.

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