Geboren werden, das heißt, sich ans Atmen gewöhnen. An dieses Hin und Her, diese Oszillation, die erst mit uns selbst aufhört,” sagt Fré-dérick Leboyer. “Atmen ist die zerbrechliche Nußschale, in der wir von einem Ufer zum anderen übersetzen. Jedes Lebewesen atmet. Die ganze Schöpfung atmet. Alle Menschen atmen. Aber wie! Je nachdem, ob die Atmung frei oder gehemmt ist, sieht die Welt anders aus. Wieviele durchleben die Existenz halb erstickt… Frei leben heißt frei atmen. Nicht nur mit den Schultern oder mit der Brust. Sondern mit dem Bauch, mit den Flanken. Mit dem Rücken. Damit alles lebt und voll atmet, braucht man einen geraden Rücken, eine freie Wirbelsäule. Weich, lebendig, biegsam muß sie sein … Wird die Wirbelsäule irgendwo im geringsten blockiert, wird die Atmung, das Leben gehemmt. Und das Lebewesen für immer zum Krüppel. Die Atmung entsteht nun aber im Augenblick der Geburt. Ihre künftigen Hemmungen ebenfalls.”

Was bewegt diesen Mann, sich in seinem Lebens derart stark für das Recht der Neugeborenen auf einen natürlichen und gewaltlosen Geburtsprozeß einzusetzen?
Helmi Danya Komarek, eine Vertraute Leboyers und Organisatorin zahlreicher Veranstaltungen mit ihm, hatte mir unter anderem einen Artikel zur Verfügung gestellt, aus dem das obige Zitat stammt und wie an keiner anderen Stelle in den vielen Zeilen, die über Leboyer geschrieben wurden, finde ich dort einen besonderen Zugang zu diesem Mann, der kurz nach seinem 80. Geburtstag – in der ersten Novemberwoche nach Berlin kommen wird. 
Der Autor des erwähnten Artikels beschreibt, was die eigentliche Triebfeder für Leboyers leidenschaftliches Engagement für eine Geburt ohne Gewalt sein soll: …die entsetzlichen Einzelheiten der eigenen Geburt, an die Leboyer sich eigenen Aussagen nach erinnern kann – Schmerzensschreie – das kalte Metall der Zange – ein Schock beim Austritt aus dem kämpfenden Körper seiner Mutter – gleißendes Licht – Geschrei – ein Gefühl von Qual bei diesem plötzlichen Hineingestoßen werden in eine fremde und feindliche Welt.

So kam es,daß Frédérick Leboyer die Dunkelheit liebt, sich in der Stille wohlfühlt und er leise und wehmütig spricht. Er gestikuliere häufig, voller Anmut. Er berühre sanft, ob Dinge oder Menschen…

Wie kein anderer hat Leboyer die Geburtshilfe revolutioniert und die inhuman technologisierte Kälte in den Kreißsälen bekämpft, hat in unsere westlich-distanzierte Welt die in Indien praktizierte streichelnde Babymassage eingeführt und damit den intensiven Körperkontakt zwischen Eltern und Kind gefördert. Wer sich mit Leboyer beschäftigt, trifft immer wieder auf Indien, immer wieder auf den Geist des Tai Chi, daneben aber auch auf die Prägung durch seine großbürgerliche Herkunft; dann wieder sanfte Massagebewegungen, summendes Singen, befreite Tiefenatmung. Frédérick Leboyer, der Geburtshelfer, der sich wahrscheinlich voller Enttäuschung vor langem schon vom schulmedizinischen Alltag verabschiedet hat, begegnet uns in den Erzählungen auch als kalligrafisch talentierter Künstler, Fotograf und Schriftsteller.

Helmi Danya Komarek hilft, die kontroversen Vorstellungen und die Mißverständnisse seine Person betreffend aufzulösen und erzählt dabei jedoch auch von Begebenheiten mit ihm, die erst einmal stutzig machen, wie beispielsweise die Anekdote, als er einer Frau, die nach “seiner Methode” entbinden wollte, gegenüber äußerte: “Es wäre besser gewesen, Madame, Sie hätten sich einen Goldfisch gekauft als ein Kind bekommen zu wollen.” Entsetzen auf den Gesichtern aller beim Gespräch anwesenden Frauen, vor allem diejenigen reagieren allergisch auf diese Aussage, die schon einmal geboren haben und daher bestens nachempfinden können, wie dankbar frau doch für jegliche „erlösende“ Hilfestellung sein muß, die der Erleichterung der schmerzhaften Geburt dient. Doch scheinbar löst alleine die Anwendung der Begriffe „Methode“ oder „Technik“ im Zusammenhang mit seinem Tun bei Leboyer starke Aversionen aus. 

Die Vertraute Leboyers wirkt beruhigend auf uns ein und beteuert, daß er, trotz dieser harsch klingenden Antwort, ein einfühlsamer Mensch sei. Doch da ist noch diese für manche irritierende Sache mit Leboyers Film “Geburt”, in der nicht die gebärende Frau wohl aber er, der das Baby massiert, eine Hauptrolle spielt. Helmi erklärt, daß er die Frau aus Respekt vor ihrer Intimität nicht vordergründig in Szene setzte, und nicht, wie oft fälschlicherweise interpretiert, weil er die Gebärende nicht für wichtig genug hielte. Kaum ein Mann, so Helmi, verstehe die Frauen besser als Leboyer.

Der für Leboyer scheinbar typischen Verweigerung der konkreten Orientierung und Wegweisung liegt offensichtlich sein Anliegen zugrunde, die Frau dabei zu unterstützen, sich ihrer natürlichen Stärke und Einheit mit dem Kind intuitiv zu besinnen statt sich eben einer bestimmten Technik zu unterwerfen. Für ihn „gehören die Frauen, die sich als Geburtsvorbereitung eine bestimmte Methode angeeignet haben, zu denen, die, wenn der Sturm beginnt, sich in einer Kajüte einschließen.” Das in seinen Workshops angeleitete Atmen und Singen oder besser gesagt “Summen” hält er für die sinnvollste Form der Vorbereitung, weil es die “Übenden” in ihrem Becken verankert und in der Schwangerschaft das harmonische Wechselspiel zwischen Mutter und Kind unterstützt und zudem der Frau später die Kraft verleiht, sich eben nicht in die Kajüte zurückzuziehen, sondern sich im Sturm (der Geburt) auf das Deck hinauszuwagen und mit den Wellen mitzugehen.

Die von Frédérick Leboyer angeleitete Art, singend bzw. “summend” zu atmen, ist jedoch nicht nur für Schwangere eine Bereicherung, sondern eignet sich auch hervorragend für Sänger, Menschen in Heilberufen, Meditierende und all diejenigen, die einen tieferen Kontakt zu sich selbst herstellen möchten, und natürlich für diejenigen, die diesem charismatischen Menschen einmal persönlich begegnen möchten, ohne ihn gleich als Guru vereinnahmen zu wollen.

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