Von der Schlichtheit des Wesentlichen

Die Frage nach dem Sinn des Hierseins, die ewig menschliche Frage “Wozu bin ich da ?” stellte ich mir oft in meinem Leben, wenn ich mit Gefühlen von Sinnlosigkeit und Entfremdung von mir selbst und anderen zu kämpfen hatte.
Vor vielen Jahren saß ich in meinem damaligen Lieblingscafé und sprach mit einem weisen alten Mann über solche Gefühle.
Peter Berger ist ein Weiser der redseligen Art, ein Philosoph also, aber immer auch mit einem Schuss Mystik, weißbärtig, Pfeife rauchend, bunte Pullis und Jeans tragend, immer freundlich und herzlich den Menschen und ihren Problemen zugewandt. Dem also klagte ich, wie sinnlos und überflüssig ich mir vorkäme, ohne sinnvolle Arbeit, ohne tiefe Beziehung usw.
Peter hörte sich das so an und meinte dann auf einmal gelassen schmunzelnd: “Wieso sinnlos ? Du bist doch da! Wir unterhalten uns doch.” Darauf folgte nicht wie üblich bei ihm ein längerer Monolog, sondern das war seine Botschaft, Punkt.
Mir wurde auf einmal klar, dass ich wertvoll bin, einfach weil ich existiere und weil alle, die wir da sind, füreinander da sind, um uns zu sehen, zu bewundern, zu unterhalten, zu lieben, vielleicht auch zu hassen und andere Dinge, auf jeden Fall, um uns zu spiegeln, einfach damit es ein Gegenüber gibt. Wir sind mehr als nur unser Ich, wir sind das Leben selbst.
Alles war so einfach und klar, aber wie immer mit solchen lichten Momenten verblassen sie schnell im Grau des Alltags und es ist ein langer und harter Weg den Samen solcher Initiationen in sich zum Baum wachsen zu lassen. Im Laufe der Zeit aber kristallisierte sich für mich immer mehr eine Tatsache heraus: Ich verliere meine Verwurzelung in einem sinnvollem Lebensgefühl durch meine Gedanken und Träumereien, meine Ambitionen, Ängste, Zweifel usw., also durch den ganzen mental/emotionalen Film, den ich ständig abspule.

Wenn ich zur Wahrheit finden will, muss ich mich meinem Körper zuwenden, aufmerksam werden, meinen unruhigen Affengeist an den Körper binden.

Dann taucht von ganz allein wundervolle Stille und ein Gefühl von selbstverständlichem Dasein auf.
Das ist so, weil der Körper uns direkter mit der Energie des Lebens verbindet als unser reflektierender Geist. Der Körper an sich kennt keine Vergangenheit oder Zukunft, er ist einfach jetzt und hier und kann darum unserem Geist helfen, auch hier zu sein.

Wirklich mit Aufmerksamkeit hier zu sein, ist der Beginn jeder Bewusstwerdung.

Ein Beispiel: Vor kurzem hatte ich eine Magen-Darm Grippe. Mir ging es elend, mein Körper fühlte sich so an, dass ich ihn eigentlich lieber nicht fühlen wollte und es nahm kein Ende. Handauflegen, Visualisieren und Pillen schlucken half alles nicht.
Das war der Punkt, an dem ich zum Universum sagte: Ich gebe auf, ich erkenne, wie lächerlich es war, dir wieder mal meinen Willen aufzwingen zu wollen, zeige mir deinen Weg ! Ich wurde achtsam für meinen Zustand, für mein Hiersein in einem kranken Körper, und den Prozess, der dadurch in mir ablief.

Ich sah auf einmal, wie ich in verschiedenen Bereichen meines Lebens vom Weg abzukommen drohte, wie ich anfing, Illusionen über mich anzuhäufen, wie ich begann, Dinge aus den falschen Gründen anzustreben und Gefahr lief, mich über kurz oder lang in jemand zu verwandeln, den ich selbst nicht mögen würde. Besonders deutlich war das dadurch, dass mir ständig leicht übel war und dass mir bei dem Gedanken an jene Dinge, die nicht in Ordnung waren, genauso übel wurde wie beim Gedanken an falsche Nahrung.

Die Krankheit war also ganz deutlich ein Reinigungs- und Klärungsprozess auf körperlicher genau so wie auf seelischer Ebene, der sich erst dann im Bewusstsein wirklich entfalten konnte, als ich mich meiner verkörperten Wirklichkeit öffnete.
Ich verwende diese Formulierung “verkörperte Wirklichkeit”, um darauf hinzuweisen, dass sich ständig unsere innere Realität als körperlicher Zustand ausdrückt.

Unser Körper ist wie ein strenger Lehrmeister, der uns in jedem einzelnen Augenblick unbestechlich spiegelt, was wirklich mit uns los ist, wo unser geistiges Selbstbild nicht mit der Realität übereinstimmt.
Das ist manchmal hart für uns, aber eigentlich wunderbar, denn wenn man sich auf die Weisheit des Körpers einlässt und beginnt, darauf zu lauschen, was unser Lebensprozess uns sagen will, wird ein erfüllteres, reicheres und gesünderes Leben möglich.
Der Beginn einer solchen Entwicklung ist, seine Aufmerksamkeit nach innen zu richten und sich von Moment zu Moment der Empfindungen und Reaktionen im ganzen Körper bewusst zu werden, denn:

Unser  Körper ist der Ort im Universum, in dem unsere aktuelle Erfahrung der Wirklichkeit entsteht.

Der große Zen-Lehrer Richard Baker-Roshi empfahl uns in einem Seminar einmal ein Mantra als Hilfsmittel, um unseren Geist darauf zu konzentrieren: “Just now is enough. Just this is it – Einfach jetzt ist genug. Das ist es.” Was dieses Mantra bedeutet und was ich zum Ausdruck bringen möchte ist, dass sinnvoll und glücklich zu leben etwas sehr Schlichtes ist und auf der Fähigkeit beruht, zu dieser Schlichtheit zurückzukehren.
Leider ist das Schlichteste oft das Schwerste. Wir verschanzen uns gerne hinter immer neuen Zielen und Strategien zum Glücklichwerden, dabei würde es ausreichen, zu trainieren, mehr in seinem Körper und der Gegenwart präsent zu sein.   
Wir bieten als Hilfe dafür ein Verkörperungstraining an, bestehend aus Massage, Meditation, Atemarbeit, Energieübungen und Übungen zur Entwicklung von Körperwahrnehmung und Achtsamkeit.

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Über den Autor

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1964 geboren, Studium der Psychologie, Intensive Erfahrungen mit ZEN-Buddhismus, seit 1993 hauptberuflich struktureller Körpertherapeut, seit 99 Praxis in Berlin, weitere Ausbildung bei Kathlyn Hendricks („Die neuen Körpertherapien“).

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