Mich selbst aushalten können – was heißt das eigentlich? Es bedeutet, dass ich das, was in mir geschieht, fühlen kann, ohne abzuhauen oder auszuweichen. Meist schaffe ich das leider nicht. Ich merke gar nicht mal, dass es sich gerade irgendwie unbequem anfühlt – so schnell reagiert mein System und lenkt meine Schritte zum Kühlschrank, lässt meine Finger Youtube-Videos anklicken, mich wütend reagieren (Wut ist ein Ausweichmechanismus, dahinter steckt immer ein tieferes Gefühl wie Schmerz) oder produziert einfach – meist nutzlose – Gedanken, die sich oft zu einer inneren Tafelrunde vereinen, um ein Thema mal so richtig satt auszudiskutieren.

Mit der Zeit habe ich erkannt, dass ich so ziemlich alles mache, nur um meine innere Verzweiflung nicht zu fühlen und wenigstens ein oberflächliches Wohlgefühl zu erreichen – „comfortably numb“, auf bequeme Weise gefühllos, wie es in dem bekannten Pink-Floyd- Song heißt. Der Weg zurück in die Fülle des Lebens heißt darum: sich wieder aushalten lernen. Für mich bedeutet das Meditation. Also mir Räume zu schaffen, die ich mit Bewusstheit fülle und in denen ich eben nicht ausbüxe, wenn es ungemütlich wird. Dabei habe ich für mich erkannt: Das Ausmaß dessen, was ich aushalten kann, ohne überfordert zu sein, wird von dem bestimmt, was ich an Schmerz, Angst, Verzweiflung usw. mit mir herumtrage, und von der Größe meines Vertrauens ins Leben, also von meinem Energieniveau.

Heißt: Je mehr Trauma ich erlebt habe, desto mehr ist mein Vertrauen, dass das Leben gut und sicher ist, gestört und mein Ausweichmechanismus setzt sehr schnell ein (siehe auch Artikel S. 20 ). Je mehr ich an altem Schmerz usw. mit mir herumtrage, desto geringer ist zudem mein Puffer gegen weiteren Schmerz – was meine Tendenz, dem auszuweichen, noch verstärkt. Nur: Es nützt ja nix. Ich kann ja die nährende Verbindung zum Leben und anderen Menschen nur dann spüren, wenn ich zu mir selbst eine Verbindung habe. Eine, die sich gut anfühlt und vor der ich nicht weglaufen muss. Und ich bin erst frei und wirklich lebendig, wenn ich alles umarmen kann: mein Alleinsein, den Schmerz, die Verzweiflung, die Angst, die Enttäuschung, alles, was ich nicht mag. Und der Weg dahin beginnt, indem ich lerne, mich selbst auszuhalten …

Jörg Engelsing

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Innenweltreisender, Redakteur der SEIN.

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