Zur Flüchtlingsthematik gibt es jede Menge Fakten, mit der die verschiedenen Seiten ihre Argumentation unterfüttern. Aber vielleicht geht es gar nicht darum, wer in der Flüchtlingsdebatte recht hat. Vielleicht läuft hier ein größeres Spiel ab, als wir uns alle vorstellen können. Eines, das unsere nationalen Egos Stück für Stück pulverisiert.

Was ist denn eigentlich unser Ego? Es ist ein Schutzpanzer, eine Grenze, eine mehr oder weniger dicke Schicht von Neins, die uns vom Rest der Welt trennt. Dieses Ego ist nicht nur auf Einzelpersonen beschränkt, sondern projiziert sich über die verschiedensten Abgrenzungen in die Welt hinaus. Mein Besitz, dein Besitz, mein Land, dein Land.

Was im Moment passiert, ist, dass die Grenzen, die nationalen Schutzmauern, massiv überrannt werden. Die Epidermis um Deutschland und vieler weiterer Staaten wird zunehmend löchrig. Möglicherweise gehört das zu einem evolutionären Prozess ungeheuren Ausmaßes. Das eine Leben, das letztlich keine Grenzen kennt, sondern nur Einheit, tendiert dazu, alles, was sich gegenüber dem Rest der Existenz abschottet, aufzuweichen, aufzubrechen – je nachdem, wie viel Widerstand ihm entgegengesetzt wird. Vielleicht sind die eine Million Menschen, die bisher kamen, nur der Anfang. Vielleicht wird das Leben mit der Zeit alle Unterscheidungen, alle Abwehrmechanismen auflösen, alle Versuche, den eigenen Status quo des Reichtums, den wir gegen ärmere Menschen mit aller Macht verteidigen, zu beseitigen.

Ganz abgesehen davon, dass es merkwürdig ist, sich gegen das Elend der Welt außerhalb Deutschlands abzuschotten, aber gleichzeitig eine amerikahörige Regierung zu wählen, die zumindest mittelbar den Irakkrieg unterstützt hat, der überhaupt erst zur Entstehung des IS und damit zur Flüchtlingsproblematik beigetragen hat.

Ich kann nicht erwarten, dass mir, wenn ich im weitesten Sinne die schlimmen Zustände mitproduziert habe, nicht irgendwann der ganze Mist vor die Füße fällt. Ist es nicht ein bisschen naiv zu glauben, dass diese Insel-der-Seligen-Mentalität endlos weitergehen kann?

Jörg Engelsing

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Innenweltreisender, Redakteur der SEIN.

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