Auf DVD: 88 – Pilgern auf japanisch

Ich solle gnädig sein mit diesem Film, bat meine Partnerin, Gerald Koll habe ihn doch ganz alleine gemacht und wenigstens gebe es schöne Bilder aus Japan. Und all die Strapazen, die er auf sich genommen habe. Auf dem Jakobsweg hatte er gehört, dass es noch einen viel älteren und viel längeren Pilgerpfad gebe, 1.300 km lang, die japanische Insel Shikoku umrundend, vorbei an 88 Tempeln. Mit Rucksack und Kamera machte er sich auf den Weg.
Und ging diese 1.300 km tatsächlich. Doch ob das mehr war als körperliche Selbstertüchtigung, ob das tatsächlich eine Pilgerreise war, was Gerald Koll da erlebte, darf bezweifelt werden. Denn das Vorhaben litt ganz offenkundig an zwei kapitalen Handicaps: Erstens sprach und verstand er so gut wie kein Japanisch, und darum blieb er allein, konnte keinen Anschluss finden, keine Gemeinschaft mit anderen Pilgern. Und zweitens hatte er weder Ahnung von noch Interesse am ‚Inhalt‘ der Tempel, an den Gottheiten, die dieser Pilgerpfad wie Perlen auf eine Schnur reiht. Ob das ein shintoistischer Tempel ist oder ein buddhistischer, Koll photographiert sie immer gleich: immer nur von außen, in der Totale mit ein bisschen Himmel drum herum, wie eine Postkarte zum Nach-Hause-Schicken als Beweis dafür, dass man da war.

Letztlich machte mich dieser Film todtraurig. Der Filmemacher war nur mit den Augen vor Ort, blieb so sehr gefangen in seiner Sprachlosigkeit, seinem Nicht-Wissen, seinem Nicht-Andocken-Können, dass er das transformierende Potential des Pilgerns verfehlte.
Als gelungenes Gegenbeispiel fallen mir die Pilgerfilme von Babette Herchenröder ein, die stets und vor allem mit dem Herzen dabei ist: „Schritte der Heilung“ zum Beispiel, auch das ist ein Ein-Personen-Film, ein Ein-Kamera-Film in Ich-Form. Aber er lebt von der innigen Vertrautheit der Filmemacherin mit den Zielen der Pilger-Wanderung. Und er steckt voll praller Gegenwärtigkeit, lebt von den deutlichen Charakteren der Mitwanderer. Babette Herchenröder bewegt sich unter ihnen wie ein Fisch im Wasser; Gerald Koll dagegen steht wie vor einem Aquarium und drückt sich die Nase platt.

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