Der Hirnforscher Gerald Hüther hat in den letzten Jahren fast den Rang eines Popstars erlangt. Kein Wunder: Seine Themen stellt er nicht nur mit unakademischer Lockerheit und Begeisterung vor, sondern auch kurzweilig und leicht verständlich. Auch seine Botschaft trägt dazu bei, dass sich immer wieder hunderte von Zuhörern bei seinen Events einfinden: Nichts ist genetisch bis ins Letzte vorgegeben, wir alle können uns komplett ändern.

Prof. Dr. Gerald Hüther ist Leiter der Neurobiologischen Präventionsforschung an der Uni Göttingen. Außerhalb der wissenschaftlichen Community wurde er viele Jahre vor allem in der Alternativ- Szene geschätzt. So war er als Festredner zum 25. Jubiläum des Feldenkrais-Verbandes Deutschland eingeladen, nahm an Thomas Hübls „Celebrate Life“-Festival teil und leitete ein Wochenend-Seminar im Tibetisch-Buddhistischen Zentrum in Frankfurt am Main. 2012 entdeckte ihn auch Angela Merkel und berief ihn in eine Kommission zur Zukunft des Lernens, die direkt beim Bundeskanzleramt angesiedelt ist. Seitdem ist Hüther nicht mehr nur der beliebteste, er ist auch der politisch einflussreichste Hirnforscher in diesem Land.

Bitte betrachten Sie dieses Portrait von Gerald Hüther ein wenig länger. Würden Sie von diesem Mann einen Gebrauchtwagen kaufen? Ja, das würden Sie. Einer, der so ausschaut, tut niemandem etwas. Der kann doch kein Wässerchen trüben. Er sieht aus – ja er spricht auch so, mit sanfter, gleich – bleibend liebevoller Stimme – wie der freundliche Onkel, den wir als Kinder so gerne gemocht haben oder den wir so gerne gehabt hätten. Dieses Gesicht, diese Stimme, dazu seine leichtfüßige Präsenz, seine federnde Körpersprache haben wesentlichen Anteil daran, dass Gerald Hüther in den letzten zehn, fünfzehn Jahren zum bekanntesten Neurobiologen, zum einflussreichsten Hirnforscher Deutschlands wurde. Hüther füllt Säle – was Naturwissenschaftlern in unserem Land nur selten passiert. Als er das letzte Mal in der Berliner URANIA auftrat, war der große Saal (mit mehr als 900 Plätzen) so schnell überfüllt, dass die parallel angesetzte Veranstaltung im kleineren Saal kurzerhand abgesagt und die Leute nach Hause geschickt wurden, damit man Hüthers Auftritt auch dorthin übertragen konnte. So etwas erlaubt sich die URANIA nur sehr, sehr selten.

Bühnenschwein

Bevor wir auf Hüthers Botschaft zu sprechen kommen, muss noch eine Gabe hervorgehoben werden, die ihn von allen Mitbewerbern um den Rang des beliebtesten Hirnforschers unterscheidet: Gerald Hüther ist, was Veranstalter und Theater-Direktoren ein „Bühnenschwein“ nennen. Will sagen: Hüther blüht auf, je mehr Leute er vor sich hat. Je aufmerksamer, je intensiver man ihm zuhört und zusieht, umso glücklicher wirkt er. Es animiert ihn dazu, sein Bestes zu geben, ja über sich selbst hinauszuwachsen, immer noch eine andere, neue Formulierung auszuprobieren, um das Herz seines Publikums zu rühren. Denn es reicht ihm nicht, recht zu haben. Gerald Hüther will von seinem Publikum geliebt werden – und zurücklieben können. Das spüren die Menschen im Saal. So einem fliegen die Herzen zu. Wer sich in Hüther live on stage nicht wenigstens ein bisschen verliebt, ist nicht da gewesen. Und so ist dieser Professor eben nicht nur ein wissenschaftlicher Denker und ein begabter Redner, er ist vor allem ein begnadeter Performer: einer, der mit dem ganzen Körper, seiner gesamten Präsenz beglaubigen kann, was er zu sagen hat.

Sehr schön kann man all das bei einem Auftritt Hüthers in Berlin sehen, den Sie immer noch gleichsam live mitverfolgen können, da er mitgeschnitten und kürzlich auf DVD veröffentlicht wurde (siehe Infospalte). Bei diesem Auftritt in Berlin, im Wedding, in der Neuen Nazarethkirche, hatte es einige technische Schwierigkeiten gegeben, bevor es richtig losgehen konnte. Die Kirche war rappelvoll, der Erwartungsdruck massiv, eine fast schon aggressive Ungeduld mit Händen zu greifen.

Statt nun „staatsmännisch“ die Treppe hinaufzugehen, klettert Hüther behände direkt auf die Bühne, das Mikro schon in der Hand. Kaum steht er aufrecht, kaum hat der Applaus sich gelegt, serviert er auch schon, freundlich lächelnd, die erste seiner charmanten Provokationen: „Haben wir eigentlich noch alle Tassen im Schrank?“

Was wollen wir wirklich?

Wir sind, sagt Hüther, mit einem Programm – später wird er es „Ressourcen-Verschwendungsprogramm“ nennen –, das uns 2000 Jahre lang begleitet hat, gegen die Wand gelaufen, haben uns Beulen geholt und kommen nun langsam zur Besinnung. Darum sei dies jetzt eine höchst spannende Phase unserer Entwicklung. Wir sind aufgewacht, und wir stellen Fragen: Wollen wir überhaupt so weitermachen wie bisher? Sind wir zufrieden mit dem, was aus uns geworden ist – oder ist da noch mehr drin? Wenn uns Wohlstand und Kapital, Macht und Ruhm nicht glücklich machen können – was dann? Was wollen wir wirklich? Wie können wir das herausfinden? Und wie bekommen?

Zur Beantwortung dieser Fragen hat die moderne, mit bildgebenden Verfahren arbeitende Gehirnforschung einiges beizutragen. Zunächst müssen wir uns von tradierten Vorstellungen lösen, die sich als wissenschaftlich nicht haltbar erwiesen haben, erklärt Hüther. Zum Beispiel von der Vorstellung eines „fertigen Gehirns“, das aufgrund genetischer Programme gebildet, in den ersten Jahren verschaltet wird und dann so bleibt, wie es ist, bis es im Alter zerfällt.

Die erste „Frohe Botschaft“, die Hüther zu überbringen hat, lautet: „Da geht noch was.“ Selbst in hohem Alter kann unser Gehirn noch neue Vernetzungen bilden, „dichter“ werden, in sich und über sich hinauswachsen. Bloßes Training allerdings nützt dafür nichts. Das Gehirn ist kein Muskel, der umso leistungsfähiger wird, je öfter man ihn benutzt. Deshalb seien die meisten Früherziehungsprogramme für Kinder genauso für die Katz wie Sudoku und Kreuzworträtsel in den Altenheimen.

Was unser Gehirn braucht, damit es gedeiht – und das ist die zweite „Frohe Botschaft“, die er uns bringt –, ist „emotionale Aktivierung“, ein Begriff, den Hüther mit einem „schönen alten deutschen Wort“ übersetzt: Begeisterung. Das heißt: Was wir lernen sollen, was wir lernen möchten, muss uns unter die Haut gehen. Es muss uns begeistern – sonst entwickelt sich gar nichts im Gehirn. Erst wenn uns etwas tief genug anrührt, werden im Mittelhirn, im „Belohnungszentrum“, neuroplastische Botenstoffe (Dopamine und Endorphine) ausgeschüttet. Sie wirken wie Dünger auf die dahinter liegenden Nervenzellen, regen sie zu neuen Vernetzungen an.

Emotionale Aktivierung

„Emotionale Aktivierung“: Für Hüther birgt dieser harmlos und vernünftig klingende wissenschaftliche Befund „Sprengstoff“. Er ist der archimedische Punkt seiner Kritik der herrschenden Vernunft und die wichtigste Leitlinie für die Sozialreformen, die er vorschlägt (und mit seiner „Sinn-Stiftung“ und in vielerlei Netzwerken auch vorantreibt). Wenn die Bedeutung von „emotionaler Aktivierung“ verstanden würde, könnte, nein: würde sie eine „Revolution“ auslösen, schwärmt Hüther. Eine Revolution unserer Beziehungskultur, die alle anderen Bereiche nachziehen, unsere Gesellschaft grundlegend umgestalten würde. Es wäre der Anfang vom Ende der „Ressourcen- Ausbeutungskultur“, mit der wir gerade Schiffbruch erleiden.

Begeistern können wir uns nur für etwas, das „bedeutsam“ für uns ist, sagt Hüther. Wirklich bedeutsam ist das, was an unsere tiefsten Sehnsüchte rührt. Wonach sehnen wir uns? Wenn es nicht Kapital, Macht, Ruhm sind: Was wollen wir wirklich? Was macht uns glücklich? Auch darauf hat der Hirnforscher eine erstaunlich einfache Antwort: Wir alle sehnen uns nach Verbundenheit, Zugehörigkeit und gleichzeitig nach Freiheit, nach Autonomie, sehnen uns danach, jeden Tag ein Stück über uns hinauszuwachsen. Wir wissen, dass das geht. Wir alle kennen den Zustand, in dem beides gleichzeitig möglich war, Verbundenheit und Freiheit. Wir haben es selbst erfahren – in den ersten neun Monaten vor unserer Geburt. Diese vorgeburtliche Erfahrung ist laut Hüther in unserem Gehirn als Messlatte für „Glück“ verankert. Später, als Erwachsene, sind wir immer dann glücklich, wenn wir solch einen Zustand von gleichzeitiger Verbundenheit und Freiheit erleben, zum Beispiel in gelingenden Liebesbeziehungen oder in „individuierten Gemeinschaften“.

Ressource Begeisterung

gerald-hüther2Gerald Hüther plädiert für „Begeisterung“ als zentrale Ressource für die Neugestaltung unserer Gesellschaften: Nicht weil es nett oder moralisch wünschenswert wäre, wenn alle begeistert sind (das auch), sondern weil wir aus neurologischer Sicht gar keine andere Wahl haben. Dass es ohne Begeisterung nicht länger geht, demonstriert Hüther gerne an unserem Bildungssystem, dem er sich seit Jahren mit besonderer Inbrunst widmet. Die Statistik zeige, so Hüther, „dass Abiturienten zwei Jahre nach dem Abschluss bestenfalls noch zwanzig Prozent von dem wissen, was man ihnen da zwölf oder dreizehn Jahre lang eingetrichtert hat. Damit waren achtzig Prozent ihrer Tätigkeit umsonst!“ Im Alter von 18, 19 Jahren haben unsere Kinder also bereits acht, neun Jahre ihres Lebens vergeudet. Außerdem stellen immer mehr Unternehmen fest, dass Abiturienten mit Einser-Durchschnitt gar nicht die Durchstarter mit Führungsqualitäten sind, die sie suchen. Solchen Abiturienten fehle die Erfahrung des Scheiterns. Und „die Erfahrung, mit anderen gemeinsam ans Ziel zu kommen, und nicht allein, gegen alle anderen“.

Deshalb plädiert Hüther für altersgemischte Lerngruppen, die – statt Lehrstoff zu büffeln – gemeinsam Aufgaben lösen, „im Fragemodus gehalten“ werden. Diese Gruppen sollten so unterschiedlich wie möglich zusammengesetzt sein: Nur so könne Konkurrenz vermieden, Kooperation eingeübt werden. Nur unter Verschiedenen kann sich jede und jeder mit den jeweiligen ganz besonderen Fähigkeiten zur Geltung bringen und zur Lösung der gemeinsamen Aufgabe beitragen. Dann stünde nicht länger der Stoff im Mittelpunkt der Schule, sondern die Schüler. Und aus dem Lehrer, der Lehrstoff verabreicht, würde ein „Potentialentwicklungs-Coach“, der die Kinder auf ihrem Weg begleitet, Neugier und Begeisterung in ihnen wachhält.

Machen wie die Kinder

Einige Monate, nachdem Hüther in die Kommission des Bundeskanzleramts berufen wurde, frage ich ihn, ob er schon etwas bewirken konnte in seiner neuen Rolle. Ja, sagte er, im Kanzleramt könnten inzwischen alle das Wort „Potentialenentwicklungs-Coach“ fehlerfrei aussprechen. Vielleicht ist es das, was einem Revolutionär von heute gelingen muss: an den richtigen Stellen ein neues Wort, eine programmatische Formel in Umlauf zu bringen. Den Rest erledigen andere. Viele andere in diesem Fall, wie man zum Beispiel auf der von Hüther empfohlenen Website „Schule-im-Aufbruch. de“ sehen kann. Die Revolution unseres Bildungssystems, wie Gerald Hüther sie propagiert, ist offenbar bereits in vollem Gange.

Und wir Erwachsenen? Wir sollen’s machen wie die Kinder, rät Hüther. Wenn uns etwas nicht passt, sollen wir uns mit anderen, möglichst unterschiedlichen Menschen zusammentun und uns gemeinsam darum kümmern, uns gegenseitig „einladen, ermutigen und inspirieren“.

 


 

Gerald Hüther: Das Geheimnis des Gelingens.

Doppel-DVD mit einem Vortrag von 2012 und einem Gespräch zwischen Gerald Hüther und Kraft Wetzel, in dem Hüther u.a. über seine abenteuerliche Flucht aus der DDR erzählt.

Preis: 25 €

Info, Kontakt und DVD-Bestellung:
Tel.: 030-46507139 oder mail@nirwana-events.de

Über den Autor

Avatar of Kraft Wetzel

Jg. 1953, arbeitete rund 20 Jahre lang als Film- und Fernsehkritiker, bevor er in den 90er Jahren das “Europäische Fernseh-Festival Berlin” konzipierte und leitete. Nach einer spirituellen Krise gründete er, zusammen mit Usch Schmitz, im Juli 1999 Nirwana Events, eine Agentur für spirituelle Veranstaltungen, die u. a. das DVD-Label Nirwana Vision und das Kino & Café am Ufer im Berliner Wedding betreibt und die u.a. das „Festival des spirituellen Films Berlin“ organisiert (die 8. Ausgabe findet vom 22.-24.4.2016 im ‚City Kino Wedding‘ statt).

Außerdem betreiben die beiden das DVD-Label Nirvana Vision, das Filme u.a. mit Thich Nhat Hanh, Dorothee Sölle, Gregor Gysi, Willigis Jäger und jetzt auch Gerald Hüther im Programm hat.

Kontakt
Tel.: 030-46507139

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