Die Fragen von Aaron Antonovsky fallen aus dem Rahmen. Nicht was uns krank macht, interessiert den israelischen Forscher, sondern: Warum bleiben wir eigentlich gesund? Welche Faktoren sorgen eigentlich dafür, dass wir gesund bleiben?

 

Der Medizinsoziologe Prof. Dr. Aaron Antonovsky wurde 1923 in New York geboren und siedelte 1960 nach Israel um, wo er am Applied Social Research Institute zahlreiche Forschungen durchführte. Durch Zufall stieß er bei einer Studie über israelische Frauen in der Menopause darauf, dass 29 Prozent der Frauen, die die Schrecken und Grauen eines Konzentrationslagers überlebt hatten, sich guter psychischer Gesundheit erfreuten. Er selbst hatte den zugrunde liegenden wissenschaftlichen Fragebogen um ein Kästchen „Konzentrationslager“ ergänzt und staunte und stutzte nun über dieses am Rande auftretende Ergebnis. Seine Neugier war geweckt. Antonovsky wollte nun an Hand weiterer Befragungen herausfinden, wie Menschen unter traumatischen, tragischen, schmerzhaften Erlebnissen und Erfahrungen ihre psychische Gesundheit bewahren können. Mit einer Pilotgruppe von Menschen, die entweder behindert waren, einen nahen Menschen verloren hatten oder plötzlich in den wirtschaftlichen Ruin abgerutscht waren, fand er Faktoren heraus, die auf eine starke Fähigkeit schlossen, trotz widriger Umstände gesund zu bleiben. Er nannte diese Fähigkeit Kohärenz. Kohärenz meint dabei soviel wie Zusammenhalten, Halt haben. Die einzelnen unterstützenden Wesensmerkmale der Kohärenz sind: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit. Je stärker diese ausgeprägt sind, umso höher ist der Kohärenzsinn insgesamt. Gerade durch den letztgenannten Faktor, die Sinnfrage, können die wissenschaftlichen Untersuchungen Antonovskys übrigens auch schlüssig im Zusammenhang mit den Erkenntnissen des Wiener Neurologen und Psychologen Victor Frankl gesehen werden, der sich als Holocaustüberlebender ausgiebig mit der Frage nach Sinn und Sinnlosigkeit beschäftigt hat. Was genau kann man unter den einzelnen Aspekten des Konhärenzsinnes verstehen?

 

Verstehbarkeit

Kann ich das, was passiert, in einem größeren Zusammenhang verstehen? Gibt mir mein Umfeld Möglichkeiten zu begreifen, was geschieht? Habe ich Erklärungsmodelle für das, was sich ereignet?

Eine Frau, die auf die Geburtsschmerzen durch Berichte und Erzählungen vorbereitet ist, wird leichter durch die Schmerzen gehen. Ein junges Mädchen, das ihre erste Menstruation erlebt und versteht, wird sich nicht umbringen, weil sie denkt, sie hat Krebs (wie es früher immer wieder geschehen ist).
Auch sind zum Beispiel Unglücke und Naturkatastrophen leichter zu verarbeiten und hinterlassen weniger häufig eine traumatische Erfahrung als zwischenmenschliche Schrecken, wie etwa Vergewaltigung, Mord und Entführungen.

Handhabbarkeit

Gehe ich davon aus, dass ich, was immer mir im Leben widerfahren wird,  bewältigen kann? Habe ich in der Vergangenheit erlebt, dass ich mit Schwierigkeiten und  Herausforderungen umgehen kann? Gehe ich zuweilen gestärkt aus einer Krise hervor?

Das ureigene Vertrauen oder gar Wissen, dass ich Krisenbewältigungsstrategien immer wieder neu benutzen und erfinden kann, macht stark. Es reicht sogar das Vertrauen, dass jemand anders mir hilft. Dies kann eine konkrete Person, eine unterstützende Gruppe oder auch der Glaube an eine größere Kraft – Gottes Hilfe – sein.

Sinnhaftigkeit

Sehe ich einen Sinn in dem, was gerade (Schlimmes) passiert? Fühlt es sich trotz leid- oder schmerzhafter Erfahrungen insgesamt stimmig an? Kann ich eine Bedeutung in der Situation erkennen?

Dieser Aspekt würdigt die Tatsache, dass wir durchaus leidensfähig sind, wenn wir dem eine übergeordnete Bedeutung geben. Eine Mutter, die nachts ihr Baby stillt und selbst nicht (gut) schlafen kann, wird darin in der Regel einen tiefen Sinn sehen. Ein Teenager der sich unter Schmerzen tätowieren lässt, erlebt dadurch eine stärkere Individualisierung und gleichzeitig ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe. Politische Häftlinge er- und überleben in der Regel auch lange Haftstrafen in guter psychischer Verfassung. Nelson Mandela, der nach 25 Jahren politischer Haft entlassen wurde, hat nicht nur die Zeit während seiner Haft aktiv genutzt (zum Beispiel ein Fernstudium in Jura abgeschlossen), sondern nahm nach seiner Entlassung entschlossen seine politischen Aktivitäten wieder auf. Maria Stuart, die nach zwanzigjähriger Gefangenschaft mit Würde und Stolz im Glauben an die katholische Kirche das Schafott betrat, ist ebenso ein Beispiel dafür wie ein Mensch, der einen ungeliebten Job macht, um dadurch seine Kinder zu ernähren.

Für ein stark ausgeprägtes Kohärenzgefühl ist die Sinnhaftigkeit von enormer Bedeutung. Verständnis von Erlebnissen und Herausforderungen, gepaart mit dem Wissen, sie handhaben zu können, macht allein noch kein starkes Kohärenzgefühl aus, solange die Sinndimension fehlt. Das Kohärenzgefühl ist das Wissen um den inneren Zusammenhang oder auch Zusammenhalt bei gleichzeitiger Anbindung an einen äußeren Halt. Je stärker der Kohärenzsinn, desto stabiler die psychische Gesundheit. Das Kohärenzgefühl ist die Fähigkeit, die eigenen Ressourcen zur Gesunderhaltung zu nutzen.

Salutogenese – Warum bleiben wir eigentlich gesund?

Antonovsky nannte sein Konzept Salutogenese. Im Gegensatz zu der Pathogenese, die wissen möchte, warum wir krank werden, fragt die Salutogenese, warum wir gesund bleiben.

Zeigte sich zum Beispiel in einer Erhebung, dass 30 Prozent der übergewichtigen Bevölkerung herzinfarktgefährdet sind, würde sich die Salutogenese dafür interessieren, warum zum Teufel denn 70 Prozent der übergewichtigen Bevölkerung nicht zur Risikogruppe Herzinfarkt gehören. Die Pathogenese käme womöglich zu Ergebnissen wie Bewegungsmangel, hoher Alkoholkonsum und Fast-Food-Ernährung.
Die Salutogenese würde dagegen Faktoren finden wie ein starker Familienverband, Optimismus, regelmäßige Entspannungsstrategien.

Nach Antonovsky existiert sowieso nie ein Zustand von „entweder Gesundheit oder Krankheit“. Jeder gesunde Mensch hat zumindest einen winzigen Teil an Krankheit in sich. Und jeder Kranke ist auch in einigen Bereichen gesund. Nach Antonovsky befinden wir uns auf einem Kontinuum zwischen diesen beiden Polen. Und die Frage ist, wie weit wir von den Polen entfernt sind.

Die Untersuchungen und Forschungen von Aaron Antonovsky zeigen, dass wir für unser Gesundsein nicht perfekte äußere Bedingungen brauchen, sondern vielmehr ein entwickeltes Potenzial an emotionaler, sozialer und menschlicher Kompetenz. Sich zum Beispiel wissentlich und mit Würde gegen eine konventionelle Behandlungsmethode zu entscheiden, kann viel mehr Sinner geben, als sich einer als entwürdigend empfundenen Therapie zu unterziehen. Die Erkenntnis, dass unseren Handlungen ein Sinn innewohnt, sie also sinn-voll sind, ist an sich bereits heilsam.

Der Zulauf zu Methoden und Möglichkeiten der nicht konventionellen Medizin und das entsprechend wachsende Angebot alternativer Heilmethoden ist ein deutlicher Hinweis auf die Übernahme einer neuen, sinn-gebenden Verantwortlichkeit des Einzelnen im Umgang mit seiner Gesundheit.


Abb.: © absolut – Fotolia.com

Literatur:
Antonovsky, Aaron: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Dgvt-Verlag

Schiffer, Eckhard: Wie Gesundheit entsteht. Salutogenese: Schatzsuche statt Fehlerfahndung, Beltz-Verlag

Über den Autor

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ist Shiatsupraktikerin, -Lehrerin und Schulleiterin der Berliner Schule für Zen Shiatsu in Wilmersdorf. 1986 begegnete sie Shiatsu und hat sich 1990 – nach langjähriger Tätigkeit als Betriebsprüferin – für ein Leben mit Shiatsu als zentralem Aspekt entschieden.

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Tel.: 030-326 628 32
Das nächste Anfängermodul beginnt am 15.8.2015.

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