Pilgern heißt, den Weg der Sehnsucht zu gehen. Diese Sehnsucht zeigt mir, dass in mir etwas ist, das diese Welt übersteigt. Im Pilgern komme ich in Berührung mit meiner Sehnsucht. Sie ist die Spur, die Gott in mein Herz gegraben hat. Um sie zu fühlen, folge ich den Fährten, die andere Pilger in diese Welt eingegraben haben.
Anselm Grün

Pilgern ist wieder „in“ – längst nicht mehr nur auf dem Jakobsweg und längst auch nicht mehr nur für bekennende Christen. Pilgern ist eine spirituelle Erfahrung, egal, ob man dabei Gott sucht oder einfach nur Ruhe und den Einklang mit sich und der Natur. Doch um dieses besondere Erlebnis genießen zu können, muss man nicht in ferne Länder reisen: Auf halber Strecke zwischen Hamburg und Berlin befindet sich die Prignitz und verzaubert nicht nur mit einer der schönsten Natur- und Kulturlandschaften Deutschlands, sondern auch mit zwei gut ausgeschilderten Pilgerwegen.

Pilgern als Rückbesinnung auf das Selbst

Einst beschrieb der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho seine Pilgerreise auf dem Jakobsweg und sagte: „Wenn man auf ein Ziel zugeht, ist es äußerst wichtig, auf den Weg zu achten. Denn der Weg lehrt uns am besten, ans Ziel zu gelangen, und er bereichert uns, während wir ihn zurücklegen.“ Dieser Erkenntnis nach dient das Pilgern nicht nur dem Erreichen eines bestimmten Zieles. Vielmehr stehen der Genuss der Natur sowie die Rückbesinnung auf das Selbst im Vordergrund. All dies kann man nicht nur auf dem weltbekannten Jakobsweg durch die Pyrenäen nach Santiago de Compostela erleben, sondern auch mitten in Deutschland: Im heutigen Kurort Bad Wilsnack in der Prignitz, auf halber Strecke zwischen Berlin und Hamburg gelegen, wurden der Wunderblutlegende zufolge im Jahr 1383 nach einem Brand der Kirche drei unversehrte Hostien gefunden, die Blutflecken aufwiesen. Schon bald ereigneten sich weitere Wunder, die den Ruhm des „Heiligen Blutes“ mehrten. Wilsnack wurde das wichtigste Pilgerziel nach Santiago, Rom und Aachen. Als berühmtestes Pilgerziel Nordeuropas wurde die Stadt sogar ehrfürchtig „Santiago des Nordens“ genannt. Hunderttausende Menschen aus ganz Europa strömten jedes Jahr zu diesem heiligen Ort in der Prignitz. Ihr Ziel war es, das „Heilige Blut“ zu besuchen, um Hilfe in körperlichen oder seelischen Nöten zu erfahren.

Nach der Reformation wurde Wilsnack zum kleinen Ackerbürgerstädtchen, und erst seit Ende des 20. Jahrhunderts lebte das Pilgern auch hier als moderne Form der Selbstfindung wieder auf. Die monumentale „Wunderblutkirche“ St. Nikolai, die nach dem Brand seit dem Jahr 1450 neu gebaut und bis heute nie ganz fertig gestellt wurde, zeugt heute noch von der grandiosen Vergangenheit Wilsnacks. Seit der Eröffnung des 130 Kilometer langen Pilgerweges von Berlin zur mächtigen Wunderblutkirche in Bad Wilsnack im Jahr 2006 entdecken wieder immer mehr Menschen die reizvolle Landschaft und die einladenden altehrwürdigen Dorfkirchen entlang des Weges. „Pilgern ist längst nicht mehr nur etwas für gläubige Christen und findet auch nicht nur auf dem Jakobsweg statt. Heutzutage kann jeder losziehen, der Lust am Abenteuer hat und sich geistigen Raum schaffen oder seine Gedanken einfach mal ‚sortieren‘ möchte. Die wunderbare Erfahrung des Gehens durch die alte Kulturlandschaft muss man einfach erlebt haben“, sagt die begeisterte Pilgerin Katharina Zimmermann aus der Prignitz.

In der Prignitz lebt das Pilgern in moderner Form wieder auf

Der Weg nach Bad Wilsnack verläuft abseits großer Straßen und auf verwunschenen Feld- und Waldwegen. Unterwegs treffen die Pilgerin und der Pilger auf Helfer am Weg, die für eine gute Ausschilderung sorgen, Geschichten zu erzählen haben und die Kirchen und Herbergen für die Pilger öffnen. In Barsikow wurde sogar eine spezielle Pilgerunterkunft im Kirchturm eingerichtet – ein ganz besonderes Erlebnis auf dem Weg.
Literaturhinweise, der Pilgerpass, eine ausführliche Wegbeschreibung, Baustellenhinweise sowie das Unterkunftsverzeichnis sind auf der Internetseite www.wegenachwilsnack.de zu finden. Wer das Pilgern einfach einmal ausprobieren möchte, kann dies beispielsweise am Morgen des jährlich stattfindenden Pilgerfestes in Wilsnack tun.

Für Reisende, die auf einer Tagestour erleben wollen, wie sich Pilgern „anfühlt“, stellt der 2011 eingeweihte Annenpfad in der Prignitz eine passende Alternative dar. Der Annenpfad bietet für die Dauer eines Tagesmarsches in der Prignitz die Möglichkeit, sich natürlich und besinnlich auf Wald- und Feldwegen in ruhiger, urtümlicher Landschaft fortzubewegen. Die Wanderstrecke verbindet als Rundweg auf 22 Kilometern Länge das Kloster Stift zum Heiligengrabe und die historische Wallfahrtskirche St. Anna in Alt Krüssow sowie die frisch sanierte Dorfkirche Bölzke, in der die Ausstellung „…den Stab nehmen. Pilger, Wallfahrt und geläuff“ rund um das in allen Kulturen auftretende Phänomen Pilgern einlädt.

Seinen Namen erhielt der Pfad in Anlehnung an die mittelalterliche Wallfahrt zur Kirche St. Anna in Alt Krüssow, auf dem Weg nach Wilsnack ein weiteres wichtiges Wallfahrtsziel der Prignitz im Mittelalter. Die heilige Anna gilt als Marias Mutter und somit als Jesu Großmutter. Häufig wird sie mit Tochter und Jesuskind als Anna selbdritt oder aber im Kreise der Heiligen Sippe dargestellt. Im Spätmittelalter war Anna eine der beliebtesten Heiligen und Schutzpatronin der Zünfte, Frauen und Mütter. Der ideale Start- und Zielort des Pfades ist das 1287 gegründete Kloster Stift zum Heiligengrabe. Es ist die einzige vollständig erhaltene Zisterzienserinnen-Klosteranlage Brandenburgs und heute mit den restaurierten Gebäuden wie der Heiliggrabkapelle, interessanten Ausstellungen, Konzerten und Veranstaltungen unbedingt einen Besuch wert. Die Anlage ist zudem Lebensort eines evangelischen Frauenkonvents, dessen vielfältige Angebote wie Einkehrzeiten oder geführte Pilgerwanderungen durch das wunderbare Ambiente des Kloster Stifts einen besonderen Reiz haben.

 

 

Weitere Infos:
www.dieprignitz.de
www.wegenachwilsnack.de
www.wunderblutkirche.de
www.klosterstift-heiligengrabe.de
www.kirche-kehrberg.de

Das Wort Pilger kommt aus dem Lateinischen – „peregrinus“. Wörtlich übersetzt bedeutet es „Fremder“. Als Pilger ist man zunächst immer ein Fremder, eine Pilgerreise immer auch eine mutige Reise ins Unbekannte und Ungewisse. „Pilgern bedeutet, sich immer wieder auf die Grundlagen des Menschseins zu besinnen. Völlig „auf-zu-gehen“- auf dem Weg – im Rhythmus des Gehens, in der Sinnlichkeit der Natur und der mystischen Aura der Tempel, Kirchen und Klöster. Grundsätzlich sucht(e) ein Pilger „heilige Orte“ auf, wenn auch eine Pilgerreise nicht nur zu einem ganz besonderen Ort sondern vor allem zu sich selbst führt(e)“. (http://pilgern-im-norden.de)