Gott ist das Geheimnis, ein großes „X“ im Innersten der Welt, das die verschiedenen Stämme und Kulturen immer wieder neu benannt haben, für das auch wir immer wieder neue Namen suchen. Für die Annäherung an dieses „X“ hat die deutsche Sprache schöne Worte: sich verlieren, sich verlieben, sich versenken, sich vergessen.
Es geht darum, wie man von sich selbst, von seinem Ich wegkommt. „Geh aus mein Herz und suche Freud“, heißt es im Lied von Paul Gerhardt, und das meint nicht, wie ich als Kind lange dachte, mit dem Bus bis an den Stadtrand zu fahren. Es meint vielmehr ein Freiwerden von sich selbst, von den eigenen Zwängen und Ängsten.

„In Deine Lieb‘ versenken will ich mich ganz und gar …“

Versenkung, sich Verlieren in etwas, was nicht Ich ist, das ist mystische Erfahrung. Die Entgrenzung des Ich: Das ist der Kern aller Religionen. Frei vom Ich zu werden ist ganz sicher ein Ziel jeder spirituellen Praxis, der christlichen wie der buddhistischen. Thich Nhat Hanh habe ich schon in den 60er Jahren wahrgenommen, als einen der ersten sozial engagierten Buddhisten. Ich habe einige seiner Bücher gelesen und zitiere gerne sein Gedicht „Nenne mich bei meinem wahren Namen“, in dem mir sehr viel Nähe zur christlichen Mystik begegnet. Auf die leibhaftige Begegnung mit ihm freue ich mich sehr!

Ich habe in vielen Gottesdiensten der schwarzen Kirche in den USA immer wieder die Kraft des beschwörenden, herbeigebeteten, gesungenen oder im Schweigen angerufenen „right now“ („gerade jetzt“) erlebt. Diese Anrufung des Geis-tes, der „gerade jetzt“, „gerade heute morgen“ bei uns ist, war mir, aus einer mystikarmen protestantischen Kühle kommend, fremd.

Das „right now“ öffnete mir einen anderen Zugang. Es ließ mich zusammen mit anderen teilhaben an einer Freude, die ich nicht einfach „über“ etwas empfand, sondern in der ich schwamm. Die Nähe Gottes in einer solchen Versammlung, die Gottes’dienst‘ zu nennen ich mich scheue, ist nicht nur Hoffnung auf ein anderes Leben, in dem alle Tränen abgewischt werden, und sicher nicht nur nostalgische Erinnerung an ein verlorenes Paradies. Erinnerung an den guten Anfang des Lebens und Hoffnung auf seine Wiederherstellung sind zwar Geschwister des reinen Jetzt, aber sie können es nicht ersetzen.

Im reinen Nun können die verschiedenen Zeit-Dimensionen, in denen wir uns in Angst, Berechnung, Sorge, Erwartung bewegen, ihre bannende Kraft verlieren. Es gibt Erfahrungen, in denen wir aufhören „und dann?“ zu fragen – eine Frage, die, so natürlich sie klingen mag, doch nur die Funktion hat, das Jetzt zu trivialisieren.
Eine reine, erfüllte Gegenwart dagegen wurzelt uns ein in dem, was jetzt ist, und diese Art von immanenter Transzendenz läßt unser Zeitgebäude einstürzen. Statt zu „sorgen“, was wir essen und trinken, wie wir uns kleiden sollen, wie wir ein Examen bestehen oder wohin wir nach einem Abschied gehen, bleiben wir im Hier: Alle Weise wird weiselos, alle Vermittlung unmittelbar. Das Nun der Freude ist das Nun der Freude.

Ein anderer Name für dieses neue Verhältnis zur Zeit, in dem wir uns vorbehaltlos in die Gegenwart hineingeben und so erst einer nicht gegenstandsgebundenen Freude fähig werden, ist der buddhistische der „Aufmerksamkeit“.
Eine Zen-Geschichte erzählt von einem Mann aus dem Volk, der eines Tages Meister Ikkyou fragte, ob er ihm nicht „ein paar Lehrsätze von höchster Weisheit aufschreiben“ könne. Da nahm Ikkyou einen Pinsel und schrieb damit das Wort „Aufmerksamkeit“. „Ist das alles ?“ fragte der Mann. „Willst du nicht noch etwas hinzufügen ?“ Darauf schrieb Ikkyou zweimal hintereinander das Wort „Aufmerksamkeit“. Der Mann meinte enttäuscht: „Deshalb sehe ich dennoch weder Feinheit noch Tiefe in dem, was du da schreibst.“ Da schrieb Ikkyou dreimal das gleiche Wort. Fast ärgerlich sagte der Mann: „Was soll dieses Wort Aufmerksamkeit nun schließlich bedeuten ?“ Und Ikkyou antwortete: „Aufmerksamkeit bedeutet Aufmerksamkeit.“

Ich will mich an dieser Stelle, die abendländische Tradition verlassend, auf einen der wichtigsten gegenwärtigen buddhistischen Lehrer im Westen beziehen, auf den Vietnamesen Thich Nhat Hanh (geb. 1926). Ich habe ihn zuerst während des Vietnam-Kriegs als einen führenden Vertreter der Friedensbewegung wahrgenommen; Martin Luther King hat ihn seinerzeit für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Nach seiner Exilierung ging er als Meister des Zen und Lehrer der Meditation nach Paris und gründete 1982 die buddhistische Klostergemeinschaft „Plum Village“ in Südfrankreich.

Seine Arbeit unter dem großen Titel „Achtsamkeit“ (mindfulness) stellt ein anderes Verhältnis zur Zeit in den Mittelpunkt der meditativen Übungen:
„Es gibt zwei Arten, das Geschirr abzuwaschen. Die erste ist, das Geschirr zu spülen, um sauberes Geschirr zu haben, und die zweite ist, das Geschirr zu spülen, um das Geschirr zu spülen.“
An diesem simplen alltäglichen Vorgang wird das klar, was in Meister Eckharts Sprache das „sunder warumbe“ (ohne Warum) ist. Die erste Art besteht darin, sich zu beeilen, um das Geschirr aus dem Weg zu bekommen und den längst erwarteten Tee zu trinken; das Spülen ist eine lästige Plage, die man möglichst ohne Aufwand von Kraft und Zeit hinter sich bringt. Die kritische Frage an diesen Alltag heißt: Was ist mit der Zeit in solchen Verrichtungen, was wird aus unserer Lebenszeit in diesen ‚unwichtigen‘ Augenblicken ?
„Wir sind nicht lebendig während der Zeit, in der wir Geschirr spülen. Tatsächlich sind wir vollständig unfähig, das Wunder des Lebens wahrzunehmen, während wir an der Spüle stehen. Wenn wir das Geschirr nicht spülen können, sieht es so aus, als könnten wir auch unseren Tee nicht trinken.“ Wir denken immer an etwas anderes und sind unfähig, auch nur eine Minute unseres Lebens wirklich zu leben.
„Achtsamkeit“ ist eine Art Einwurzelung im Hier und Jetzt, es ist eine durch bewusstes Atmen und Meditation geübte Fähigkeit, da zu sein.

Achtsamkeit ist das, was C.S. Lewis in die Worte „I am what I do“ fasst. Mir ist trotz eines langen Umgangs mit diesem großartigen Satz der Gedanke nie gekommen, ihn auch auf das Geschirrspülen zu beziehen. Liegt das daran, dass ich nicht in einem buddhistischen Kloster, sondern in einer kinderreichen Familie lebte ?! Eine falsche Überwertigkeit des Geistigen gegenüber dem Alltäglichen beherrschte mich, eine Unachtsamkeit, wie ich es heute sehe, auf das Leben im Jetzt.
Gerade das kann östliche Meditationspraxis lehren: die meditative Achtsamkeit auf jeden noch so trivialen Vorgang. Sie lässt uns in jedem Augenblick lebendig sein und nicht nur in einigen wenigen. „Das Wunder ist nicht, auf dem Wasser zu wandeln, sondern auf der Erde zu gehen“(Thich Nhat Hanh). Die Zeit ist jetzt, und der Ort ist hier, und die Lebenszeit ist heute.

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